Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

1. Kapitel.

Es war halb 12 Uhr morgens. Kriminalkommissar Brandner trat hastig in das Bureau des Untersuchungsrichters Dr. Wasmut.

»Guten Morgen, Herr Untersuchungsrichter! Da bin ich. Sie haben mich telephonisch herbescheiden lassen – ich nehme also an, daß es ein dringender Auftrag ist, den Sie für mich haben.«

»Jawohl, Brandner. Ein Fall … hm, ein sehr interessanter Fall, wie mir scheint! Erfordert Scharfsinn, List und – Delikatesse: Wie für Sie gemacht.«

»Um was handelt es sich?«

»Mord. Der Besitzer der Villa Monplaisir bei Dornbach, ein steinreicher Engländer, namens Henry Henderson, wurde heute nacht in seinem Parke durch einen Revolverschuß getötet. Ich komme eben von der Aufnahme des Lokalaugenscheines. Staatsanwalt Thüring ist ebenfalls der Ansicht, daß es sich um eine sehr mysteriöse Geschichte handelt. Aber setzen Sie sich, Herr Kommissär – in fünf Minuten werden wir die Sache noch nicht erledigt haben.

Brandner nahm Platz.

»Darf ich kurz um Angabe der bisher bekannten Tatsachen bitten?«

»Selbstverständlich! Aber erst eine Frage: kennen Sie die Villa Monplaisir?«

»Nein. Wenigstens kann ich mich im Augenblick nicht besinnen. In der langen Villenzeile gegen Neuwaldegg zu liegt sie wohl nicht, denn dort kenne ich jedes Haus –«

»Ach nein, sie liegt im Gegenteil recht abseits, inmitten eines ziemlich großen Parkes, dessen Bäume das Haus von der Straße aus gar nicht sichtbar werden lassen. Rechts und links sind Bauplätze, hinter dem Park steigt der Wald an, der sich von den Höhen des Galizienberges herab gegen Dornbach zieht. Ein kleiner Uhrturm –«

»Halt, jetzt weiß ich, welche Villa es ist! Das Wohnhaus ist schloßartig gebaut mit einer großen offenen, säulengetragenen Terrasse nach vorne und einer Glasveranda nach rückwärts. Schlingrosen klettern die Mauern empor. Das schiefergedeckte Dach besitzt in der Mitte einen Mansardenaufbau, den das Uhrtürmchen krönt. Hinter dem Wohnhaus sind rechts und links durch einen Kiesplatz getrennt langgestreckte niedere Stallgebäude. Aber die Villa hieß früher –«

»Bleak-House, ganz richtig. Ein Amerikaner ließ sie erbauen. Sonderbar genug wandelte der jetzige Besitzer dies, obwohl ein Engländer von Geburt, in das französische Monplaisir um.«

Kommissär Brandner schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Dort also geschah der Mord. Hm – eigentlich ist der Ort vermöge seiner isolierten Lage wie geschaffen für ein Verbrechen. Wurde die Leiche sogleich entdeckt? Hörte jemand im Hause den Schuß?«

»Leider nicht. Oberst Henderson – er soll einst diesen Rang in der englischen Armee eingenommen haben und wurde darum in Dornbach schlechtweg »der englische Oberst« genannt, – hatte für heute morgen punkt acht Uhr den Wagen bestellt, um in die Stadt zu fahren. Eine Viertelstunde vorher sollte ihm das Frühstück serviert werden und zwar auf seinem Zimmer, obwohl er sonst mit seiner Tochter auf der Terrasse zu frühstücken pflegte –«

»Ah, er hat eine Tochter!«

»Ja, Fräulein Harriet.« Ein Schatten überflog Richter Wasmuts Gesicht. Dann fuhr er rasch fort:

»Der Oberst hatte sich gestern zeitiger als sonst zurückgezogen und gab vor, gleich zu Bett gehen zu wollen. Sein Kammerdiener behauptet, er sei verstimmt gewesen. Als es nun heute früh ein Viertel vor acht Uhr war, wunderte man sich, daß der Oberst, sonst die Pünktlichkeit selbst, nicht um das Frühstück klingelte. Man wartete, es wurde acht Uhr, ein Viertel auf neun – nichts rührte sich, obwohl der Wagen längst vorgefahren war.«

»Hatte denn der Diener nicht beim Ankleiden zu helfen?«

»Nein, der Oberst kleidete sich stets allein an und der Diener durfte sein Zimmer niemals betreten, als bis ihm geklingelt wurde. Endlich entschloß man sich, Fräulein Harriet zu verständigen, die sogleich in große Aufregung geriet und an ihres Vaters Zimmertür eilte. Niemand antwortete auf ihr Pochen und Rufen. Nun öffnete der Kammerdiener kurz entschlossen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Im Zimmer war alles in tadelloser Ordnung, das Bett – unberührt, von dem Obersten keine Spur. Namenlose Bestürzung bemächtigte sich aller. Man durchsuchte das Haus von oben bis unten – vergebens. Inzwischen waren wie jeden Morgen, Bäcker und Fleischer erschienen, um ihre Lieferungen zu bringen. Alles beteiligte sich an dem Suchen, und der Bäckerbursche, welcher auf eigene Faust den Park durchstreifte, stieß plötzlich einen schrecklichen Schrei aus, der alles an seine Seite rief: Die Leiche des Obersten war gefunden. Sie lag, halb unter dürrem Laub versteckt, inmitten eines Gebüsches, nahe dem Gittertor des Parkes.«

»Hat es den Anschein, daß der Mord dort verübt wurde?«

»Zweifellos. Nach Aussage des Polizeiarztes verletzte der Schuß das Herz und mußte beinahe sofort den Tod herbeiführen. Höchstens könnte der Oberst auf dem Wege gestanden und im Todeskampfe instinktiv die paar Schritte ins Gebüsch getaumelt sein.«

»Sonderbar! Was hatte der Oberst nachts im Garten zu tun?«

»Das ist eine Frage, welche auch mir sofort aufstieg. Der Mord ist zwischen 10 und 11 Uhr geschehen, zu einer Zeit, wo alles den Hausherrn in seinem Zimmer vermutete.«

»Wie steht es mit der Haustür? War sie verschlossen?«

»Ja. Der Kammerdiener schloß sie selbst, wie jeden Abend zu, und fand sie am Morgen genau so versperrt. Dagegen war die Tür zu des Oberst Schlafzimmer, die auf die Terrasse mündet und allabendlich von ihm selbst versperrt wird, unverschlossen.«

»Demnach hätten Diebe leicht in das Haus dringen können? Wurde etwas geraubt?«

»Nicht das Mindeste. Der Oberst besaß eine sehr kostbare Sammlung von alten Goldschmiedeobjekten und Edelsteinen, welche in Glasschränken untergebracht, sich in seinem Schlafzimmer befindet. Nach Angabe des Kammerdieners, welcher seit sechs Jahren im Hause bedienstet ist und jedes Stück zu kennen behauptet, fehlt nicht der kleinste Gegenstand.«

»Haben Sie denn da nicht lieber die Tochter befragt?« sagte der Kommissär etwas verwundert.

Richter Wasmut zögerte einen Moment mit der Antwort. Dann antwortete er langsam: »Fräulein Harriet befindet sich in einem Zustand, der eine regelrechte Vernehmung nicht gut erlaubte. Sie fiel schon gleich, als man ihres Vaters Leiche fand, in Ohnmacht und ist seitdem so verstört, daß man kaum ein Wort aus ihr herausbringt.«

Etwas in dem Ton des Richters fiel Brandner auf. Fragend blickte er in Wasmuts Gesicht. Dieser schwieg.

»Wo befand sich Fräulein Harriet zur Zeit des Mordes?« fragte der Kommissär nach einer kleinen Pause.

»In ihrem Zimmer, wie sie angibt …«

»Ist dies durch Zeugen erwiesen?«

»Nein. Das Stubenmädchen weiß nur, daß ihre Herrin über Kopfschmerzen klagte und um halb neun Uhr erklärte, zu Bett gehen zu wollen. Das Mädchen begab sich dann zu der übrigen Dienerschaft in die Küche, welche an der Rückfront des Hauses liegt, weshalb dort auch niemand den Schuß vernommen hat.«

»Aber Fräulein Harriet? Ich nehme an, daß ihr Zimmer doch nach vorne hinaus liegt?«

»Allerdings. Aber sie behauptet gleichfalls, nichts gehört zu haben. Als ich sie weiter ausfragen wollte – fiel sie abermals in Ohnmacht.«

»Ein alter Frauenkniff! Er ist so bequem, wenn man nicht – antworten will!«

»Nein, diese Ohnmacht war zweifellos echt. Der Polizeiarzt, welcher die Kommission begleitete, hatte sogar zu tun, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.«

»Noch eine Frage: Konnten Sie in Erfahrung bringen, ob Vater und Tochter in gutem Einvernehmen lebten?«

Wieder zögerte der Richter einen Moment mit der Antwort. Als er sie endlich gab, klang seine Stimme gepreßt.

»Früher, ja. In der letzten Zeit soll eine kleine Entfremdung eingetreten sein … Der Kammerdiener behauptet sogar, die Verstimmung des Obersten gestern abend rühre von einem Streit her, den er mit seiner Tochter am Nachmittag gehabt hätte. Aber, ich möchte nicht, Brandner, daß Sie sich vorzeitig eine vielleicht – ja wahrscheinlich falsche Meinung bilden. Wenn Sie Fräulein Harriet erst sehen, werden Sie zugeben, daß –«

»Ich pflege nie voreingenommen an einen Fall zu gehen,« unterbrach Brandner den Richter, für mich sind allein Tatsachen maßgebend. Fassen wir diese nun einmal zusammen: ein Mord, von dem niemand etwas gesehen oder gehört haben will. Der Ermordete ist steinreich, das Haus, in dem Geldobjekte und Juwelen förmlich zum Greifen daliegen, steht offen, und doch wurde nichts geraubt. Der Oberst gibt vor, zu Bett zu gehen, muß sich dann aber zwei Stunden später doch noch im Garten befunden haben. Im übrigen ist alles in schönster Ordnung, der Täter hinterließ keinerlei Spuren – oder förderte der Lokalaugenschein in dieser Richtung etwas zutage?«

»Auch nicht die allerkleinste Spur. Im Garten sind allerdings beim Suchen so viele Menschen herumgetrampelt, daß man etwaige Spuren des Mörders kaum mehr erkennen könnte. Ich habe trotzdem den im Aufspüren von Fußspuren besonders gewandten Detektiv Hormann beauftragt, noch einmal jeden Fußbreit Boden zu untersuchen.«

»Und im Zimmer?«

»Nichts. Das Fenster war von innen ordnungsgemäß verschlossen, alles in peinlichster Akkuratesse. Auf dem Tisch standen eine leere Reisetasche, daneben einige Gegenstände, welche offenbar bestimmt waren, in dieselbe gelegt zu werden.«

»Ah – der Oberst wollte verreisen?«

»Vielleicht. Vielleicht wollte er auch nur einen Ausflug machen oder den Tag über in der Stadt verbleiben. Die Gegenstände deuten keinesfalls auf eine eigentliche Reise hin. Auskunft über seine Pläne hat er niemand erteilt.«

»Gut. Der Täter hat also keine sichtbare Spur hinterlassen. Fahren wir in den Tatsachen fort: Der Oberst hatte mit seiner Tochter einen Streit. Es besteht seit längerer Zeit eine Verstimmung zwischen ihnen. Weiß man warum?«

» Wenn man es weiß, so will man es vorläufig wenigstens nicht sagen. Die Dienerschaft drückte sich sehr hinterhältig über diesen Punkt aus.

»Und Harriet selbst?«

»Die konnte darüber noch gar nicht befragt werden – sie fiel doch gleich in Ohnmacht!«

»Richtig …« – ein seltsames Lächeln huschte über Kommissär Brandners Gesicht. »Die fiel in Ohnmacht … als man Auskunft darüber verlangte, wo sie sich zur mutmaßlichen Zeit des Mordes befunden hat!«

Wasmut sprang erregt auf.

»Wie Sie das sagen, Herr Kommissär! In welchem Ton … aber ich warne Sie noch einmal vor vorzeitigen Schlüssen! Genau das, was Sie jetzt denken, denkt auch der Staatsanwalt …«

»Und Sie – Herr Untersuchungsrichter?«

»Ich nicht! Bei Gott, ich nicht! Wahnsinn, Aberwitz erscheint es mir, Harriet Henderson, dieses zarte, liebliche Geschöpf auch nur von ferne mit einem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Begreifen Sie denn nicht, daß ich Sie eben deshalb rufen ließ, daß ich von Ihnen erwarte –«

Auch Brandner hatte sich erhoben.

»Beruhigen Sie sich, Herr Untersuchungsrichter,« sagte er kalt, »die Justiz darf nie zur Partei werden, darum bin ich auch weit davon entfernt, mir eine Meinung zu bilden, wie etwa der Herr Staatsanwalt. Sie wissen, ich halte mich nur an Tatsachen. Uebrigens – bin ich mit der Aufklärung des Falles betraut oder nicht?«

»Natürlich sind Sie es,« antwortete Wasmut rasch, »und ich darf daran wohl die Hoffnung knüpfen, daß Sie nicht nur klug und energisch, sondern auch diskret vorgehen werden?«

»Sie können sich darauf zweifelsohne verlassen, soweit es meine Pflicht gestattet.«

Unter dem kalten, klaren Blick des Kriminalbeamten schlug Wasmut verwirrt die Augen nieder.

»Was werden Sie zunächst tun in der Sache?« murmelte er.

»Nach Monplaisir fahren und mich mit Fräulein Harriet, die sich inzwischen hoffentlich erholt hat, bekannt machen. Von dieser Besprechung werden dann meine weiteren Schritte abhängen.«

Wasmut saß wieder allein in seinem Bureau. Er sah verwirrt und niedergeschlagen aus. Einmal entrang sich seiner Brust sogar ein Seufzer. »Es ist unmöglich – all meine Menschenkenntnis müßte keinen Pfennig wert sein! Und doch …«

Plötzlich sprang er auf, ritz den Hut vom Nagel und verließ das Landesgerichtsgebäude mit hastigen Schritten. Unten warf er sich in den nächstbesten Wagen.

»Bernardgasse 7.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

Eine Viertelstunde später klingelte er im ersten Stockwerk eines stillen, alten Hauses, das durch seine weit hinter die Straßenfront zurückgehende Lage allem Lärm und Verkehr entrückt zu sein schien.

Ein struppiger alter Weiberkopf erschien an einem Guckloch dicht über dem Porzellantäfelchen, welches die Worte: »Silas Hempel, Privatdetektiv« trug.

»Ise schon wieder so ein …«

Wasmut unterbrach die keifende Stimme rasch. »Herr Hempel zuhause? Ich bin's doch!«

»Is er Haus –«

.


 << zurück weiter >>