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7. Kapitel.

Als Hempel das Bureau des Untersuchungsrichters verließ, trank er rasch im nächsten Kaffeehaus einen Kaffee und, den Rest des Gebäcks noch in der Hand, sprang er dann auf einen eben vorbeifahrenden Wagen der Straßenbahn, die nach Dornbach führte.

Dabei beschäftigte ihn unaufhörlich eine Frage, auf die er keine Antwort finden konnte.

Warum war Richard Tiersteiner so sehr bemüht, Harriet zu schonen? Da sie unabhängig war und er sie doch heiraten wollte, konnte es ihm gleichgültig sein, ob die Welt an ein Rendez-vous dachte oder nicht. Es würde vieles dadurch harmloser erschienen sein.

Anderseits hatte sie selbst ihren Ruf schonungslos preisgegeben, um ihn zu entlasten.

Ihm aber schien dieser Weg offenbar noch nicht sicher genug. Er wollte sie ganz aus dem Spiel gelassen sehen, niemand sollte wissen, daß sie die Zeit von halb zehn Uhr bis Mitternacht überhaupt zusammen verbracht hatten.

Wo waren sie?

Warum bei beiden das jähe Erschrecken, als die Rede darauf kam? Denn auch er war heftig erschrocken, als Wasmut ihres Geständnisses erwähnte.

Ihr Ruf? Lag Harriets Ruf Richard wirklich allein am Herzen?

Bah – dann hätte er nicht so namenlos erleichtert aufgeatmet, als er ihre Behauptung vernahm, er habe sich bei ihr im Zimmer befunden!

Einen Augenblick kam Hempel der Gedanke, beide könnten dem Morde doch näher stehen, als sie zugeben wollten. Es kommen so wunderliche Dinge auf der Erde vor. Wer konnte wissen, ob es zwischen Harriet und ihrem Vater nicht noch viel ernstere Zerwürfnisse gegeben hatte als eine Abneigung gegen ihre Heirat?

Aber Hempel verwarf den Gedanken sofort wieder. Gesichter wie die der beiden jungen Menschenkinder konnten nicht lügen.

Außerdem – hatte er nicht heute morgens unzweifelhafte Spuren gefunden, welche auf das gewaltsame Eindringen einer fremden Person in den Park schließen ließen?

Freilich, es bedurfte noch einer Bestätigung …

Die Endstation der Straßenbahn war erreicht. Hempel begab sich nicht direkt in den Park. Er machte es wie Brandner gestern und schritt außen an dessen Mauer entlang.

Ungefähr in der Mitte seines Weges, genau hinter der Rückfront des Hauses, wuchs außerhalb der Mauer ein Holunderstrauch, während innen sich eine große Weihmutskiefer über die Mauer und den darüber angebrachten Stacheldrahtzaun erhob.

Dort blieb der Detektiv stehen und betrachtete aufmerksam jeden Zollbreit der Mauer, die hier hinter dem Holunderstrauch stark von Feuchtigkeit angegriffen war.

An einzelnen Stellen blätterte sich sogar die oberste Schicht ab.

»Hier war es – an der Weihmutskiefer,« murmelte er, »ich will nicht Silas heißen, wenn die frischgeknickten Zweige in ihrer Krone nicht von einem Menschen herrühren, der sich von der Mauer in ihren Wipfel geschwungen und dann am Stamm herabgelassen hat. Freilich, ein geschickter Junge muß es gewesen sein, denn die Mauer da –«

Kopfschüttelnd betrachtete er abermals die Mauer, warf sich dann zu Boden und kroch in dem kurzen Rasen herum.

Als er sich wieder erhob, trug sein Gesicht einen triumphierenden Ausdruck.

Einzelne frisch abgeblätterte Mauerstückchen und Mörtelstaub am Boden, sowie offenbar erst vor kurzem geknickte Grashälmchen gaben ihm Gewißheit, daß er richtig geschlossen hatte, hier war ein Mensch mit unglaublicher Gewandtheit, kaum sichtbare Vorsprünge geschickt benutzend, die Mauer emporgeklettert. Und zwar in den letzten Tagen.

»Er muß sehr leicht gewesen sein und im Klettern geübt,« schloß Silas in Gedanken, »sonst hätte er mehr Spuren hinterlassen. Immerhin: die Bestätigung, nach welcher ich suchte, hätten wir nun!«

Statt zu gehen, blieb er aber noch stehen und starrte die Mauer zweifelnd an.

»Brandner würde mich auslachen,« dachte er, »wenn ich behaupte, hier sei ein Mensch hinaufgeklettert. Und doch ist es so. Ja, ich fürchte, ich werde, um den Beweis der Möglichkeit liefern zu können, das Kunststückchen selber einmal probieren müssen.«

Unschlüssig blickte er um sich. Dabei traf sein Blick eine Stelle im Erdboden, welche von jungen Schößlingen des Holunderstrauches fast ganz überwuchert, seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war, da sie ziemlich weit ab von der Mauer lag. Ein tief eingebohrtes Loch war in der Erde sichtbar.

Ein Leuchten glitt über sein Gesicht.

»Ah – nun begreife ich freilich. Nicht nur warum der untere Mauerteil keinerlei Spuren aufweist, sondern auch wodurch oben knapp unter dem Rande die runde Schramme entstand, die wie eingebohrt in das Mauerwerk aussieht! Der Mensch hat sich einer Stange bedient, um emporzuklettern!«

Dies denken und nach der Stange suchen war eins. Er fand sie neben dem Holunderbusch achtlos ins Gras geworfen.

»Hm – das sieht wieder verdammt unvorsichtig aus. Sollte der Kerl doch ein Neuling sein?«

Wie dem auch sein mochte, Hempel nahm die Stange, rammte sie in das schon vorhandene Loch und da er ein gewandter Turner war, gelangte er an den Rand der Mauer.

Hier bot der Stacheldrahtzaun ein Hindernis. Wenn man sich sehr geschickt anstellte und schmal gebaut war, konnte man am Ende unten durchkriechen, da der unterste Draht etwa einen halben Meter über der Mauer begann. Andernfalls mußte man an der Kante Fuß fassen und ihn vorsichtig übersteigen.

Hempel hielt, mit den Händen die Kante der Mauer umklammernd, einen Augenblick inne, um zu überlegen. Welchen Weg hatte der Mörder genommen?«

Plötzlich stieß Silas einen Pfiff der Überraschung aus, während seine Augen sich in maßlosem Staunen weiteten.

War es möglich? Konnte er denn richtig sehen?

Aber es war keine Täuschung: dicht vor seinen Augen sah er die unzweifelhaften Beweise nicht nur dafür, daß hier ein Mensch unter dem Stacheldraht durchgekrochen war, sondern – daß dieser Mensch ein Weib gewesen sein mußte!

Nicht nur, daß an einem der Stacheln eine Anzahl rotbrauner Frauenhaare sich verfilzt hatten und im Winde flatterten, an einer brüchigen Stelle der Mauerkante war auch, zwischen zwei Steinen eingeklemmt, ein dünner Streifen Zeug, der nur von einem Frauengewand herrühren konnte, sichtbar.

Hempel war so verblüfft über diese Entdeckung, daß er eine Weile ganz sprachlos darauf hinstarrte.

Dann machte er Haare und Zeugstreifen sorgfältig los und schob beide vorsichtig wie eine Kostbarkeit in die Brusttasche seines Rockes.

Jetzt erst sah er sich nach einem Weg um, in den Park hinabzugelangen.

Für einen kühnen Kletterer war dieser nicht allzu schwierig zu finden. Ein Ast der Weihmutskiefer reichte mit seinen dünnen Ausläufern bis über die Mauer. Man konnte dessen dickeres Ende wohl erreichen und sich so hinüberschwingen. Allerdings gehörte Mut dazu und Gewandtheit.

Hempel berechnete die Tragfähigkeit des Astes und wagte den Versuch. Er gelang.

Aber eine Frau! Wie konnte eine Frau dies Kunststück noch gewagt haben, noch dazu bei dunkler Nacht?

Oder war sie etwa schon in der Dämmerung in den Park eingedrungen? Dann müßte sie sich dort irgendwo verborgen gehalten haben, bis sie im Hause alles schlafend glaubte.

Hempel durchstreifte den Park noch einmal nach Spuren, diesmal nach Spuren eines weiblichen Fußes.

Er fand keine. Indessen, sie konnte auf Rasen gestanden haben. Der kurzgeschorene Rasen behielt keine Spuren …

Plötzlich kam ihm eine neue Idee.

Die Frau war doch offenbar gekommen, um den Obersten zu sprechen. Vielleicht wollte sie etwas von ihm und erschoß ihn erst, als er ihr Verlangen abschlug. Wie war sie hinausgekommen?

Der Weg über die Mauer gestattete zur Not ein Eindringen – dort wieder hinauszukommen, schien Hempel unmöglich. So geschickt er im Turnen war, den Schwung von der Kiefer zur Mauer zurück hätte er nicht auszuführen vermocht. Nur ein Akrobat hätte dies wagen können – keinesfalls aber eine Frau.

Somit blieb nur das Tor, welches Harriet aber, als sie mit Tiersteiner fortging, verschlossen haben wollte.

Anders lag die Sache, wenn man zu Hempels erster Idee zurückkehrte: daß der Oberst seinen Gast selbst hinausgelassen hätte und dann am Tor den Tod fand. Die Mörderin konnte mit des Obersten Schlüssel wieder zugeschlossen haben, nachdem sie noch einmal im Haus gewesen war, worauf sie den Schlüssel mitnahm oder wegwarf.

In Gedanken versunken war Hempel weiter geschritten, ohne auf seine Umgebung zu achten.

Plötzlich stutzte er.

Wenige Schritte vor sich sah er den Kammerdiener Friedrich aus einem Gebüsch treten, einen scheuen Blick nach dem Hause hin werfend und hastig auf eine kleine Zeughütte zuschleichen, welche sich am Ende der Glashäuser befand und in der er nun verschwand.

Nur bedacht darauf, weder vom Hause aus noch von den zwei unweit desselben arbeitenden Gärtnern gesehen zu werden, hatte Herr Friedrich keinen Blick nach rückwärts geworfen, da er dort im Park offenbar keinen Menschen vermutete.

Indessen machte sein ganzes Gebahren einen so verdächtigen Eindruck, daß Silas ihm sofort folgte. Da er leise auftrat und die Zeughütte wenigstens nach dieser Seite kein Fenster besaß, war der Detektiv überzeugt, daß Herr Friedrich nichts von seiner Annäherung gehört habe.

Vorsichtig legte er das Ohr an die Bretterwand. Ein leises Knirschen war hörbar, dem ein schleifendes Geräusch folgte. Dann krachte polternd irgend ein altes Brett, an das angestoßen war.

Unmittelbar darauf trat Stille ein. Hempel wagte kaum zu atmen, so sehr fürchtete er, bei der Stille innen gehört zu werden.

Wenn er aber erwartet hatte, Herrn Friedrich nun bald wieder heraustreten zu sehen, so irrte er.

Minute auf Minute verging, der Kammerdiener erschien nicht und drinnen blieb alles totenstill.

Endlich verlor Hempel die Geduld und stand schon im Begriff, die Tür rasch zu öffnen, als er, durch Stimmen aufmerksam gemacht, zu seiner namenlosen Überraschung hinter sich an der Stalltür drüben Herrn Friedrich mit der Kutschersfrau im Gespräch erblickte.

Der Kammerdiener hatte sich eine Zigarre angezündet, trug seine gewöhnliche würdige Miene zur Schau und schien keine Ahnung von Hempels Anwesenheit auf der andern Seite des Kiesplatzes zu haben. Wenigstens warf er keinen Blick hinüber.

Hempel, innerlich wütend, hielt es für das beste, vorläufig den Unbefangenen zu spielen, und schlenderte ins Haus.

Auf der Treppe traf er mit Harriet zusammen, die zugleich gespannt auf ihn zutrat.

»Ach, endlich lassen Sie sich blicken, Herr Hempel! Was hielt Sie denn nur so lange von uns fern, es ist bald Mittag und –«

»Entschuldigen Sie, Fräulein Henderson,« unterbrach er sie rasch. »Sie sollen nachher alles erfahren, aber bitte, schicken Sie vor allem den Kammerdiener Friedrich mit irgend einem Auftrag vom Haus fort, und zwar so, daß er unter einer halben Stunde nicht wiederkehren kann.«

»Friedrich? Mein Gott, was –«

»Später werde ich Ihnen antworten, bitte, tun Sie nun, worum ich Sie ersuchte.«

Harriet verschwand sofort und kehrte nach fünf Minuten mit den Worten zu Hempel zurück: »Er ist fort. Werden Sie mir nun –«

»Eine halbe Stunde Geduld, mein Fräulein, momentan habe ich dringend zu tun. Erwarten Sie mich in Ihres Vaters Salon, denn auch ich habe einige Fragen an Sie zu stellen.«

Silas begab sich sofort in den Park, um jenes Gebüsch zu untersuchen, aus dem Friedrich getreten war. Aber so genau er auch forschte, er fand weiter nichts, als eine in den Boden eingelassene, mit einem Brett zugedeckte Holztonne, die zur Hälfte mit Regenwasser gefüllt war.

Auch die Durchsuchung der Zeughütte ergab nicht das mindeste Verdächtige. Sie besaß ein Fenster, der Tür gegenüber, das offen stand.

Friedrich war zweifellos, nachdem er sich belauscht merkte, durch dasselbe hinausgestiegen, war um die Glashäuser herum und durch die Villa durchgegangen.

Daß er sich gerade hinter Hempels Rücken aufgestellt und mit der Kutschersfrau geschwatzt hatte, sah einer höhnischen Verspottung seines Verfolgers auf ein Haar gleich.

Ärgerlich begab sich der Detektiv in das Haus zurück, um Harriet im Salon aufzusuchen.

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