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Nachdem Eduard am nächsten Morgen Irenes Zeilen gelesen hatte, begab er sich sofort in die Wohnung der Familie van Fleethen.
Und es traf sich recht gut, daß ihm der Alte aus der Haustür eben entgegentrat, gerade als er die Schwelle des Portals betreten wollte.
»Guten Morgen, Päppe!« Eduard lüftete seinen Hut zum Gruße, den Jacques van Fleethen nur sehr förmlich erwiderte, indem er zugleich seinem geröteten Gesicht einen zurückweisenden Zug aufprägte.
»Es ist gut, daß ich Sie treffe, mein Herr! Ich wollte eben zu Ihnen. Kommen Sie also mit mir! Wir haben zu sprechen. Vielleicht gehen wir ein wenig zusammen spazieren!«
Er sprach abgehackt und verfiel durch die Erregung wieder stärker in sein holländisches Idiom.
Eduard war empört über dies flegelhafte Ansinnen.
Statt ihn ganz selbstverständlich sofort in seine Wohnung heraufzubitten, erlaubte sich dieser Mann, ihm eine so diffizile Zwiesprache auf offener Straße zuzumuten.
»Ich bin nicht gewohnt, derartige Dinge auf einem Spaziergang zu ventilieren,« gab er, sich mühsam bezähmend, zur Antwort.
»Kommen Sie nur,« sagte van Fleethen und schritt einfach vorwärts, um ihn so zum Mitgehen zu zwingen.
Eduard hatte erst die feste Absicht, den ungehobelten Mann jetzt einfach stehen zu lassen.
Da aber dachte er an Irene, und um ihretwillen folgte er ihm.
»Sie haben mit meiner Tochter eine Liebelei angebändelt!« begann nun der Alte ohne jede Beklemmung seinen Vortrag. »Ich weiß, meine Frau ist schuld daran! Sie hat Sie ermuntert, hat Sie auch zu uns eingeladen. In Karlsbad zuerst! Und dann auf dem Schiff! Aber ich hätte von Ihnen als Gentleman erwartet, daß Sie sich in meiner Behausung – ich meine auf meinem Dampfer – anders benehmen würden. Aber statt dessen haben Sie das allen Menschen heilige Gastrecht verletzt! Haben mein dummes, junges, unwissendes Kind betört, das doch – wie Sie wissen – erst knappe achtzehn Jahr alt ist! Wie darf man solchem dummen Gör überhaupt von Liebe reden! Ich hatte das einem so gebildeten Menschen gar nicht zugetraut!! Wir haben Ihnen eben zuviel Vertrauen geschenkt!! Wenn Sie gewartet hätten, bis das Mädel zwanzig alt ist, hätte sich über die Sache – vielleicht – reden lassen, obgleich ich doch noch ganz andere Ansprüche machen kann, als einen simpeln Beamten, der nichts verdienen kann.«
Eduard war so sprachlos, daß er auf diese Auslegung seines Verkehrs mit der Familie einer vernünftigen Antwort noch nicht fähig war.
»Ich liebe Ihre Tochter, und Ihr Fräulein Tochter liebt mich! Das muß doch wohl auch Ihnen genügen!« brachte er nur heraus.
Aber er hatte sich in diesem Manne doch noch getäuscht, hatte ihn noch zu hoch eingeschätzt.
»Gegen Gefühlsausbrüche bin ich vollkommen abgehärtet! Machen Sie also Ihren Gefühlskasten nur ruhig wieder zu! Also ich sage Ihnen, daß es für mich ganz ausgeschlossen ist, Ihnen mein Jawort zu geben! Wie ich hörte, haben Sie nicht einmal mehr Ihre vorherige Position! Wovon wollen Sie meine Tochter ernähren? Wissen Sie, was für Ansprüche ein so verwöhntes junges Mädchen macht?«
»Ich will Ihr Geld nicht. Ich will Ihr Kind! Einzig und allein nur Ihr Kind! Ich habe auch genug Geld, um Ihr Kind vorläufig anständig ernähren zu können, bis ich durch meines Geistes und meiner Hände Arbeit soviel verdienen werde, um auch den verwöhntesten Ansprüchen zu genügen, die ein vernünftiges Wesen an das Leben stellen darf!«
»Darüber gehen die Ansichten sehr auseinander! Aber sehr, Herr Weitbrecht! Können Sie meiner Tochter ein Auto halten?«
»Irene und ich sind sich darüber einig, auch vorläufig ohne Auto leben zu können, Herr van Fleethen. Sie werden uns daher auch nicht mehr trennen können. Ich liebe Ihr Kind aufrichtig und bin fest entschlossen, mit Ihnen ehrlich Mann gegen Mann um sie zu kämpfen!«
»Das ist ja Unsinn! ›Wenn das Geld alle ist, fliegt die Liebe zum Fenster heraus‹ heißt ein altes holländisches Sprichwort. Es bleibt von mir aus bei einem Nein! Da können Sie kämpfen, soviel Sie wollen!«
»Und Ihre Frau Gemahlin – –?«
»Meine Frau hat mich ausdrücklich beauftragt, Ihnen das auszurichten, was ich Ihnen eben sagte. Sie haben keine Position! Sie können meine Tochter nicht so glänzend ernähren, wie ich es von meinem Schwiegersohn verlangen darf! Also bleibt mir nur noch übrig, Sie zu bitten, die Briefe herauszugeben, die das Kind Ihnen in seiner Torheit geschrieben hat. Ich weiß, Sie könnten das Mädel kompromittieren, aber ich hoffe, daß Sie wenigstens in der Beziehung ein anständiger Mensch sein werden. Streiten Sie nicht,« fügte er auf Eduards dieser letzten Aufforderung wohl entsprechende Reaktion zu, »das Hausmädchen hat meiner Frau berichtet, daß sie selbst Briefe meiner Tochter an Sie in den Kasten gesteckt hat. Ein Zeichen mehr dafür, wie Sie das unerfahrene, dumme Ding mit Ihren Einflüsterungen betört haben.«
Eduard hatte sich bei den letzten Worten seines Begleiters nur noch mühsam beherrscht.
Jetzt blieb er stehen, und die in ihm hochschießende heiße Zorneswelle, die sein erst vor Wut erblaßtes Antlitz mit tiefem Rot überzogen hatte, machte sich Luft:
»Nun sind Sie wohl so gut, einen Punkt zu machen! Nun sind Sie wohl endlich einmal fertig mit Ihrer ganz einseitigen Auffassung unserer Beziehungen, die ich aufs tiefste bedauern muß, nachdem Sie sich als der echte unverfälschte Sohn eines Lumpensammlers erwiesen haben!« Er stockte.
Van Fleethen antwortete nichts. So fuhr er fort.
»Es bleibt mir noch übrig, Ihnen zu sagen, daß ich nach Ihrem mir erschlossenen Einblick in Ihren rohen Charakter gern darauf verzichte, mein Blut mit solcher Sippschaft, wie Sie sie fortpflanzen, erst zu vermischen. Behalten Sie Ihre betörte Tochter und kochen Sie sie sich gefälligst sauer! Ihre Briefe stehen Ihnen, soweit ich sie noch besitze, zur Verfügung. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihr borniertes Verhalten später einmal gründlich bedauern sollten. Nun grüßen Sie mir noch Ihre übrigen Herrschaften! In diesem Sinne: Mahlzeit!«
Wie ein begossener Pudel blieb Jacques van Fleethen wortlos stehen! Und er fühlte in diesem Augenblick doch die kraftvolle Überlegenheit des lichten Geistes über die finstere Nacht seiner Unbildung, der stürmenden Jugend über das welke Alter, den Sieg des Fortschritts über den Zopf.
Eduard festigte in dieser Stunde aber seinen Entschluß:
Es mußte das Ende sein. Fort mit allem Trug und Tand dieser nur aufs rein Äußerliche gestellten Scheinwelt!
Nur in seine tiefe Seele galt es jetzt noch zu horchen.
Und an sich wollte er arbeiten! Sich hinausentwickeln aus dieser sumpfigen Niederung der modernen Menschengesellschaft! Sich hinaufentwickeln in jene steilen Regionen, wo nur der Mann etwas gilt, wo die wahre Persönlichkeit gewertet wird. Einen solchen Gipfel mußte es doch auch irgendwo geben. Das fühlte er unbewußt! Und den wollte er erklimmen, mühsam schrittweis hinaufklettern, und erst oben in der Höhe würde er wieder rasten können und auf die bornierte kleine Bestie, diese beschränkte Menschheit mit ihrer niedrigen Gesinnung, herabblicken, auf diese leicht entflammten Herdentiere, die nur noch dem äußeren Erfolge huldigten und zujauchzten, die ihr käufliches launisches Hosianna heute dem und morgen schon wieder einem anderen Propheten wie einen Trödel anhingen, nachwarfen, dies Hosianna, das nicht mehr aus der Seele dringen konnte, weil die große echte Volksseele längst vergiftet worden und so allmählich erstorben war.
Und er schrieb an Martin einen Brief, worin er ihm zunächst mitteilte, daß er sich des scherzhaften Mittels der ihm kürzlich vorgegaukelten Verlobung mit einer steinreichen jungen Jüdin nur deshalb bedient hätte, um einmal ganz gehörig in seinen geldgierigen Gedankengang hineinzuleuchten.
Natürlich müsse er ihm heute auch sagen, daß er über die glücklich erzielte Wirkung dieser seiner spiegelblanken Phantasterei auf sein – Martins – wahres Wesen sehr herzlich gelacht habe.
Dann kam des Bruders wundester Punkt an die Reihe.
Da also besagte goldene Berge ihm leider noch immer nicht untertan geworden seien, ersuchte er Martin zuletzt um umgehende Rückzahlung der ganzen ihm gegebenen Geldsumme und bemerkte dazu, daß er es als Anstandspflicht betrachtet hätte, ein solches Darlehn wie eine Ehrenschuld sofort nach der Hochzeit zu tilgen.
Nach dieser ihm rein sachlich mitgeteilten Ansicht schloß er den Brief mit einem unter Brüdern sonst wohl üblichen Gruß. – – –
Die postwendend einlaufende Antwort sah folgendermaßen aus:
M. S. W.
W. Potsdamer Straße 189.
Deine unverfrorenen Zeilen wären besser ungeschrieben geblieben. – – Das ist meine Ansicht! Ich verbitte mir von jetzt ab jede weitere Belästigung.
Martin.
Mit derselben Post erreichte Eduard auch ein sehr nett gehaltener Brief von seinem ehemaligen Mitschüler Walter Loewy, der ihm seine Niederlassung als Rechtsanwalt am Berliner Landgericht ankündigte.
Am nächsten Nachmittag begrüßte der junge Anwalt in Eduard Weitbrecht seinen ersten Mandanten.
Und zwei ziemlich fette Sachen »Weitbrecht contra Weitbrecht« wurden hintereinander in das nagelneue Prozeßrepertorium des Rechtsanwalts Dr. jur. Walter Loewy eingetragen.
Aus dem ersten größeren Objekt wurde eine »Klage im Wechselprozeß«, während sich die zweite Sache zu einem ganz gewöhnlichen Zivilprozeß über das Restdarlehn auswuchs.
Und Eduard arbeitete jetzt.
Von aller Welt schloß er sich ab, um nur seiner Arbeit zu leben.
Irene, die erst nach Verlauf von acht Tagen schüchterne Versuche machte, sich ihm nochmals zu nähern, da er ihren letzten Brief nicht mehr beantwortet hatte, wurde von der Wirtschafterin zurückgewiesen.
Denn er selbst wollte für sie nicht mehr zu sprechen sein. Er mußte sich freimachen von allem Ballast.
Es gab für ihn nur noch seine Kunst und seine Wissenschaft.
Mit Martin aber hatte er während dieses Jahres doch noch eine zwangsweise herbeigeführte Begegnung.
Aber die war nicht etwa an Gerichtsstelle.
Die Prozesse hatte Walter Loewy schnell und sicher zu Ende geführt, so daß ihm jeder persönliche Zusammenstoß erspart blieb.
Martin war gleich im ersten Termin nach dem Klageantrag verurteilt worden, und zwar in beiden Prozessen.
Dagegen war kein Kraut mehr gewachsen.
Jetzt mußte er zahlen, so sehr er sich auch ärgerte. Denn er hatte ja seine reichen Erfahrungen über die im Namen des Königs oft recht regsame Kraftentfaltung eines Königlich Preußischen Gerichtsvollziehers.
Die Begegnung der Brüder geschah vielmehr, hervorgerufen durch das endgültige Ableben des Onkels Aloys Mettschieß, in Königsberg bei dessen Beerdigung.
Tieftraurig war Martin natürlich an die Bahre des Toten geeilt – –! Und wurde sogar von der Predigt des Pastors am offenen Grabe so gerührt, daß Tartüff in sein ganz gelbes Gesicht trat und einige Krokodilstränen für den Onkel vergoß.
Was er am Grabe des herrlichen Vaters noch nicht gekonnt hatte, dazu taten jetzt die Geldgier und der Geiz das Ihrige.
Er konnte jetzt sogar weinen!
Auch Eduard war zur Trauerfeier gekommen, weil er schon sehr lange den Wunsch hegte, das Grab seiner Eltern in Finsterburg einmal wiederzusehen.
Und diese Sehnsucht hatte ihn vor allem anderen nach der Heimat aus diesem äußeren Anlaß getrieben.
Das Betragen der feindlichen Brüder am Grabe gab zwar zu großen Tratsch- und Klatschereien im weiteren Bekanntenkreise des Entschlafenen hinreichend Anlaß.
Aber beide Brüder schien das nicht zu berühren!
Sie gingen aneinander vorbei, als hätte einer den anderen nie gekannt.
Als jedoch drei Tage nach dem Tode des Erblassers sein Testamentsvollstrecker, Justizrat Honig, im Sterbehause nach dem Wunsche des Onkels dessen letzten Willen über seinen Nachlaß vor den dazu geladenen Brüdern eröffnete und vortrug, machte Eduard mit der Ironie des Schicksals eine ihm sehr gelegen kommende Bekanntschaft.
Anscheinend war der Alte nicht mehr zu der beabsichtigten Änderung seines einmal gemachten Testamentes gekommen.
Denn nach dem Wortlaut der Urkunde, die der Notar zu beider Kenntnisnahme laut und vernehmlich vorlas, war er – Eduard Weitbrecht – Universalerbe des Toten geworden. Er – Eduard Weitbrecht – plötzlich unumschränkter Besitzer einerundeinerhalben Million Mark in bar, die vielen Gebäude, Ländereien und sonstige Liegenschaften des Verstorbenen noch gar nicht einmal miteingerechnet.
Martin wurde noch etwas gelber vor Neid!
Eduard aber traute seinen Ohren erst nicht und fragte den Justizrat:
»Ist vielleicht ein Kodizill vorhanden? Der Onkel sagte mir mal in Karlsbad, daß er ein solches aufzusetzen noch beabsichtige, Herr Justizrat.«
»Nein! Nein, Herr Weitbrecht! Bedauere sehr – – oder pardon – – freue mich sehr, Ihnen nichts anderes sagen zu können!« sagte der.
Nun murmelte Martin noch einige unverständliche Worte wie »Erbschleicher – Karlsbad – Liebkind machen – und – Speichellecker –« zu Eduard hin, die dieser mit den Allüren eines frischgebackenen Millionärs natürlich vornehm überhörte.
Dann wandte sich Martin, das Geschäftsgenie aus der Residenz der Intelligenz, gierig an den Notar:
»Herr Justizrat! Ich fechte dieses Testament an und beanspruche die Auszahlung meines Pflichtteils!«
»Ein gesetzliches Pflichtteil gibt es nur zwischen Eltern und Kindern und umgekehrt,« gab Justizrat Honig beflissen zur Antwort und schloß die notarielle Verhandlung …
Als Eduard das Sterbehaus bald darauf mit dem Notar verließ, trat ihm Martin, der vorher wütend fortgeeilt war, mit einem neuen ganz brüderlich-liebreichen Zuge entgegen und reichte ihm treu seine Biedermannshand zur Versöhnung, wozu Tartüff wieder wenige Tränen beisteuerte.
Eduard aber ließ die ihm gebotene Bruderhand unberührt.
Sein Stolz wollte nie wieder eine Gemeinschaft mit diesem Unmensch, als den er den Bruder erkannt hatte.