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Martin hatte entschieden einige angeborene Fähigkeiten: Begabung und Initiative!
Was er in knapp drei Wochen geschaffen hatte, war, um mit ihm zu sprechen, wirklich »einfach gigantesk«.
Ein reizendes Heim war so entstanden, und als die beiden Brüder »die Bude« feierlich einweihten, konnte Martin sich nicht oft genug von Eduard sein hier bewiesenes Talent bestätigen lassen.
Ein eleganter Salon im Empirestil trennte beider Arbeitszimmer voneinander.
Martin hatte rohe Eiche für sich und geschnitzten Nußbaum für Eduards Herrenzimmer gewählt. Die mit kostbaren Tapeten bedeckten Wände dieser Räume waren bis auf einige Familienbilder, die Martin inzwischen aus Finsterburg herübergeholt hatte, leer geblieben.
Erst nach und nach wollte er mit Hilfe des kunstgeschichtlich geschulten Bruders einige Gemälde für den Salon erwerben.
So waren die drei Vorderzimmer der Wohnung verteilt worden, das sehr große Berliner Zimmer hatte Martin zum Speisesaal im flämischen Stil bestimmt. Für dieses Zimmer hatte man ihm einige wertlose Stilleben aufgeschwatzt, die nun wirkungslos an der Wand hingen.
Ein gemeinsames Schlafzimmer hielt er für zweckmäßig, da er sich so besser an den Bruder gewöhnen konnte, ihn mehr im Auge hatte und zu sich heranzog.
Durch das elegante Toilettenzimmer gelangte man zu einem sehr praktisch gebauten Baderaum, in dem warmes Wasser tags und nachts zur Verfügung der Bewohner gehalten wurde.
Martin führte Eduard, der eben hierher mit drei inzwischen zu diesem Zwecke angeschafften großen Koffern aus seinem alten Heim übersiedelt war, von einem Zimmer ins andere, spielte wie ein Kind mit den Druckknöpfen der elektrischen Kronen und belustigte sich an Eduards Freude über die nach seinen besonderen Vorschriften angebrachten Lichtwirkungen in allen Farben.
Auf diese Überraschung Eduards hatte er sich die ganzen drei Wochen lang, während welcher der Jüngere das neue Heim auf keinen Fall hatte betreten dürfen, am meisten gefreut.
Martin sprach dem kommenden Baumeister schon eine gewisse Urteilsfähigkeit zu, als sich Eduard nicht nur vollkommen zufrieden, ja sogar ganz verblüfft über Martins geschmackvoll getroffene Auswahl der einzelnen Möbelstücke aussprach.
Selbstverständlich waren zur Einweihungsfeier für diesen Abend auch zwei holde Mägdelein geladen.
Martin hatte bereits eine Menge schöner Bekanntschaften gemacht, und als die für das Fest gewählten Damen dann gegen acht Uhr zum Souper eintrafen, wiederholte sich der Rundgang durch die Wohnung. Martin hätte ganz ruhig mit der Rhetorik eines Museumsführers hinsichtlich der stets gleichbleibenden Genauigkeit seiner Erklärungen bis ins einzelne wetteifern können.
Eine »perfekt« kochende Köchin und ein tadellos geschulter Diener sorgten für das leibliche Wohl der jungen Herren, während der Kutscher – Martin hatte ein prachtvolles Traberpaar mit einer eleganten Viktoria zusammengestellt – außerhalb des Hauses untergebracht war.
Zwei Wochen lang bewohnten die Brüder ihr junges Haus, als Martin eines Abends kurz vor dem Abendessen an Eduards Arbeitszimmer anklopfte. Ja anklopfte!
Denn Martin sah auf die strengste Einhaltung dieser Form. Er selbst wollte nie zur Unzeit gestört werden, behandelte aber auch den Bruder in diesem Punkte als einen vollständig Gleichberechtigten.
Eduard saß am Schreibtisch, vor sich Reißbrett und Bücher, denn das Diplomexamen nahte mit Riesenschritten, und ein starker Tatendrang trieb den Ruhelosen immer weiter an die Arbeit für das gesteckte Endziel.
Auf Eduards »Herein« betrat Martin, einen Haufen Papiere in der Hand, das Zimmer.
Er schien heute Abend heimbleiben zu wollen, was Eduard daraus schloß, daß er seinen Straßenrock schon mit dem sattgrünen Plüschjackett vertauscht hatte.
Das Morgenkleid am Abend galt als untrügliches Zeichen dafür, daß Martin noch Damenbesuch erwartete!
Er setzte sich zu Eduard an den Schreibtisch und begann:
»Ich will heute endlich die lange beabsichtigte Abrechnung zwischen uns vornehmen; denn diese Gütergemeinschaft kann nicht ewig zwischen uns bestehen.«
Eduard meinte, auf diese feierliche Einleitung etwas antworten zu müssen:
»Der augenblickliche Zustand ist doch ganz gut für uns zwei, Du behältst die Verwaltung meines Geldes, bis ich es selbst zu irgendeinem künstlerischen Zwecke gebrauchen werde.«
»Nein, nein,« erwiderte Martin barsch, »ich will damit nichts zu schaffen haben! Jeder für sich – Gott für uns alle! Du hast mir zwar eine Generalvollmacht erteilt! Ich habe Deine gesamte Asche herübergeholt und dem Herrn Justizrat in Finsterburg gehörig auf die Finger geguckt! – Jetzt aber übergebe ich Dir alles Deine; denn Du mußt ja endlich einmal lernen, mit Deinem Gelde selbständig zu wirtschaften!«
Und er zerriß das erste der Schriftstücke, die er inzwischen neben dem Bruder auf den Schreibtisch gelegt hatte. – Es war die Vollmacht, die Eduard ihm vor einem Notar am Tage nach seiner Freilassung zur Führung aller seiner Angelegenheiten hatte ausfertigen müssen.
Als Eduard ihm lächelnd zusah und immer nur schwieg, griff Martin nach dem zweiten Aktenbogen.
»Hier habe ich Dir eine genaue Berechnung Deines heutigen Vermögensstandes niedergelegt. Dein Erbteil betrug beim Ableben des Vaters – das mütterliche Vermögen eingeschlossen – rund zweihundertsechsundvierzigtausend Mark. Das Vermögen ist vom Vater in vierprozentigen Reichsschatzscheinen angelegt und hat in der Zwischenzeit an Zinsen zirka dreißigtausend Mark gebracht, welche zum Kapital geschlagen wurden. Aus der hierstehenden Staffel – er zeigte auf den zweiten Bogen – ersiehst Du Deinen geringen Verbrauch in den letzten Jahren. Die Summe beträgt neuntausendsiebenhundert Mark und ist vom Kapital in Abzug zu bringen. Alles in allem habe ich Dir von Deinem Vormund zirka zweihundertsechsundsechzigtausenddreihundert Mark mitgebracht. Das ganze Geld habe ich bei der Deutschen Bank für Dich deponiert, die aus den Zinsersparnissen resultierenden Bargelder habe ich in einem sechsprozentigen Auslandspapier anlegen lassen.«
Eduard hatte von alledem so gut wie nichts verstanden. Jetzt aber, als Martin einhielt, drückte er ihm dankbar die Hand.
»Ich danke Dir herzlich, lieber Martin, für Deine gute Vertretung meiner Sache. Ich hoffe einmal später – wenn ich ein fertiger Mann sein werde – Dir gleiches vergelten zu können. Ich baue Dir einst ein schönes Haus – wenn Du mal heiratest.«
»Ausgeschlossen,« lachte Martin da heraus, »ich heirate überhaupt nicht. Lebe ich nicht so für mich viel ungezwungener und angenehmer? – Aber, halt, wir sind mit der Abrechnung noch nicht fertig. Du schuldest mir, wie Du vielleicht wissen wirst – noch verschiedene Auslagen. Ich verausgabte für Deine erste Umkleidung dreihundert Mark, für Diners und Soupers und Droschkenfahrten in den letzten drei Wochen auf Deinen Teil eintausendeinhundertzwanzig Mark. Die Berechnung über diese Beträge findest Du hier« – er nahm den dritten Bogen auf und legte ihn vor den Bruder hin – »ganz klar von jedem einzelnen Tage. Für die Einrichtung dieser Wohnung habe ich Dich mit der Hälfte des Anschaffungspreises belastet, die Einrichtung kostet total vierundzwanzigtausend Mark. Macht für Dich zwölftausend Mark. Jetzt bleibt noch das Gespann anzusetzen. Hierfür schuldest du mir für deinen Teil zweitausendsiebenhundert Mark.«
Eduard bestätigte die Richtigkeit dieser Forderung und glaubte damit schon endlich allen weiteren geschäftlichen Auseinandersetzungen enthoben zu sein.
Aber Martin blieb bei der Sache.
»Wir müssen morgen früh zusammen zur Bank gehen, wo ich Deine ganze Asche deponiert habe. Du gibst dort Deine Unterschrift ab, und dann wird man Dir ein Scheckbuch einhändigen.«
»Aber wozu das alles, ich weiß ja nichts damit anzufangen,« wollte sich Eduard wehren.
»Das lernst Du recht schnell, Jungchen! Bist ja sonst nicht auf den Kopf gefallen. Ja, ja, Dein Namenszug ist Geldeswert, und was Du von jetzt ab unterschreibst, das gilt.« So belehrte ihn der Ältere und freute sich diebisch an Eduards zaghafter Unselbständigkeit. Bald aber kam er wieder auf seine Forderung zurück.
»Die Summe, die Du mir laut Aufrechnung schuldest, wirst Du dann gleich an meine Bank überweisen lassen. Ich habe für mein Konto die Nationalbank gewählt, um Verwechslungen von vornherein zu vermeiden. Es sind im ganzen sechzehntausendeinhundertzwanzig Mark, doch dazu kommen noch hundertdreißig Mark als Entschädigung für die in Deinem Interesse gemachte Reise nach Finsterburg, einschließlich der Hotelrechnung. Ich bin gern bereit, diese sechzehntausendzweihundertfünfzig Mark in Deinen Pfandbriefen zum morgigen Kurswert anzunehmen, um Dir Verkaufskosten und Kursverluste zu ersparen. Ich handle Dir gegenüber eben – wie Du siehst – immer treu brüderlich, mein Jungchen!«
Und dankbaren Herzens verschloß Eduard, nachdem Martin sich in einen am Fenster stehenden Sessel geworfen hatte, um die ihm gerade vom Diener vorgelegte Abendzeitung zu lesen, die ihm übergebenen Dokumente.
In buntem Wirbel zogen den Brüdern nun die Tage vorbei.
Nur mit Mühe konnte sich Eduard auf wenige Stunden am Tage der Gesellschaft Martins entziehen, um zu arbeiten.
Das kleine leichte Vorexamen hatte er schon im dritten Semester seiner Studienzeit spielend bestanden. Die Diplomprüfung aber, die er nach acht Semestern ablegen mußte, um zum Regierungsbauführer ernannt zu werden und damit seinen staatlichen Vorbereitungsdienst antreten zu können, war sehr schwer, – – stellte ungeheure Ansprüche an den Kandidaten. Eduard hatte sich bereits ein ganz gediegenes Wissen, das durch einen schöpferischen Geist und sein erstaunlich starkes Zeichentalent unterstützt wurde, angeeignet. Aber er mußte unbedingt immer weiter fleißig arbeiten, um die erworbenen Kenntnisse noch zu erweitern und abzurunden.
Und gerade bei dem langsam näherrückenden Examenstermin – er hatte kaum ein Jahr mehr Frist! – empfand er den Bruder oft als großes Hindernis.
Denn Martin nahm ihn fast den ganzen Tag gefangen. Wenn Eduard frei war, das heißt, keine Übungen im Figuren- und Landschaftszeichnen oder Ornamentik und Modellierkurse wahrzunehmen hatte, klopfte Martin schon früh um zehn Uhr an sein Zimmer, um ihm zu melden, daß der Wagen zu einer Spazierfahrt vor der Haustür bereitstehe.
»Hörst Du 's Glöcklein läuten? Unsere Söhne« (damit meinte er die Traber) »stehen unten und sehnen sich nach ihren Eltern. Du arbeitest mir auch zuviel und mußt ein wenig Luft schnappen, Jungchen! Also flink! Laß die Formenlehre der romanischen und gotischen Baukunst mal 'n bißken schlummern. Es ist doch ganz gleich, ob Du ein Jahr früher oder später Examen baust, mein Sohn!«
Dann wurde Eduard nur zu oft leichtsinnig und ließ sich nicht ungern zu einer Ausfahrt verlocken, von der beide erst zum Mittagessen heimkehrten.
Nachmittags mit dem Schlage »vier« begab man sich in den Zoologischen Garten, wo Martin meist bis elf Uhr verweilte. Hier machte er jetzt seine besten Eroberungen und nannte das »auf Raub ausgehen«.
Wenn sich gegen sechs Uhr der Garten gefüllt hatte und die Menschenmassen unter den Klängen der Musik in der Lästerallee auf und ab wogten, ging auch er, recht oft von Eduard begleitet, einmal durch die Allee, um, wie er sich ausdrückte, »einen Fischzug zu machen«.
Am Adlerkäfig, der das Ende der Lästerallee bedeutet, blieb er dann leuchtenden Auges stehen und konnte sicher sein, daß ihm einige Mädchen in die Hände liefen, die dann von ihm oder Eduard, der jetzt auch schon seinen Mann stand, »bestellt« wurden.
Noch aber hatte sich Eduard rein gehalten. Keines dieser Mädchen war nach seinem Sinn und Geschmack. Und Martin amüsierte sich köstlich über diese Zurückhaltung und gab ihm den Spitznamen: Mönch!
Wenn das Konzert im Zoologischen Garten um elf Uhr sein Ende erreicht hatte, begann für Martin eigentlich erst das Leben.
Er spielte.
Zunächst war ihm das Glücksspiel eine anregende Unterhaltung; allmählich aber hatte seine Sucht nach Geld eine fast krankhafte Gier nach Gewinn in seinem Innern ausgebildet und stets gesteigert. Seit kurzer Zeit war er daher dem Spielteufel vollkommen verfallen.
So schlenderte er auch eben mit Eduard in fröhlichster Stimmung aus dem Garten den Kurfürstendamm entlang bis ans »Café des Westens«, wo stets eine Menge guter Freunde kampfbereit der Brüder harrte. Gleichsam als Hors d'oeuvres des vielverheißenden Abends wurde hier schnell ein Stündchen Vierblatt gespielt, und Martin gewann fast stets. Eduard saß an seiner Seite und mußte »kiebitzen«, damit ihm Fortuna auch hold blieb. War so durch dieses Vorspiel Martins Lust am Geldgewinn erregt worden, so schied er aus dem kleinen Café, um in einem anderen Lokal am Ende der Joachimsthaler Straße erst mit Vollgenuß seiner neuen Leidenschaft zu frönen.
Am Rankeplatz, der zu dieser Zeit noch fast unbebaut ein Ende Westberlins zu sein schien, stand ganz frei, ohne jeden Grenznachbarn, ein einsames Haus, das noch nicht mal in allen seinen vier Stockwerken Mieter aufzuweisen hatte. Im Erdgeschoß dieses Hauses befand sich ein elegant eingerichtetes Restaurant, über dem ein von einer Bogenlampe beleuchtetes Schild prangte:
CAFÉ KAISERKRONE
Bes. Oskar Würstling.
Herr Würstling hatte nur bis zwölf Uhr die behördliche Erlaubnis zur Verabreichung von Speisen und Getränken in seinem Café, das tagsüber aber immer leer und still in seinem neuen glatten Glanze dalag. Das eigentliche Café mit dem blitzblanken Büfett und den vielen von Wiener Stühlen umstandenen Marmortischchen wurde durch eine Glastür vom Billardzimmer getrennt. In dem großen Raume befand sich sonderbarerweise nur ein ebenso ungewöhnlich langes als breites Billard, das hier seinen eigentlichen Zweck aber verfehlt zu haben schien.
Nachdem nämlich die Polizeistunde geschlagen hatte, drehte der Wirt den Schlüssel der Ausgangstür pro forma zweimal um. Jetzt begann ein geheimnisvoll nächtliches Treiben und brachte Leben in die bis Mitternacht nur zufällig von vereinzelten Gästen besuchten Räume.
Der Herr Ober und die Büfettdame, es waren Oskar Würstling und seine Gattin höchstselbst, verdichteten die breiten Fenster des Cafés, indem sie die Stores noch von schweren, dazu angebrachten Tuchvorhängen mechanisch bedecken ließen.
Hier traf sich allabendlich die Jeunesse dorée Berlins, und es war selbstverständlich für jeden Kavalier, wo er auch den Abend begonnen hatte, gegen halb eins Papa Würstlings Hallen »abzuleuchten«.
Mit wenigen Ausnahmen waren es junge Akademiker, die sich hier zusammenfanden. Das Café hatte an der Straßenfront noch eine zweite Eingangstür, die ganz unauffällig angebracht und lediglich dem Eingeweihten bekannt war.
Nur auf das Kennwort »Schnase« öffnete Frau Würstling den langsam (nicht anders als höchstens zu zweien) Einlaß begehrenden Ankömmlingen die kleine Pforte, das Bogenlicht im Billardzimmer flammte auf, und Oskar Würstling eröffnete das Bakkarat.
»Hand« hatte der Alterspräsident des jungen Kreises, ein ungewöhnlich dicker Burschenschafter, der schon ewig Student war und es scheinbar auch bleiben wollte.
Peter Larsen nannte sich Goethephilologe und hatte als Erster die Mannen ohne viele Mühe zu diesem täglich neuen Jeuabend zusammengetrommelt.
Er sprach stets so schnell, daß kaum seine besten Freunde ihn verstehen konnten, gestikulierte dabei unaufhörlich und aß zu allen Tageszeiten in steter Folge eine Portion nach der anderen. Wegen Verschwendung war er schon als zweiundzwanzigjähriger Student entmündigt worden und erhöhte sich jetzt seine dreihundert Mark monatlich betragende Rente gern durch ein gemütliches Spielchen.
Natürlich trug ihm seine außerordentlich massive Figur eine gewisse Volkstümlichkeit ein, die durch allerlei Geschichten, die man von ihm erzählte, noch mit romantischen Schleiern umgeben wurde. Illustrierte Zeitschriften hatten schon sein Bild, vor sich eine Portion Kalbskeule, mit der Unterschrift: »Einer, der andere reden läßt«, gebracht.
Während Larsen sich tagsüber mit der Lektüre englischer Kriminalromane unterhielt, die er – wie seine Mahlzeiten – geradezu verschlang, kam er abends unweigerlich aus seiner Klause, um den Füchsen – wie er die jungen Leute nannte – das Geld abzunehmen. Sein Leibfuchs, Hans Pfetzner, dessen Vater – ein Sanitätsrat – in der Matthäikirchstraße seine Praxis ausübte, mußte ihn stets zur rechten Zeit abholen.
Pfetzner war Jurist im dritten Semester und hatte es auf dem Mensurboden schon zu einer kleinen Berühmtheit gebracht. Er trat jede Woche mindestens einmal auf Schläger an, selbst auch, wenn er noch die Nadeln der letzten Mensur im Schädel barg. Sein Kopf war von unzähligen Schmissen durchfurcht, und die linke Backe sah aus, als wäre dieselbe eine Stunde lang regelrecht von einem Hackemesser bearbeitet worden. Hans Pfetzner war der einzige, der Larsen in der »Hand« ablösen durfte, wenn der müde wurde oder kein Geld mehr hatte.
Hans spielte dann bis in den frühen Morgen, und da er nie gewann, mußte er stets mit leeren Taschen vom Tisch aufstehen und benutzte meist den Kutscherbock der aus Wilmersdorf nach Berlin fahrenden Gemüsewagen zur Heimfahrt nach der Matthäikirchstraße.
Diese beiden Hauptmatadore waren von einer Schar Gleichgesinnter umgeben, zu der seit Eröffnung der Sitzungen auch Martin und Eduard gehörten, die Larsens Bekanntschaft im Zoologischen Garten gemacht hatten.
Eduard setzte hier und da auch einmal ein Goldstück, um nicht als Spielverderber zu gelten.
Kam Hans Pfetzner, wenn er seinen alten Herrn gerade um einen Hunderter erleichtert hatte, oft schon in frühester Morgenstunde bei Martin am Kurfürstendamm vorgefahren, so mußte Eduard im Vierblatt (oder Mauschelspiel) den dritten Mann stellen, bis Hans endlich sein Geld an die Brüder losgeworden war und Martin ihm dann gutwillig eine Mark für die Droschke nach Hause bewilligte.
Auf sonstige größere Anleihen, die täglich an ihn aus dem Kreise herantraten, verhielt er sich abweisend und überreichte dem Darlehnssucher stereotyp eine gedruckte Karte, auf der zu lesen stand:
»100 Mark
zahle ich demjenigen, der es fertig bringt, mich mit Erfolg anzupumpen.
Martin Sylvester Weitbrecht.«
Wie jeder der Spieler, hatte auch Martin seinen Spitznamen.
Man nannte ihn »Granit mit Eisen«. Ein stolzer Ruhmestitel, den er seiner unglaublichen Energie und der Art seines Spiels verdankte. Er pointierte nie waghalsig und ließ sich auch im höchsten Gewinn nie von der Leidenschaft fortreißen, sondern blieb stets ruhig und besonnen.
So beherrschte er das Spiel und gewann sowohl im »Mauschel« wie auch im »Back« fast immer mit geringen Ausnahmen.
Heute herrschte in Würstlings Café eine große Aufregung. Pfetzner hatte nachmittags bereits seine ganze Barschaft verloren und begrüßte alle Gäste mit dem komischen Stabreim: »Knappe Könne, knausriger Knabe!«
Larsen lief wie ein Elefant mit seinen tapsigen Füßen durch die Menge und schrie Würstling, der die Herren immer wieder zum endlichen Beginn des Spiels ermunterte, mit Emphase an; wegen der Geschwindigkeit seiner Sprechweise verstand ihn aber nur sein Leibfuchs.
»Mein Mumm ist heute Schnase! Bevor Schnase kommt, kein Pfeng. – Setze kein Pfeng – bevor Schnase kommt, kein Cent!«
Dieser Schnase war ein Zeitungshändler, der wochentags bis um halb eins auf der Friedrichstraße Journale und Zeitungen feilbot.
Es genügte, daß Schnase sich bei einigen Messerstechereien ein akademisches Gepräge erworben hatte, um von Larsen zunächst als gleichberechtigtes Element in den Kreis eingeführt zu werden. Der Mann aber litt an einer lächerlichen Schwäche! Mit gebildeten Menschen wollte er durchaus verkehren! Man amüsierte sich zuerst immer sehr über diesen Sonderling aus dem Volke. Nachdem man später sein Gewerbe durch irgendeinen Zufall erfahren hatte – duldete ihn der Kreis deshalb auch weiter ganz gern als Kuriosität bei den Spielabenden.
Mit einer aufopfernden Bereitwilligkeit verlor Schnase alltäglich denn auch seinen ganzen Tagesverdienst. Es kam oft genug vor, daß die Gewinner beim Auseinandergehen für ihn sammelten, da er manchmal auch noch die ihm von seiner Firma zum Zeitungseinkauf anvertraute Summe im »Back« verloren hatte.
Man hatte schließlich sogar als besseren Ulk seinen Namen als Eintrittsparole durch die Hintertür festgesetzt, eine Auszeichnung, auf die Schnase entsetzlich stolz war!
Nachdem heute also auch »Granit mit Eisen« nach Verlauf einer halben Stunde endlich mit seinem Bruder eingetroffen war, nahm Würstling am Kopfende des Billards Platz, legte eine Handvoll Gold- und Silberstücke vor sich hin, schichtete einen Haufen Papiergeld daneben auf und erklärte das Spiel für eröffnet.
Hans Pfetzner, der immer noch über seine »knappe Könne« lamentierte, beruhigte sich erst, als Würstling ihm großmütig drei »Blaue« vorstreckte.
Er ließ das Papiergeld zunächst »zerschlagen«, was aus dem Spielerjargon mit »klein wechseln« übersetzt werden muß. Erst jetzt war Hans Pfetzner in seinem Element!
Martin warf nämlich das erste Pfund auf den grünen Tisch, und alle Mitspieler mit wenigen Ausnahmen folgten seinem Beispiel und setzten auf seine Seite.
Pfetzner hielt – vom Wirte »etabliert« – heute ausnahmsweise von Anfang an die »Hand«.
Martin gewann im ersten Spiel, und Würstling legte ein Goldstück auf seinen Einsatz, den Martin – ohne eine Miene zu verziehen – stehen ließ. Nachdem sein Einlagekapital sich vervierfacht hatte, zog er das Geld zurück, da achtzig Mark als höchster Einsatz (Limmit) vereinbart war!
Dann pointierte er einige Spiele gar nicht, bis er die neue Gelegenheit für geboten hielt und wieder ein Pfund einbrachte. Dieses Spiel hatte sich eben dreimal wiederholt, als plötzlich ein starkes Pochen an der Hintertür die Spieler aufhorchen ließ.
»Das ist endlich Schnase! Mein Mumm! Jetzt werde ich ›Hand‹ übernehmen können!!! Frau Würstling, so öffnen Sie doch!« – – – Larsen, der bisher sorgenvoll und nachdenklich neben Hans Pfetzner stand, hastete es ganz aufgeregt der Frau ins Gesicht. Dann war es wieder still geworden; eine große Stille teilte sich auch allen Anwesenden mit, als die Frau sich unbewußt-zaghaft zum Öffnen anschickte.
Da – abermals lautes Pochen, dazu ertönt eine markige Männerstimme:
»Im Namen des Königs! Sofort öffnen!«
Auf einen spontanen Ruck verschwanden Karten und Geld blitzhaft vom Billard. Martin warf schnell drei Bälle auf das grüne Tuch und nahm ein Queue zur Hand, während Pfetzner gleichfalls eins ergriffen hatte, um die Partie mit ihm zu improvisieren.
Ein Teil der Gäste flutete in den Vorraum und setzte sich harmlos an die Tische, während der Rest – sichtlich interessiert – Martins Billardspiel verfolgte.
Noch war Frau Würstling nicht an der Hintertür angelangt, als plötzlich ein dumpfer Krach erfolgte und kurz darauf ein Kriminalkommissar mit noch zwei weiteren uniformierten Wächtern der heiligen Hermandad auf der Bildfläche erschien.
»Guten Abend, meine Herren, ich bitte um Ihre Legitimationen,« sagte verbindlich und doch energisch einer der ungebetenen Gäste.
Die meisten Anwesenden zogen ihre Brieftaschen und übergaben dem Kommissar ihre Studentenkarten, die dieser nach erfolgter Abschrift der Namen und Nummern in sein Notizbuch den Eigentümern zurückreichte, während die beiden Schutzleute die Ausgangstüren besetzt hielten.
Würstling tobte und erging sich in den schmeichelhaftesten Bemerkungen über die plötzlich aufgetauchten Ruhestörer, da ihm doch nichts nachgewiesen werden könne.
Einige Herren, die keine genügenden Ausweispapiere bei sich hatten, wurden auf das Polizeirevier mitgenommen. Herrn und Frau Würstling brachten mehrere noch von draußen hereinzitierte Schutzleute in den vor dem Eingang wartenden grünen Wagen.
Dann neigte der Kriminalkommissar verbindlich das Haupt mit den Worten: »Ich bitte Sie, meine Herren, das Café augenblicklich verlassen zu wollen!« Das war hart, aber es mußte sein.
Nachdem alle das Lokal geräumt hatten, versäumte der Herr Kommissar es nicht, noch durch einen Schutzmann den Lichtstrom ausschalten zu lassen, ordnete die sonst erforderlichen Maßnahmen an und ging nach Haus.
Als nach einer halben Stunde Emil Schnase zu langersehntem Genuß seiner Erholungsstunden eintraf, fand er beide Eingangstüren gesperrt.
Über den Verschluß des Haupteinganges waren vier große Siegel gelegt, die ein Plakat an dem Holzrahmen der Tür befestigt hielten, auf welchem er in dem grellen Schein der an der Ecke stehenden Gaslaterne zwei Worte erkennen konnte:
» Polizeilich geschlossen!«