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Trostlose Trübe lag über Martin Weitbrechts Tagen. Seit fünf Monaten stand er beim Regiment in Finsterburg.
Das Fähnrichexamen hatte er durch einen glücklichen Zufall im zweiten Anlauf bestanden. Milde kameradschaftliche Nachsicht der Prüfungskommissare gegen den Major waren bei dem Beschluß der Kommission wohl stärker ins Gewicht gefallen, als seines Sohnes Wissen und Verständnis für die wirklich lächerlich geringen Anforderungen dieser Prüfung, deren Bestehen Martin mit sogenannten »Gnadenpunkten« in eine höhere Bildungsstufe beförderte.
Dann hieß es rasch Abschied nehmen von seinem schönen Berlin – –, von Berlins schönsten Töchtern.
Denn spätestens achtundvierzig Stunden nach erfolgreicher Prüfung hatte er sich beim Regimentskommandeur zu melden.
In den letzten zwei Monaten war Hanni ihm eine treue Freundin gewesen.
Er dachte deshalb auch viel und gern an das Mädel!
Als sie sich ihm in jener Nacht mit vollem Bewußtsein und in stolzer Freiheit geschenkt hatte, war sie nicht mehr mutig genug, den Eltern nochmals gegenüberzutreten.
Vom Vater, dem sie tags darauf ihre »Verfehlung« frei und offen geschildert hatte, erhielt sie als Antwort den Fluch der Eltern!
Die Mutter hatte sie zwar heimlich aufgesucht in dem kleinen Hinterzimmer der Pension, das Martin für sie in der Linkstraße gemietet hatte.
Aber Hanni war fest geblieben. – Wie der Vater schrieb, bereitete sie den Ihren Schande und Schimpf! Nun wollte sie auch in vollem Umfange dafür einstehen – – – für sich allein sein!
Der Freund sollte ihr ja alles – alles ersetzen.
In ihrem gemütlichen Stübchen hatten sie ihre freien Nachmittage verplaudert.
Oft auch war sie ihm bei der Arbeit fürs Examen zur Hand gegangen, hatte versucht, ihn im Englischen und Französischen nach Kräften zu fördern.
Albert hatte sie seit jenem Abend nicht mehr wiedergesehen.
Beiläufig hatte sie nur einmal im Geschäft erfahren, daß ihn ein starkes Nervenfieber heimsuchte. Nach der vollständigen Wiederherstellung war er auf eigenen Wunsch nach einer an der nördlichen Peripherie Berlins belegenen Depositenkasse der Bank als erster Buchhalter versetzt worden!
Das tägliche Zusammensein mit Martin, der sie stets um drei Uhr vom Geschäft abholte, hatte nur immer alle zwei Wochen eine kurze Unterbrechung erlitten.
Plötzlich blieb er ihr grundlos zwei bis drei Tage fern, um dann aber wieder reumütig zu ihr zurückzukehren.
Das erste Mal hatte sie sein unerklärliches Ausbleiben entsetzlich geschmerzt – – mit der Zeit aber hatte sie sich drein ergeben, da sie es ja nun schon wußte, daß der Abtrünnige doch immer wiederkommen würde.
Dem zweisam verlebten Christfest war dann das Examen in Kürze gefolgt.
Hanni hatte von früh bis spät in den kritischen Tagen für ihn gebetet. Und das kurze Glück des so inbrünstig erflehten Erfolges brachte dann aber auch schrill den jähen Abschied.
Es waren seitdem schon fünf Monde ins Land gegangen. Martin hatte ihr erst täglich geschrieben, dann aber hatte ihn der königliche Dienst dermaßen in Anspruch genommen und ermüdet, daß er beim besten Willen nicht zum Schreiben kam.
Hanni aber hatte ihm in ihrem Herzen einen Altar errichtet – –! In den besinnungsraubenden Anforderungen, die der Kommiß mit den ersten vierzehn Wochen an ihn stellte, war Martin bald mürbe geworden.
Griffeklopfen, Instruktionsstunden, Marschier- und Schießübungen, Postenstehen und Appelle füllten nun sein junges Leben aus.
Nur zu bald hatte er es denn auch begriffen, daß der königliche Dienst jede Persönlichkeit in der Front vollkommen ausschalte – daß der ununterbrochene Drill jeden Menschen unbeugsam zur willenlosen Maschine herabwürdigte.
Seine Rekrutenausbildung, die zumeist durch den Feldwebel und zwei Unteroffiziere erfolgte, gestaltete sich für ihn zu einem vermeintlichen Martyrium. Daß jemand, der vielleicht früher Pferdeknecht oder gar noch etwas Schlimmeres gewesen sein mochte, es wagte, ihn, den Sohn des schlachtberühmten Majors, ihn, den zukünftigen Vorgesetzten, nach seinen ihm ausgezeichnet dünkenden Leistungen nicht etwa nur ekstatisch zu loben, sondern sogar bei den einzelnen Übungen durch unzähliges Wiederholenlassen bis aufs Äußerste zu zwiebeln, konnte ihn innerlich der Raserei nahe bringen!
Soviel Manneszucht war ihm aber bereits in den ersten Tagen in die Knochen diszipliniert worden, daß er nichts von dem zu äußern wagte, was ihn manchmal fast zur Verzweiflung reizte.
Der Drill! Der hatte ihn bezwungen!
Still für sich nährte er einen heißen Haß und freute sich nur auf die Rache, die er nach einem Jahre an seinen Peinigern üben wollte.
Als dieser Gedanke einmal beim Üben der Kniebeuge wild in seinen Augen aufblitzte, sagte sein geschworener Feind, der Feldwebel Hofmann, den er durch seinen Dünkel und sein gespreiztes hochmütiges Wesen wohl vor den Kopf gestoßen hatte, ganz beiläufig, nur um ihm dadurch seine Ohnmacht noch besser vor Augen zu führen:
»Musketier Weitbrecht, rollen Sie nicht so mit den Augen – – es hat wirklich keinen Zweck! Sie sind jetzt – wie alle andern – nur Soldat! Verstanden? Nichts mehr und nichts weniger, als ein zwei Jahre dienender Muschkote!!«
Und ein zweites Mal, als er beim Parademarsch die Beine nicht schön genug geworfen hatte, nahm ihn der Feldwebel sich beiseite und befahl ihm, den Paradeschritt eine halbe Stunde lang ganz allein zu üben.
Durch dieses Nachexerzieren mürrisch geworden, ließ Martin ungewollt seinen glühenden Haß auf diesen »Pachulken«, wie er ihn heimlich nannte, wieder in die Pupille treten.
Trotzdem er nicht im väterlichen Bataillon stand, weil der Major auch jeden Schein einer Protektion vermeiden wollte, hatte nämlich der Feldwebel als direkter Vorgesetzter Martins vom Vater den ausdrücklichen Befehl erhalten, seinen »Herrn Sohn gehörig ranzuholen«.
Auf diesen Befehl gestützt, brüllte ihn der Feldwebel nun erst recht an: »Kerrrrrl, wenn Sie dat Augenrollen nich lassen – Kerrrrrl, ich bringe Sie auf Festung un lasse Sie karrrren!«
»Zu Befehl! Herr Feldwebel« wagte Martin nur geduckt zu antworten. Aber die heiße Sehnsucht nach einer späten Rache verzehrte ihn.
Die Instruktionsstunden und der Offiziersunterricht wurden den Fähnrichen durch ältere Leutnants erteilt, und sie wenigstens waren Martin Stätten der Erholung. Einmal hatte er es versucht, das ihm vom Feldwebel seiner Ansicht nach zugefügte Unrecht dem ihm befreundeten Instruktionsoffizier, einem Oberleutnant, zu klagen.
Aber der wollte sich nicht den Mund verbrennen und hatte ihn sofort in seine Bahn zurückgewiesen:
»Lieber Fähnrich, – das ist das erste Gebot der Disziplin! Wer befehlen will, muß erst gehorchen lernen!!! Das hab'n wir alle mal ausgekostet, und wahrhaftigen Gott, – es hat uns nischt geschadet!«
Da war Martin wieder verstummt, und wie ein Stacheligel rollte er sein Gefühlsleben ganz in sich zusammen.
Er haßte die Männer alle – jetzt fand er auch die Erklärung dafür, was er bis dahin nie an sich begriffen hatte: noch niemals im Leben hatte er einen Freund besessen!
Männer waren ihm ja ganz willkommen gewesen zur Erheiterung einer langweiligen Stunde oder zur gemütlichen Kneiperei in großem Kreise. Nie aber hatte er einem Manne seine Seele aufgetan.
Dazu brauchte er die Frau.
Nur Eduard machte in dieser Hinsicht noch eine Ausnahme. Den Bruder hatte er wirklich – so weit ihm das überhaupt möglich war – ganz gern!
Jetzt sah er ihn nur sehr selten, da er am Tage im Dienst war, in der Kaserne wohnte und die Mahlzeiten selbstverständlich im Offizierskasino einnehmen mußte.
Der Beförderung zum Gefreiten folgte nach kurzer Frist seine Ernennung zum überzähligen Unteroffizier.
Nun hatte er wenigstens wieder etwas Zeit zu freiem Denken, zu längeren Briefen an Hanni, die sein Herz besonders aus dem Grunde bevorzugte, daß sie sich erst für ihn aufgespart, sich dann ihm aber in schrankenloser Hingabe geopfert hatte. Daß er wirklich ihr erster Geliebter gewesen war, hatte sein Empfinden für sie – wie er sich einredete – geheiligt, und die in dieser Zeit immer stärker zehrende Sehnsucht nach dem reinen Mädchen ließ sein schon ganz verdorbenes Gefühlsleben wieder etwas gesunden. Die stete Erinnerung an das mit ihr genossene Glück gewährte ihm eine Zufluchtstätte in seiner Verlassenheit.
In einem langen Briefe schrieb er ihr, wie ihm ums Herz war. Wie er sich auf die Kriegsschule freue, zu der er nach neunmonatlichem Dienst kommandiert werden würde! Er bat sie, wieder für ihn zu beten, daß er nach Potsdam – nicht etwa nach Hannover oder, noch schlimmer gar, nach Neiße befohlen würde.
Die Antwort kam bald und traf ihn hart.
Sie schrieb ihm mit zitternder Seele, daß sie sich Mutter fühle und daß sie nun endlich glücklich geworden sei durch ihn. Wie herzlich sie sich auf das Kind, sein Kind freue und nun erst wisse, wozu sie auf der Welt sei. Zum Schluß fügte sie noch die Bitte hinzu, für die kommende schwere Zeit durch Zuschüsse ihre Geldmittel ein wenig zu vergrößern, da ihre Ersparnisse für die großen Ausgaben wohl nicht ganz reichen dürften.
Zuerst war Martin tief gerührt, bald aber verdrängte seine Eigenliebe das Madonnenbild Hannis mehr und mehr aus seinem Herzen.
Hauptsächlich berührte ihn der Gedanke peinlich, vielleicht einmal später durch die Existenz eines Kindes zu irgendwelchen Verpflichtungen moralischer Natur herangezogen werden zu können; dagegen aber bäumte sich sein allem äußeren Drill zum Trotz doch immer noch ungezügelter Wille auf.
Rastlos spintisierte er dann hin und her und dachte sich immer mehr in einen Ärger hinein! Mit ihrem lächerlich-blödsinnigen Mutterwillen wolle sie ihm – so dachte er sich – ganz absichtlich nur Ungelegenheiten bereiten.
Eine eigenartige Reaktion trat nun in allem noch kurz vorher für das Mädchen Gefühlten bei Martin ein.
Vergessen hatte er plötzlich, daß er im Gedanken an sie sich über manche schwere Stunde des Dienstes und manche schwere innere Zerfallenheit hatte hinweghelfen können.
Verflogen war ebenso schnell auch das, was er als Liebe für sie empfunden, sich suggeriert hatte.
Vor allem! Er duldete nicht die geringste Störung seiner Ruhe – –! »Seelisches Gleichgewicht behalten« nannte er das! Was aber dabei etwa jeden anderen bewegen konnte, war ihm höchst gleichgültig.
Hätte jemand es gewagt, ihm irgendeinen Vorwurf in seinem Verhalten dem betroffenen Mitmenschen gegenüber zu machen, lachend hätte er solche Vorhaltungen als überhaupt für sich nicht in Betracht fallend zurückgewiesen.
Er schrieb ihr deshalb recht kühl, daß er entsetzt über ihre Zukunftsträumereien sei und ihr nur gewisse Ratschläge geben könne, die sie möglichst schleunig zur Ausführung bringen müsse und möge.
Im übrigen beunruhige es ihn sehr, daß er nach so langer Frist nicht feststellen könne, ob er auch wirklich der natürliche Vater sei.
Zum mindesten hätte sie sich unqualifizierbar benommen!! Immerhin lege er vorläufig jedenfalls einen Hundertmarkschein zur Verwirklichung der erteilten »Informationen« bei.
Eine Antwort erhielt er nicht.
Nach drei Tagen jedoch wurde ihm eine von der Pensionsinhaberin im Auftrage des Fräulein Maaß abgesandte Postanweisung über hundert Mark auf dem Regimentsbureau ausgezahlt.