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Er sah sich dann vom Vaterhause in dem düsteren Finsterburg mit dem um drei Jahre jüngeren Eduard gemeinsam ins Gymnasium pilgern.
Eduard war begabter als er gewesen und hatte ihn, dem die Schule wenig Erfreuliches bot, bereits in der Untertertia eingeholt. Das Ebenbild der früh verstorbenen Mutter war Eduard der ausgesprochene Liebling des ewig jungen Majors Karl Weitbrecht, und Martin, der dem Vater bis aufs Haar glich, verscherzte sich bald den geringsten Rest der väterlichen Zuneigung. Teils dankte er diesen Verlust seiner grenzenlosen Faulheit und dem deshalb oft erfolgenden Tadel in der Schule, teils waren es häßliche, sich immer mehr häufende Bubenstreiche, die er im Städtchen verübte, die ihm des Vaters Liebe raubten.
Major Weitbrechts oberste Pflicht wurde es langsam, mit dem jeweiligen Ordinarius seiner Jungens ganze Nächte oft gegen seinen Geschmack durchzuzechen … Nur auf diese Weise war es noch möglich, Martins Verbleiben auf der Schule durchzusetzen. Als Gegengabe für die Auszeichnung, mit einem richtiggehenden Offizier öffentlich verkehren zu dürfen, wurde Martin natürlich durch alle Klassen mitgeschoben.
Ein starker Kastengeist beherrschte zudem dieses Nest. – Jeder Stand verkehrte ganz korrekt nur mit seinesgleichen. Die Richter schieden sich sogar streng von den Staatsanwälten. Die Infanterieoffiziere mußten es also als höchste Ehrung betrachten, wenn sich ein Artillerist oder gar ein Dragonerleutnant herabließ, auch nur kurze Zeit in der Gesellschaft eines »Fußlatschers« über die Straßen Finsterburgs zu bummeln.
Und schon war dem Major verschiedentlich vom Regimentskommandeur ganz privat ein rügender Wink erteilt worden, sich nicht ewig mit den Oberlehrern öffentlich in der kleinen Bodega am Marktplatz zu zeigen.
Karl Weitbrecht war jedoch durch Heirat einer reichen Kaufmannstochter unabhängig genug geworden, daß sogar der Eintritt einer Verabschiedung ihn nicht schrecken konnte.
Die Erziehung seiner Kinder zu brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft lag ihm vor allem am Herzen; deswegen opferte er lieber seinen Schlaf in der für ihn manchmal auch ganz genießbaren Gesellschaft der »Philister«, als daß er es mitangesehen hätte, daß sein Ältester mit Eduard nicht einmal mehr Schritt hielt.
Die Versetzung beider nach Prima stand vor der Tür, als Ferdinand Skalawski, der Pedell des Königlichen Gymnasiums, sich beim Herrn Major melden ließ, um ihm die erhebende Mitteilung zu machen, daß er in wenigen Monaten – Großvaterfreuden zu erwarten habe.
»Er und Er!« wobei er auf sich und den Herrn Major deutete und ein verschmitztes Lächeln über die sonderbare Zusammengehörigkeit, die ihm gar nicht einmal unangenehm zu sein schien, sein polnisch-stupides Gesicht belebte.
Das war ein harter Schlag für Karl Weitbrecht.
Aber als Soldat hatte er gelernt, gegebenenfalles nicht mit der Wimper zu zucken … Da außer den beiden Hauptbeteiligten Martin und Jadwiga nur ihre Väter um die Sache wußten, ging Ferdinand Skalawski mit vier Hundertmarkscheinen nach seiner im Kellergeschoß des Königlichen Gymnasiums belegenen Dienstwohnung zurück. – Am nächsten Morgen verschwand die schöne Jadwiga aus dem Weichbild Finsterburgs, um bei einer alten Tante in Königsberg Rat und Hilfe in ihrer Herzensnot zu suchen.
Martin erhielt an diesem Abend vom Vater das erstemal in seinem Leben eine Tracht Prügel mit der Reitpeitsche.
Der plötzliche Fortgang Jadwigas blieb jedoch der gleichfalls im Schulgebäude wohnenden Familie des Direktors auf die Dauer nicht unbekannt. Man hatte Martin oft in später Stunde in ihrer Gesellschaft gesehen. Die Dienstboten klatschten, die Frau Direktor witterte, der Pedell gestand trotz der erhaltenen Schweigegelder.
In einer privaten Auseinandersetzung drohte der Direktor als sittenstrenger Schulmann dem um die Zukunft seines Jungen zitternden Vater mit der augenblicklichen Entlassung seines unverbesserlichen Sohnes wegen »moralischer Unreife«! Er ließ sich aber durch die herzlichen Bitten des alten Herrn schließlich für einen letzten Kompromiß umstimmen: gegen Abmeldung dieses »verderbenbringenden Zöglings« für den Ostertermin wurde derselbe mit der Reife für die Unterprima entlassen.
Den Bekannten gegenüber griff man etwa zu dieser Ausrede: Um zu verhindern, daß der ältere Bruder vom jüngeren überflügelt werde, käme der ohnehin für den Militärberuf bestimmte Martin, nachdem er glücklich die Absolvierung der Obersekunda zuwege gebracht habe, auf die Fähnrichspresse nach Berlin.
Eduard hatte vor dem großen Bruder, trotzdem dieser ihm geistig unterlegen war, von jeher einen riesigen Respekt.
Martin war sehr schön! – Er hatte den stolzen Wuchs, die energischen Züge des Vaters, was zur Folge hatte, daß alle höheren und niederen Töchter Finsterburgs in ihn »verknallt« waren und ihm »nachliefen«, wenn er mit gleichalterigen Gesinnungsgenossen nachmittags auf der Friedrichstraße zum »Karreelaufen« erschien. Das »Karree« bildeten die drei Hauptstraßen und eine Breitseite des Finsterburger Marktplatzes, und hier spiegelte sich täglich in immer gleichem Bilde das mondäne Leben dieser kleinen Garnisonstadt.
Martin war schon durch die Stellung des Vaters, wie auch durch sein vorgerücktes Alter mit den jüngeren Leutnants des väterlichen Regiments befreundet. Der Neunzehnjährige wurde von ihnen schon als Kamerad geschätzt, und wie die Seligkeit empfand er es, daß er endlich die »elende Penne« verlassen durfte, um sich nach kurzer Einpaukerei auf der Berliner Presse dem Fähnrichsexamen zu unterziehen und dann stolz als Fahnenjunker in Finsterburg das »blöde Zivil« mit dem heißbegehrten bunten Rock vertauschen zu dürfen.
Nachdem er sein Abgangszeugnis in der Tasche hatte, ließ ihm aber eitle Renommiersucht nicht eher Ruhe, als bis er von seiner lichtscheuen Affäre mit Jadwiga ein offeneres Geheimnis gemacht hatte. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten.
Eduards Respekt vor dem angebeteten Bruder stieg ins Unermeßliche. Er wußte ja, wie alle anderen Mitschüler, um die platonischen Liebeserfolge Martins, aber »so etwas« hatte er ihm doch nicht zugetraut.
Auch in dem Frühreifen machten sich schon alle sinnlichen Begierden geltend, und immer wieder malte seine rege Phantasie ihm das Bild des Bruders in den Armen der schönen Pedelltochter aus.
Tiefe Trauer im Herzen, gab er dem begeistert Verehrten gleich nach den Osterfeiertagen das Geleit an den Bahnhof. Der Vater war grollend zu Haus geblieben, und als der D-Zug jetzt in die Halle brauste und Martin mit einem flüchtigen Kuß von dem Bruder Abschied nahm, um behenden Fußes den Berliner Wagen zu besteigen, da empfand Eduard ein Gefühl der Leere, ein so schmerzhaftes Gefühl, als sei ihm das Liebste auf der Welt geraubt worden.