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I.

»Hu! hu! hu!« klang es aus dem Kinderknäuel, in dessen Mitte zwei blonde Büblein ringend am Boden lagen.

Die Septima des Finsterburger Gymnasiums hatte ihren Turnunterricht, der für die kleinen Vorschüler mit Spiel und Spott gleichbedeutend war.

Dr. Baltzer, einer von den schneidigen Oberlehrern, gab von der niedrigsten bis hinauf zur höchsten Klasse des Königlichen Gymnasiums die Turnstunde und pflegte sie stets in solcher Vereinigung abzuhalten, daß zu gleicher Zeit eine Klasse Großer in der Halle an den Geräten ihre Übungen vollzog, während um die nämliche Stunde die Kleinen sich draußen auf dem Schulhofe tummeln und austoben mochten.

Daß er natürlich immer nur eine seiner Horden beaufsichtigen konnte, ergibt sich als selbstverständlich, und so schälte sich bei den Knaben bald der bleibende Brauch heraus, in Abwesenheit des Paukers nur Allotria zu treiben.

»Hu! hu! hu! der Weitbrecht liegt unten!« johlten die kleinen Septimaner jetzt aus vollem Halse, und der etwas schwächliche Vorschüler Eduard Weitbrecht gab sich unter Aufwendung seiner letzten Kräfte die erdenklichste Mühe, seinen schmächtigen kleinen Kinderkörper unter dem über ihm liegenden Dickwanst des entschieden stärkeren, recht robusten Richard Hegner vielleicht doch noch hervorzustoßen.

Seine verängsteten rehbraunen Augen suchten und sehnten einen Erlöser!

Gerade wollte der Sieger sieh aufrichten, um zum Abschluß des Ringkampfes noch seinen Fuß auf die Brust des Besiegten zu setzen, als plötzlich im schnellen Lauf ein bildhübscher großer Bengel sich von der Turnhalle her unter die Kleinen mischte.

Mit einem kräftigen Schubs teilte er den Kreis, der die beiden ringenden Knirpse umstand. Und wie ein Retter erschien sein rabenschwarzer Trotzkopf, seine wutsprühenden tiefschwarzen Augen dem sich am Boden windenden schier verzweifelten Eduard.

Es war der Kopf des Quintaners Martin Weitbrecht, seines um weniges älteren Bruders, der wohl von der anderen Abteilung aus der Turnhalle seine Nöte mitangesehen hatte und flugs im gestreckten Galopp dem Jüngeren zu Hilfe geeilt war. Auch die dräuende Gefahr, von dem strengen Dr. Baltzer nachher gehörig dafür gerüffelt zu werden, hatte den wilden Jungen von seiner Rettungsaktion wohl nicht abzuschrecken vermocht.

Martin faßte den Angreifer seines kleinen Bruders mit einem kecken Griff, riß ihn unter dem Hallo der ganzen Septima von seinem Opfer hoch, drückte ihn dann mit einem starken Schlußruck auf den Rasen und setzte ihm zum Zeichen des Sieges den Fuß auf den Nacken.

»Hurra!« riefen einige von den Jungens, während andere, wie etwa Walter Loewy, Hans Wollenberg und Kurt Liebert, sich gegen diesen Eingriff des großen, gar nicht zu ihnen gehörigen Quintaners mit Mißbilligung äußerten.

»Soone Gemeinheit, sich da reinzumischen! Das ist und bleibt eine kolossale Gemeinheit! Richard Hegner ist in Wirklichkeit doch der wahre Sieger. Er hatte ihn schon ganz runtergeduckt,« scholl es aus manchen Knabenkehlen dem flinken Martin entgegen.

Inzwischen erhob sich Eduard und flüchtete hinter seinen Befreier, der sich schützend vor ihn stellte und wutentflammt die ganze Septima anbrüllte:

»Wer mir ihn nochmals anfaßt, dem geht es ebenso wie Richard Hegner! Oder vielleicht noch 'ne ganze Tour schlimmer!«

Durch seinen Lärm angelockt, trat die überragende Figur des Oberlehrers Baltzer jetzt aus der Turnhalle heraus und schritt stracks auf die Gruppe zu.

»Diese niederträchtigen Bengels,« ärgerte er sich still und beeilte sich etwas, um eine strenge Musterung unter ihnen zu halten.

Groß und schlank gewachsen, durchmaß er in schnellem Laufschritt den Spielplatz, um hier und dort nach dem Rechten zu sehen.

Sein braungebranntes Gesicht umrahmte rötliches, militärisch kurz geschnittenes Haar, während ein strammer Schnurrbart unter der kräftigen Nase emporschoß. Sein hellblaues Augenpaar wurde von einem schwarzumrandeten Kneifer gegen die Sonnenstrahlen geschützt.

»Oi woi! Da Paukehr kommt! Da iß er schon!« gröhlte es aus dem Septimanergewimmel. Und schnell stellten sie sich in Reih und Glied auf, so daß Martin dadurch ausgesondert wurde und jetzt ganz isoliert dastand.

»Natürlich, der Weitbrecht! Immer wieder der Weitbrecht!« herrschte er Martin an. »Wie kommst du Lümmel dazu, dich aus der Halle ohne Erlaubnis zu entfernen?«

Aber Martin wußte, daß ihn der Oberlehrer recht gern hatte. Und weiter wußte er, daß ihm der Fluchtversuch doch nichts Schlimmeres als höchstens eine Stunde Arrest eintragen konnte. So sagte er nur:

»Herr Doktor, ich mußte meinen kleinen Bruder vor der Schande schützen, von Richard Hegner vor der ganzen Klasse besiegt zu werden!«

»So, so!« schmunzelte Herr Doktor Baltzer und brach bald darauf in ein gehöriges Lachen aus.

Unter dem Vater dieser beiden Bengel, dem Hauptmann Weitbrecht, hatte er selbst vor sechs Jahren als Einjähriger beim Finsterburger Regiment gestanden.

Unvergeßlich war ihm dies eine Jahr als fast schönste Erinnerung an seine Jugend geblieben, und ganz unbewußt übertrug sich das vom Vater der Jungen ihm damals stets entgegengebrachte Wohlwollen auch immer auf beide Brüder.

Und Herr Doktor Baltzer machte Martin die Freude, ihm als Strafe für seine Entfernung von der Riege zwanzig Klimmzüge aufzulasten, deren Vorführung erst nach der Turnstunde von ihm verlangt wurde.

Damit war für beide Teile der Fall erledigt.

Nur behielt es sich der gestrenge Oberlehrer vor, die ganze Geschichte bei nächster Gelegenheit dem alten Herrn der Jungens im Offizierkasino zum besten zu geben, wo er als Sommerleutnant des Regiments noch dann und wann Zutritt hatte.


Für den kleinen Eduard wurde Martin seit dieser Stunde so etwas Ähnliches wie ein Halbgott.

Aber auch Martin dachte in seinen späteren Jahren noch oft an diese Tage der Kindheit zurück, an diese Tage, die sein Leben so innig mit dem des jungen Bruders verknüpfen sollten.

O wie sehr eilte sie, wie schnell verflog sie, die glückliche, sorglose Knabenzeit!


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