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XXI.

Als Eduard vom Bahnhof aus nach der weitgelegenen Kurstadt ausschritt, belegte sich der Himmel bereits mit einer fahlen Dunkelheit. Und ganz unwillkürlich erfaßte den von der Bahnfahrt etwas steif gewordenen Spaziergänger in diesem sich langsam durchsetzenden Dämmerlichte ein bestimmtes Gefühl, auf historischem Boden zu wandeln.

Er reckte sich behaglich, dehnte alle Glieder und schritt wacker aus.

Vom modernen Karlsbad, seinen großen Hotels und weltberühmten Prachtbauten war da nichts zu sehn. Verwundert ging Eduard zwischen alten, grauen, langweilig würdevollen Häuschen dahin, die in ihrer spukhaften Beleuchtung wie aus früheren Jahrhunderten zu ihm herüberzugrüßen schienen.

Fremd und seltsam fühlte er sich mit seiner modernen Gewandung in diesem den Ahnen sicher doch wohl eigen gewesenen Milieu.

Er beeilte sich deshalb, das alte Karlsbad, seiner Meinung nach das Bad von achtzehnhundert und der Biedermeierzeit, zu durchmessen, ohne zu wissen, daß er durch die Vorstadt Vischar schritt. Das bestimmte Empfinden wurde in ihm wach, daß im nächsten Augenblick aus einer dieser gewundenen Gassen ein Kavalier im braunen Gehrock mit dem Spitzenjabot, die reifröckige Gattin an der Hand, ihm entgegentreten müsse.

An die längstvergessenen Romane Lafontaines knüpfte sein Gehirn zweifellos an, durch die er zuerst über den Weltruhm des Karlsbader Sprudels, über die elegante Geselligkeit der Urgroßväter und Großväter in diesem Bade der Bäder unterrichtet worden war.

Endlos schien ihm der etwas abschüssige Weg! Talwärts zog er sich jetzt herab, und mit einer Wendung nach rechts verließ er die Vorstadt und sah endlich den neuen modernen Kurort in grellem Bogenlichte der eben aufblitzenden Lampen vor sich liegen.

Über die »alte Wiese«, auf der sich Hunderte von Menschen tummelten, ging Eduard jetzt etwas schneller, schob sich durch die müßig herumstehenden Knäuel hindurch, aus denen er fast alle Sprachen der lebenden Menschheit vernehmen konnte.

Er fragte nach dem Hotel Pupp, das ihm bereitwilligst von einem spleenigen Engländer gezeigt wurde, nachdem er sich erst in Albions Muttersprache mit ihm verständigt hatte.

Bald stand er im Zimmer des Onkels.

»Nanu – Onkel! Bist Du nicht im Bette?« war seine erstaunte Frage, als er den Alten ganz gemütlich im Lehnstuhl sitzen sah.

»Nein, heute nicht mehr! Zwei Tage lag ich nur! Mein trautestes Jungchen! Ich wollte all bloß die Probe aufs Exampel machen, ob dieser Schweinhund von einem Martin auch zu mir kommen würde, wenn's mal mit mir zu End' gehn sollte.«

»Aber Onkel, was machst Du für Scherze? So bist Du gar nicht ernstlich krank?«

»Ih Gott bewahre! Aber laß Dich ansehn, mein trautstes Jungchen!«

Eduard setzte sich nahe an den Lehnstuhl des Alten. Und schmeichelnd legte der seine schwere Hand auf Eduards volles Haar und ließ sie liebevoll über seinen Kopf und Rücken gleiten. Das sonst peinlich glattrasierte Gesicht des Alten war heute mit weißen Stoppeln übersät, aus dem nur zwei flackernde stiere Kalbsaugen glotzten.

»Ich hatte nämlich Gewissensbisse, mein Jungchen!«

Eduard sah den Onkel fragend an.

»Weshalb das, Onkel Aloys? Und länger gelegen hast Du doch wohl,« meinte er, auf das unrasierte Gesicht weisend.

»Das will ich Dir allens haarklein auseinandersetzen. Ich lag – wie gesagt – ganze zwei Tage. Aber es war nicht weiter schlimm! Bevor ich diesmal von Keenigsbarch herfuhr, – wollte ich – – endlich doch auch mein Testament machen und ließ mir den Notar kommen, meinen alten Freund, den Justizrat Honig. Das wollt ich all lange tun! Damit muß sich jeder doch einmal befassen!«

»Aber wer wird denn immer ans Sterben denken?«

»Ich tu's immer! Ich bin all gut vorbereitet. Und ins neunundsiebzigste geht's nu bald mit mir!« meinte der Alte schmunzelnd, »da muß man schon mal dran glauben. Ans Sterben, mein ich. Und da Dein Bruder Martin sich mir stets als Riesenschweinhund gezeicht hat – – da hab ich mich 'n bisseken revanchiert und habe mein ganzes Hab und Gut nur bloß einem einzigen verschrieben.« Der Alte lachte. Seine gelb gefärbten Augen traten dabei wieder mehr aus den Höhlen, und der sieche Körper schüttelte sich, daß Eduard angst und bange wurde.

Langsam beruhigte er sich und sagte noch:

»Na siehst Du! Onkel Mettschieß hat nur seine Probe gemacht, und ganz gut war das, ganz glänzend! Wen denkst Du denn, Eduardchen, wen ich zu meinem Totalerben gemacht hab? Denn einer muß es doch wohl werden!«

Eduard wurde es peinlich, eine Antwort zu finden. Und der Alte schlug sich mit der hohlen Hand klatschend aufs Knie und lachte wieder hämisch und hell heraus.

»Na, trautstes Jungchen! Genier Dich man jo nich, Du wirst es schon gebrauchen können, wenn ich mal nicht mehr bin! Aber laß doch das,« wehrte er ab, als Eduard seine Hand küssen wollte.

»Und nun bleibste ein paar Tage hier beim Onkel! Ein Zimmer ist neben meinem für Dich reserviert! Jetzt muß ich zu Bett. Hier steht man um vier Uhr, wenn die Hähne krähen, schon auf, mein liebstes, gutes, bastes Jungchen! – – Also leg Dich auch bald in die Babah! Jut Nacht. Jute Ruh in Karlsbad!«

»Gute Nacht! Auf gesundes Wiedersehn, Onkel!«

Damit war Eduard entlassen.


Wenn sonst der vernünftige Normalmensch sich beglückt erst nochmals auf die andere Seite dreht, zu wirklich »nachtschlafender Zeit« klopfte um halb vier der Onkel am nächsten Morgen bereits an seine Tür.

»Herein!« murmelte Eduard fast noch im Halbschlaf.

Auf ein zweites Klopfen, das der Onkel mit einem lustigen »Im Namen des Königs! Aufmachen« begleitete, sprang er dann mit einem Satze aus den Federn.

Im schnellen Tempo wusch er sich, und rasch kleidete er sich an – um nach kurzer Frist dem riesig rüstigen alten Herrn als Morgengruß die Hand zu schütteln.

Der Onkel war vollkommen zum Fortgang angezogen, hatte sich sogar auch schon rasieren lassen, was ihn erheblich jünger aussehen ließ.

Eduard bestaunte das frühe Aufstehen der Karlsbader Barbiere.

Aber da lächelte der Alte nur.

»Na komm mal mit zum Mühlbrunnen! Da wirst Dich erst recht einmal verwundern können! Da kannst Du was erleben!«

Und sie schritten beide über die bequeme Hoteltreppe durch das Vestibül auf die Straße.

Hier zeigte sich Eduard das gleiche Bild wie gestern abend bei seiner Ankunft! Schon wieder dies schwarze Menschengewimmel. Alle mit Glasbechern bewaffnet, eilten sie zu der wenige Minuten entfernten Brunnenkolonnade, tummelten sich, um den Vordermann noch überholen zu können.

Einen vergnügten Eindruck machten sie ihm gerade nicht, diese Leber- und Gallenkranken. Und Eduard fiel bei der Mehrzahl der ihm Begegnenden das Mißmutige in ihren Gesichtern im Gegensatze zu dem des stets lustigen Onkel Aloys auf, der launig lachend neben ihm seinen Weg machte.

»Man kann nie so früh aufstehen, daß nicht wenigstens schon zwanzig Leute vor Dir dastehen!« ärgerte er sich. »Morgen steh ich noch 'ne halbe Stund eher auf!«

Nachdem er unter Stoßen und Drängen der folgenden endlich beim Ausschänker seinen ersten Becher, »Kümmel« genannt, erobert und geleert hatte, machte er mit Eduard eine kleine Promenade durch die halb verschlafene Stadt. Bäckerbengel und Milchknaben eilten eben noch geschäftig hin und her.

Eduard gähnte unterdrückt, furchtbar überflüssig kam er sich zu so früher Morgenstunde vor.

Der Alte bemerkte sein Gähnen wohl, ohne sich davon beirren zu lassen. Er trabte sachlich wieder zum Brunnen zurück, um den zweiten – – und nach einer kleinen Weile wieder den dritten Becher zu schwingen.

Etwas ärgerlich über diese lange Prozedur begleitete ihn Eduard schweigsam. Und seine Stimmung hob sich erst wieder, als der Onkel sein Pensum anscheinend erledigt hatte.

»Nun laß uns auch etwas präpeln, mein Jungchen!« schnalzte der Alte, und Eduards erste Menschlichkeit, das Frühstück, sollte jetzt zur endlichen Erfüllung kommen.

Knurrenden Magens folgte er dem Onkel zu den »Prager Schinkenstuben« auf die alte Wiese.

Da stand auch schon Herr van Fleethen, in der einen Hand ein Karlsbader Kipferl, in der anderen ein in Pergamentpapier gehülltes Stück Schinken und winkte ihm mit vollem Munde zu.

Eduard erwiderte den Gruß. Und dabei sah er an Stelle des Alten Irenes Augen.

Seine Vision zerriß ihm aber bald der Onkel Mettschieß mit einer Aufklärung über den Karlsbader Ortsbrauch, sich den Schinken selbst nach den Frühstückslokalen mitzubringen. Und das interessierte Eduard augenblicklich gar nicht wenig!

»Die Hauptsache, daß er noch dampft!« meinte der Onkel, dessen Lebenshunger Eduard im stillen bewunderte.

Aber wenn er glaubte, daß ihm der Alte endlich nun auch zu einem Morgenimbiß verhelfen würde, so hatte er sich schwer getäuscht, denn Herr Mettschieß keifte ihn, als er von dem eben erstandenen warmen Schinken ein Scheibchen essen wollte, grimmig an:

»Dat jibt's nich, Jungchen! Gegessen wird erst im Kaiserpark!«

»Hoffentlich ist es nicht weit dahin?« fragte Eduard zaghaft.

»Na, ne jute halbe Stund! Das heißt, wenn wir jut zu Fuß sind,« gab der Alte noch immer zornig zurück.

Und so setzten sie sich, jeder mit einer roten Schinkendüte in der Hand, in Bewegung.

Ganze Kavalkaden waren ihnen schon vorausgeeilt. Und der Onkel meinte belehrend, daß hier das Frühstücksziel jedes einzelnen von seiner größeren Behendigkeit oder aber seiner ihm innewohnenden Trägheit bestimmt würde.

»Ich gehe stets in das am weitesten gelegene Frühstückslokal,« renommierte Onkel Aloys, »das heißt, wenn ich – wie heut – jut auf meinen zwei Beinchen stehe! Und dieser Morgenspaziergang richtet mich für den ganzen Tag auf. Der Stadt am nächsten liegt Schönbrunn. Das is 'ne Bagatelle. Für die Faulenzer. Dann kommt der Posthof – – schon 'ne ganz nette Leistung! In einem milden Abstand folgt der Freundschaftssaal.«

Nach einer kurzen Waldwanderung hatten beide Schönbrunn schon passiert, wo etliche Frühstücksgäste Eduards krassen Neid erregten.

Jetzt wurde der Waldweg steil. Eduard fühlte, wie er langsam ermüdete. Aber es half nichts. Der Alte neben ihm ließ ihm keine Zeit zu Betrachtungen.

Vor dem Freundschaftssaal saßen um die Tische im Garten herum wieder viele Damen und Herren beim Genießen ihres Morgenbrotes, und Eduard lachte innerlich darüber, daß jeder Gast, Männlein und Weiblein, sich mit einem Tuche, das vom Wirt dazu bereitgehalten wurde, die Schultern bedeckt hatte.

In den Kolonnaden saßen Gruppen beim Kartenspiel.

»Diese Berliner Juden können nich früh genug anfangen mit ihrem Gepoker,« erklärte der Onkel mit einem Hinweis auf die Spieltische.

In einem zähen Zielbewußtsein schritt der Onkel weiter. Und als sie endlich nach fünfundvierzig Minuten im Kaiserpark angekommen waren, wußte Eduard, daß er sich seine Erbschaft ehrlich verdient hatte.

Mit weichen Eiern, mit dem vorher so sicher behüteten Schinken versöhnte der Onkel den schon unwillig gewordenen Magen seines Neffen, der sich bald ganz heimisch fühlte und beim ersten Schluck Tee, den »Resi« (das hübsche, fesche österreichische Madel trug diesen Namen auf einem Silberschild an der Brust), eine flotte Kellnerin des Kaiserparks, kredenzte, war Eduard schon wieder ganz der Alte.

Den Rückweg legten beide in einem der feinen Gummiradier zurück, wie der Onkel die Fiaker mit dem Volksmunde bezeichnete. Und Eduard gestand es sich ganz gern, daß ihm die Rückfahrt in dem eleganten Gespann durch die herrliche Waldung und die im zartesten Rasengrün stehenden Lichtungen erheblich besser gefiel als der mühsame Morgengang auf den nüchternen Magen.

So wurde er auch wieder etwas gesprächig.

»Onkel, weißt Du das Neueste – – eigentlich habe ich eine grobe Unterlassungssünde begangen, es Dir noch nicht zu sagen. – Aber – – gestern – –«

»Na schieß man los, mein Jungchen!«

»Die Hauptneuigkeit –! Nein, daß ich vergaß – sie Dir gestern zu Gemüte zu führen.«

»Du machst mich wirklich neugierig! Schieß doch endlich los, mein Junge!«

»Erst halt Dich ganz fest am Wagensitz. Denn ich befürchte, daß Du vor Schreck herausstürzen könntest!«

»So!« krampfte der Alte seine Faust mit festem Griff in das Polster. »Nu red doch ein' Ton! Was ist los?«

»Martin ist seit vierzehn Tagen verheiratet!«

Des Alten Züge verfinsterten sich. Seine Augen quollen blöde hervor. Dann drehte er sich zu Eduard und umkrallte seinen Arm, daß es ihn schmerzte.

»Mit einem Frauenzimmer?«

Hart und herb klang die Frage. Und Eduard lachte auf.

»Ach! Onkel, wenn es das noch wäre! Viel schlimmer hat er sich herabgewürdigt.«

»Schlimmer?« keuchte der Alte heraus. »Nu will ich aber endlich wissen, was das für eine Heirat ist.«

»Martin hat eine Millionärin geheiratet, eine fast vierzigjährige Witwe mit einem Sohne, eine Frau Totzke.«

Des Alten Mienen hellten sich auf. Er ließ den Arm des Neffen fahren und faßte ihn unter.

»Von den Schöneberger Millionenbauern eine Verwandte?«

»Die Witwe des einen!«

»Dieser Schweinhund! Söh mol einer an! Nein, das hat er gar nicht schlecht gefingert. Das ist die erste vernünftige Tat, die er begehen konnte. Ich muß Dir sagen, daß mir das den Bengel wieder recht sympathisch macht. Ja! Ja! Das hat er fein gefingert!« Und weiter erging sich Herr Aloys Mettschieß in Belobigungsbeweisen, und er verstieg sich sogar zu der boshaften Bemerkung:

»Da weiß ich nicht, ob ich mein Testament nicht noch einmal ändere, wenn ich erst wieder in Keenigsbarch zurück bin.«

»Das würde ich an Deiner Stelle gewiß auch tun!« Diesen Einwand konnte sich Eduard wegen der ihn ganz eigentümlich berührenden Moral dieses Herrn Mettschieß – den er gar nicht mehr als Verwandten betrachten und achten mochte – nicht versagen.

Der aber schrie, ohne ein Ende zu finden, immer weiter:

Himmel, Herrgott, Sakra! Soviel Jald in einer Hand! Der Totzke hat über siebzehn Millionen hinterlassen! Und das alles hat der jottverflixte Lümmel in seine Hand gebracht! Nee, da hab ich wirklich eine große Freude. Das ist gescheit und genial von dem Bengel. Ich hab mich doch in ihm jetäuscht. Ich hab'n unterschätzt. Nu is er mir 'n ganz Teil iber! So viel Jald, wie der Millionär Totzke – – – nee soviel Jald hab ich nicht zusammengekratzt – – wenn ich ooch 'n ganz scheenen Batzen geschafft hab – –!«

Ganz exaltiert war der Alte plötzlich geworden. Immer wilder wurde er. Und Eduard empfand wie gestern wieder die Angst vor einem sich schon mit schrecklichem Stöhnen bemerkbar machenden Anfall.

Lieblos brachte er den Alten, dessen Charakter er nun erkannt hatte, ins Bett, setzte sich aber aus reiner Menschlichkeit zu ihm, bis der sofort herbeigerufene Arzt endlich kam.

Aus dem leichten Schlummer, in den der ihm jetzt fremdgewordene Greis schnell versank, phantasierte sein Hirn ganz erregt weiter von Martins Millionen.

Der Arzt strich sich bedächtig seinen Bart und bat Eduard, den Kranken nur der Pflegerin allein zu überlassen und erst am Abend wieder einmal nach ihm zu sehn. Der Patient habe sicher eine starke seelische Aufregung gehabt und müsse unbedingt einige Stunden feste, ungestörte Bettruhe haben.

Ohne jedes Gefühl einer Zusammengehörigkeit mit diesem Manne schritt Eduard von seinem Krankenlager ins Freie.

Er stand auf der alten Wiese, dem Mittelpunkt Karlsbads, wo das Leben ihn bald umflutete, um ihn mit der Woge aller jetzt den verschiedenen Restaurants zueilenden Kurgäste auf und ab zu treiben.

Nach einem kurzen Gang schritt er – es war inzwischen Mittag geworden – hinüber nach Pupps Garten, der von dem großen Hotel durch die breite Promenade der alten Wiese getrennt lag.

Unter schattigen Bäumen, die der stechenden Maisonne hier Einhalt boten, saßen die Menschen in lautem Gewirr.

Eduard suchte vergebens nach einem leeren Tisch.

Als er sich wieder entfernen wollte, um wo anders sein Mittagsmahl zu verzehren, hörte er hinter sich seinen Namen rufen.

Die Familie van Fleethen saß an einem Rundtisch, und der Vater schrie laut zu ihm herüber:

»Hier ist noch Platz für Sie!«

Eduard kämpfte mit einem unangenehmen Gefühl: Was will dieser aufdringliche Mann eigentlich von Dir? Mit welcher Berechtigung erlaubt er sich diese plumpe Vertraulichkeit, Dir einen Platz an seinem Tische anzubieten, um den Du ihn überhaupt noch nicht ersucht hattest!

Ein solches seinem Wesen vollkommen fremdes, ja sogar ganz unverständliches Betragen widerte ihn an.

Und schon wollte er mit einem höflich steifen Gruße die vorlaute Anmaßung des Herrn van Fleethen zurückweisen.

Da streifte ihn Irenes Augenpaar!

Eine Wehmut lag in ihrem Blick. Eine Scham vor der Schamlosigkeit des unerzogenen Vaters, der sich eine Plattheit nach der andern zuschulden kommen ließ. »Du hast vollkommen recht, ihm Deine wahre Meinung über ihn auch zu zeigen!« sprachen ihre Augen – – und dabei baten sie doch: »Aber warum willst Du es mich entgelten lassen? Komm! Verzeihe ihm um meinetwillen, denn er kann ja nichts für seinen Mangel an Zartgefühl! Komm trotzdem!«

Das kurze Blickgespräch – denn auch er hatte ihr sein volles Verständnis mit ihren so unangenehmen Empfindungen zum Ausdruck gebracht – hatte schließlich zur Folge, daß er ganz unbewußt mit einer schnellen Wendung seine Schritte zu dem ihm angebotenen Stuhle lenkte. Er handelte unter einem äußeren Zwange.

»Na endlich!« meinte Herr van Fleethen und streckte ihm seine Hand entgegen. »Sie kriegen um diese Zeit doch keinen anständigen Platz mehr hier bei Pupp! Und wo anders gibt's kein anständiges Essen! Was hilft Ihnen aber ein guter Platz, wo Ihnen ungenießbar schlechtes Essen vorgesetzt wird. Ich hab' hier alle Lokale ausgeprobt!«

Eduard wurde wieder wütend. Aber er beherrschte sich um des jungen Mädels willen, das ihn dauerte.

So wehrte er den Wortschwall des unangenehmen Alten mit einer leichten Handbewegung ab.

»Ich lege absolut keinen großen Wert auf das Essen! Aber zunächst: gesegnete Mahlzeit, meine Herrschaften!« meinte er dann und setzte sich nach dem unvermeidlichen Händedruck mit dem Vater und einer sehr liebenswürdig erwiderten Verbeugung vor den Damen.

»Also erst essen Sie einen Fogosch! Das ist hier eine Spezialität ersten Ranges! Dann nehmen Sie ein Filet! Und zuletzt einen Pallatschinken! Wer hier bei Pupp war, muß das gegessen haben!«

Eduard bestellte dieses ihm vorgezeichnete Diner, aß aber ohne jeden Appetit.

Nachdem er noch über den Gesundheitszustand seines Onkels gebührend ausgefragt worden war, erlebte er wiederum eine ihm recht peinliche Auseinandersetzung.

Der Alte wollte es sich unter keinen Umständen nehmen lassen, das Essen für seinen Tischgast – wie er Eduard nun nannte – auch zu bezahlen. Ja er duldete es auch nicht einmal, daß Eduard – wie es in Karlsbad allgemein üblich – für jeden der drei in Bewegung gesetzten Kellner ein Trinkgeld auf den Tisch legte.

Und Jacques van Fleethen blieb Sieger.

Dann endlich stand man auf.

Irene hatte während der Mahlzeit nicht ein einziges Wort zu Eduard gesprochen!

Der Alte verabschiedete sich jetzt, um seinen Nachmittagspoker zu spielen. Und da auch Frau Paula schon mit einigen Damen eine Pokerpartie im Freundschaftssaal verabredet hatte, bat Eduard um die Erlaubnis, mit Irene einen Spaziergang in die Umgebung machen zu dürfen. Bereitwillig wurde von beiden Eltern die Zustimmung dazu erteilt, ohne vorher Irenes Einverständnis mit seinem Vorschlag eingeholt zu haben.

Dies kränkte Eduard sichtlich, und er fragte Irene, ob sie mit ihm den Ausflug machen wolle.

»Warum denn nicht! Sie sehen ja, daß man bereits über mich verfügte!«

Eduard fühlte, wie er errötete.

Eine peinliche Pause entstand so!

Aber Frau Paula machte ihr bald ein rasches Ende.

Denn da sie sich jetzt erst noch ein Stündchen zum Mittagsschlaf zurückziehen wollte, bat sie Eduard, sie ins Hotel zu begleiten, wo man sich mit der Abrede trennte, daß Eduard um die Kaffeezeit Irene im Vestibül des Hotels erwarten möge.


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