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Unter klingendem Spiel rückte das erste Bataillon, seinen Major Weitbrecht an der Spitze, feldmarschmäßig zu einer Schießübung aus.
Martin sah vom Fenster seiner Stube auf den Kasernenhof hinab und freute sich schon auf die nächste Woche, in der auch seine Kompagnie zum Schießplatz kommandiert werden sollte. Gleich hinter der mit fröhlichen Klängen voranmarschierenden Regimentskapelle ritt – wie ein Jüngling zu schauen – der Vater. Den schwarzen Schnurrbart keck heraufgezwirbelt, in dem knappen Waffenrock mit dem eisernen Kreuz an der Brust, seinen zweiundvierzig Jahren zum Trotz noch recht schlank und straff und ganz elastisch in allen seinen Bewegungen, ritt er neben seinem Bataillonsadjutanten, wohl in ein dienstliches Gespräch vertieft.
Freundlich lächelnd – durch seine Beförderung zum Unteroffizier hatte Martin ihn scheinbar wieder ein wenig versöhnt – dankte der Vater zu Martins Fenster hinauf, in dessen Rahmen dieser dem ausrückenden Truppenteil durch stramme Haltung die Ehrenbezeugung erwies.
Neiderfüllt sah Martin, der heute dienstfrei war, dem vorbeidefilierenden Bataillon zu, das von oben in der Marschbewegung wie ein wogendes Meer von Pickelhauben und Gewehrläufen, durch die vereinzelten Degenspitzen der seitwärts mitmarschierenden Offiziere und Feldwebel gleichsam umsäumt, anmutete.
Hier und da winkte einer der Leutnants mit dem Degen zu ihm hinauf – bald war auch der letzte Zug vorbei, ihm folgten einige Burschen zu Pferde. Den Schluß machte der Stabsarzt mit seiner Sanitätskolonne.
Ferner und ferner wurden die Klänge der Musik, und langsam verhallten auch die schweren Schritte der Musketiere, die im Kasernenhofkies einen knirschenden Widerhall gefunden hatten.
Martin hatte sich jetzt zum Fenster hinausgelehnt.
Einzig und allein der Wunsch, bald auch Offizier zu sein, silberne Achselstücke und ein silbernes Portepee zu tragen, beseelte ihn. Daran erbaute er sich in seinen dienstfreien Stunden, die er immer in der einfach ausgestatteten Stube auf seinem Bette liegend verträumte.
Frohe bunte Zukunftsbilder lockten ihn auch jetzt wieder.
Er zog sich vom Fenster zurück und ging, nachdem er es geschlossen hatte, rasch zu der nach dem breiten Flurgang führenden Tür, die er verriegelte.
Dann flog der Kleiderschrank auf, und er entnahm diesem einen nagelneuen blitzblanken Interimsrock mit den Initialen des Regiments auf den silbernen Achselstücken.
Liebkosend streichelte er den bunten Rock und zog den Bügel heraus.
Dann entledigte er sich flugs seiner betreßten Litewka, zog den Offiziersrock an und schnallte den gleichfalls im Schranke verborgen gewesenen Degen um.
Glückselig trat er so vor den einzigen im Zimmer befindlichen Wandspiegel, der leider seiner kleinen Fläche wegen nur ein Brustbild zurückwarf.
Viele Stunden lang konnte er sich so betrachten.
Gleichzeitig unterzog er dabei sein noch spärlich keimendes Schnurrbärtchen einer ganz genauen Prüfung über die Wirkungen des bartwuchsfördernden Mittels, das er seit seinem Eintritt in die Armee eifrig benutzte. Und siehe da: er sproß!
Hieran schlossen sich genaue Proben von Mütze und Helm, deren je eine mindestens ein Viertelstündchen ausfüllte.
Wenn er dann endlich nach harter Selbstkritik festgestellt hatte, daß die Mütze für sein Gesicht und den Offiziersrock entschieden kleidsamer wirkte, zog er ganz traurig alles wieder aus und brachte die Ausrüstungsgegenstände wieder in ihr Versteck, wo sie bis zu seinem schönsten Tage (leider noch ein ganzes langes Jahr) verborgen bleiben mußten.
Dann aber würde er sie jubelnd hervorholen und stolz tragen dürfen! Wenn auch zuerst nur als Degenfähnrich – – – bis nach bestandenem Examen das silberne Achselstück die weiße Stoffklappe endgültig verdrängen würde.
Am 18. Juni war ein doppelter Festtag des Regiments, das sich an diesem Tage 1814 bei Waterloo und 1866 bei Langensalza treu und tapfer für Preußens Fahnen geschlagen hatte.
Anläßlich der Feier dieser Ruhmestaten wurden dann die nach bestandenem Offiziersexamen zur Beförderung vorgeschlagenen Degenfähnriche mit dem Patent als Leutnant ausgezeichnet – während die im Herbst eingetretenen erst zu Kaisers Geburtstag ernannt wurden und so lange auf ihr Patent und die damit verbundene letzte Mauserung warten mußten.
Große Hoffnungen barg also das kommende Jahr für Martin. Für die täglich näherrückende Stunde der endlichen Erfüllung malte er sich herrliche Luftschlösser aus. Die Zigarette im Mund warf er sich jetzt aufs Bett und gab sich wieder einmal seinen Träumen hin.
Er würde den nächsten Silvestertag, seinen Geburtstag, selbstredend in Berlin verleben. Das war mal sicher! – – In einem rosengeschmückten Zimmer eines eleganten Weinrestaurants würde er in glänzender Uniform auf einem grünbekränzten Stuhle sitzen, mit Eduard und zwei in Berlin noch zu suchenden Damen soupieren und sich am Champagner mit Rotwein bis zur Bewußtlosigkeit berauschen!
Als Höhepunkt der Feier dachte er sich das:
Nachdem seine Gäste mit ihm des Weines übervoll geworden waren, würde er die geleerten und Weinlaubumrankten Flaschen in bacchantischer Lust durch die geschlossenen Doppelfenster des Restaurants auf den Hof werfen, und das Klirren der zerschlagenen Spiegelscheiben und Flaschen sollte ihm den Genuß einer Sphärenmusik gewähren.
Der Kuckuck in seiner Schwarzwalduhr rief da elfmal seinen Weckruf.
Himmel, wie rasch war der Vormittag verstrichen!
Nun fiel dem Träumer plötzlich ein, daß Eduard im Sommer von sieben bis zwölf Uhr Unterricht hatte. Da er selbst um zwei Uhr im Kasino speiste, zog er sorgfältig seine schönste Extrauniform an und ging der nahen Stadt zu, um den Bruder vom Gymnasium abzuholen und sich dabei gleich den ehemaligen Mitschülern in seiner ganzen Schönheit zu präsentieren.
Die Junisonne brütete auf der Chaussee, die Martin in der Richtung nach der Stadt entlang schritt. Gut gelaunt wurde er durch die ihm von vereinzelt hin- und herschwirrender Ordonnanzen und Soldaten erwiesene Ehrenbezeugung, die er leutselig dankend entgegennahm. Viel Ungemach bereitete es ihm hingegen, wenn einmal ein Vize- oder gar etatsmäßiger Feldwebel des Weges kamen, die er in seinem Range als Unteroffizier noch stramm zu grüßen verpflichtet war.
So gern er jeden Offizier als Vorgesetzten anerkannte und mit militärischem Gruß beehrte, ebenso widerwillig zwang er sich diese »Rekrutenschinder« – wie man sie heimlich nannte – als ihm übergeordnete Chargen auf.
Unter diesen Betrachtungen näherte er sich der Stadt – und schritt leichten Fußes über die Memelbrücke.
Sonnenumflossen stand da unten die alte Penne, wie die meisten staatlichen Bauten in roten Verblendsteinen massiv gemauert.
In den weißen Zementfugen und den blitzenden Fensterscheiben brachen sich die goldenen Sonnenstrahlen, und besonders froh winkte die aus der Mitte des Schieferdachs ragende altbekannte Fahnenstange zu Martin hinüber, deren Spitze einen Blitzableiter in sich trug.
Uber den Fenstern des ersten Stockwerkes prangte in goldenen Lettern die Inschrift:
Längst vergessene Tage weckte der Anblick des alten Hauses in Martin. Einen Gruß seiner Jugend schienen ihm die gerade offenstehenden Fenster der Obertertia zu bieten.
Aber Martin war kein Freund von Gefühlswallungen.
Er unterdrückte alle Freude des Wiedersehens mit dem Gedanken: »Ach was, hier hat man dich nur immer gepiesackt und dir deine schönsten Tage vernichtet! Hol den ollen Kasten und die elenden Pauker der Deibel.«
Von St. Elisabeth schlug es 12 Uhr, und gleich darauf erdröhnte das Haus von einem dumpfen Glockenschall, der Lehrern und Schülern das Ende der Stunde ankündigte.
Nach kurzer Frist taten sich des Gymnasiums Pforten weit auf, und ein Heer von Knaben ergoß sich bei dem am Ausgang Wartenden vorbei auf die Straße.
All die kleinen und großen Jungen, die Schulmappen auf dem Rücken oder in der Hand, schritten in schnellem Tempo den elterlichen Wohnungen zu.
Der eilende Zug der Jünglinge glich einer Flucht.
Nach und nach sah man auch die Herren Oberlehrer die Schule verlassen. Die inmitten der vorwärtsdrängenden Jugend ganz gemessen schreitenden Männer gemahnten in ihrer sichtlich zur Schau getragenen Zurückhaltung an Heerführer, die eben von abtrünnigen Söldnern verlassen werden.
Eine Menge Lehrer, die auch Martin noch kannte, würdigte er keines Grußes. Nur die ganz wenigen, unter ihnen Dr. Baltzer, der stets gut zu ihm gehalten hatte, begrüßte er huldvoll und ließ sich anstaunen.
Der Direktor, der ihn gleich erkannte und in ein längeres Gespräch zog, lobte Eduards – seines Primus' omnium – großen Fleiß und gute Fortschritte und trug ihm Grüße für den Herrn Papa auf.
Dann kamen endlich auch die Primaner, mit ihnen Eduard.
Martin ließ sich auch von seinen früheren »Conpennälern« bewundern und schüttelte allen vergnügt die Hände, selbst Walter Löwy versagte er diesen Gruß nicht – trotzdem er Eduard nachher versicherte, daß er »aus Überzeugung ausgesprochener Antisemit« sei.
Bald war das schnell um ihn versammelte Häuflein wieder zerschmolzen – die Primaner zog es auch nach Haus.
Martin ging zu Eduards Rechten der väterlichen Villa zu, die in der Nähe des Marktplatzes lag.
Seitdem er das Fähnrichsexamen abgelegt hatte, gefiel er sich darin, dem Bruder gegenüber den Erstgeborenen zu spielen, der bereits die Prüfungen dieses Lebens überwunden hatte.
Auch jetzt wieder sprach er sich in diesem Sinne zu dem Jüngeren aus:
»Der Direx sagte mir eben, er sei mit dir ziemlich zufrieden! Das freut mich sehr! Arbeite nur feste, mein lieber Junge. Die Hauptsache ist: Examen bauen! Ja, ja Examen bauen ist keine Kleinigkeit. Wer, wie ich, diese Chose kennt, der weiß das zur Genüge!«
Eduard ließ dem Älteren sein Vergnügen und erwiderte ganz ernstlich:
»Ich arbeite wirklich recht angestrengt und hoffe auch bestimmt zur rechten Zeit die Abgangsprüfung zu bestehen.«
»Na, daran ist doch hoffentlich kein Zweifel, lieber Eduard. So ein Abiturientenzeugnis ist der Schlüssel zum Leben. Also büffeln und nochmals büffeln! Ich sagte dir ja schon, die Hauptsache ist: Examen bauen!«
Eduard freute sich dieser väterlichen Besorgtheit Martins. Gab sie ihm doch wenigstens einen kleinen Beweis für des Bruders Zuneigung. Dann sprach er ihm von seinen Studienplänen.
Martin wollte ihm raten, cameralia und jura zu studieren und später die Regierungskarriere zu ergreifen.
Das sei feudal und interessant zugleich.
Eduard aber blieb bei seinen erwählten Fächern. Er wollte Hochbau und Kunstgeschichte studieren, da ihm sein besonderer Schaffensdrang gerade den Hochbau als einen Wirkungskreis empfahl, der zu höchster Entwicklung menschlicher Arbeitskraft und menschlichen Könnens Gelegenheit bot.
Martin ließ sich durch Eduards Enthusiasmus wenig rühren. »Was hast Du davon, wenn Du so ein Maurer bist? Das ist doch kein Beruf für einen Weitbrecht. – Dann wär's wirklich schon richtiger, ich suche Dir ein Regiment, vielleicht nimmt Dich unsere Feldartillerie!«
Lächelnd dankte Eduard, und Martin brummte schnell beleidigt etwas von »nicht hören wollen und fühlen müssen«.
Schweigend schritten sie nebeneinander her über den Marktplatz. Da plötzlich zeigte Eduard auf eine große Menschenansammlung in der Mitte des Platzes.
Sonderbarerweise hatten sich sogar Zivilisten und Soldaten im Kreise vereinigt.
Auch einige höhere Offiziere der verschiedenen Truppenteile – was mußte sich da ereignet haben? – standen inmitten der Menge, zu denen sich immer weitere Massen von Zivil und Militär bunt zusammengewürfelt gesellten.
Martin meinte erst, daß ein Ereignis von wichtigster Tragweite geschehen sein müsse, die so noch nicht dagewesene Vermischung von Bürgervolk und Soldateska lasse das Allerschlimmste befürchten. Dann aber hellten sich seine Mienen wieder auf.
Eduard fragte nämlich einen vorbeikommenden Herrn, ob etwa eine Kriegserklärung an Deutschland erfolgt sei.
Martin ließ den Herrn nicht antworten!
Er klammerte sich an Eduards ganz harmlos hingeworfene Frage.
»Kein Zweifel, wir kriegen Krieg! Gewiß ist die Mobilmachungsorder schon da, dann werde ich sofort Leutnant!« jubelte er auf.
Aber der Herr, ein Finsterburger Kaufmann, raubte Martin, den er – wie auch Eduard – vom Ansehen kannte, schnell die spontane Begeisterung.
Zögernd beruhigte er beide Brüder über die vermeintliche Unterbrechung des Weltfriedens, und nach kurzem Zaudern erzählte er nur noch, daß bei der Schießübung heute vormittag im Gelände ein Offizier schwer verunglückt sei, den man eben hier vorbei im Krankenwagen in seine Wohnung gebracht habe.
Die Frage, um welchen Offizier und welchen Truppenteil es sich denn handele, konnte oder wollte der Herr zu seinem Leidwesen achselzuckend nicht beantworten. Bange Ahnungen im Herzen, eilten jetzt beide Brüder zu der auf dem Platze immer weiterschwellenden Menschenansammlung.
Martin winkte einen ihnen gerade entgegenkommenden Dragoner heran, der sofort stramm stand und dem Herrn Unteroffizier – ohne Martin zu kennen – auf die Frage nach dem Unfall Meldung machte:
»Beim Ausrücken des ersten Bataillons der hier stehenden Musketiere wurde das Pferd des Herrn Bataillonskommandeurs, Majors Weitbrecht, durch wandgroße Spiegelbleche, die Bauklempner an einem Neubau die Chaussee entlang trugen, scheu gemacht. Das durchgehende Pferd schleuderte seinen Reiter gegen einen Baum. Bewußtlos wurde der Herr Major soeben von Soldaten in seine Wohnung getragen.«
»Abtreten,« befahl Martin hart und finster.
Dann nahm Eduard seinen Arm; im Fieber gingen die Brüder nach der Wohnung zu ihrem Vater.
Schwarze Schatten warfen ein tiefes Dunkel über Eduards Denken und Fühlen. Ein bitterer Schmerz quoll aus seinem Innern siedend heiß empor und schnürte ihm fast die Kehle zu. Der Vater, mit dem er am letzten Abend noch Schach gespielt hatte, sollte jetzt schwer verletzt darniederliegen? Es konnte nicht wahr sein – es war ihm nicht faßbar!
Martin überflog schnell die aus einem möglichen Hinscheiden des Vaters sich für ihn ergebenden Folgen: er verlor den Mann, zu dem er zwar nie mit der rechten Liebe emporgeschaut, der aber doch immerhin ihm alle seine Wege bis zum heutigen Tage geebnet hatte.
Im Regiment konnte er eine feste Stütze noch recht gut gebrauchen – – deshalb entschied sich sein Sinn dafür, eine möglichst schnelle Besserung im Zustande des Vaters herbeizusehnen.
Zu Hause angekommen, erfuhren sie von der in Tränen aufgelösten Köchin, daß man den gnädigen Herrn zuerst hierher nach seinem Schlafzimmer, dann aber, als der Zustand sich sehr verschlimmerte, weiter ins Garnisonlazarett geschafft habe.
Der Herr Oberstabsarzt und zwei jüngere Stabsärzte hätten sich fortwährend um den kranken gnädigen Herrn bemüht.
Sie eilten nach dem Garnisonlazarett.
Eduard klammerte sich in wildem Weh an den Bruder, der finster in sich gekehrt ohne ein Wort des Trostes dahinschritt.
Im Garnisonlazarett wurden sie vom Oberstabsarzt empfangen. Der strich sich schwer über seinen langen Vollbart und ermahnte die Brüder, es tapfer zu tragen.
Die starke Gehirnerschütterung habe trotz aller ärztlichen Gegenwehr leider allzu rasch den unvermeidlichen Tod des Schwerverletzten herbeigeführt.
Der Vater hätte es doch nicht überstehen können! So sei er wenigstens, ohne nochmals das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, schmerzlos hinübergeschlafen. An der Spitze seiner Soldaten habe er einen Heldentod gefunden, den schönsten Tod, treu seinem König im Dienst!
Phrasen – leere Phrasen –!
Eduard raste – schrie in unbezähmbarer Wut!
Im ersten Schmerze wollte er sich auf die Leiche stürzen und immer wieder verlangte er danach, den Vater wenigstens noch einmal zu sehen, um von ihm Abschied nehmen zu können.
Mit Aufwendung seiner ganzen Beredsamkeit, von Martin und den Assistenten ehrlich unterstützt, konnte der Oberstabsarzt den Jüngling endlich davon überzeugen, daß dies ganz unmöglich sei.
Der Kopf des Verunglückten sei durch den ungeheuren Anprall dermaßen verstümmelt worden, daß er nicht dringend genug den fürchterlichen Anblick verbieten könne.
Aber Eduard ließ nicht nach.
Nachdem er unter Tränen versprochen hatte, sich ganz ruhig zu verhalten und nichts gegen die Erlaubnis des Oberstabsarztes zu unternehmen, wurden auf seine heißen Bitten beide Söhne von den Ärzten ins Sterbezimmer geführt.
Unter seinem weißen Leinentuch lagen in der Mitte des großen Operationssaales die sterblichen Überreste des Majors aufgebahrt.
Zwei Unteroffiziere hielten an der Leiche die Totenwacht.
Bleich und erschüttert trat Martin ans Totenbett seines Vaters. – Eduard kniete verhalten schluchzend nieder und küßte vom tiefsten Schmerz überwältigt das weiße Bahrtuch.
Nach drei Tagen standen die Brüder am offenen Grabe ihres Vaters.
Der Militärpfarrer hatte eben seine Predigt beendet und segnete die Leiche für ihren letzten kurzen Weg ein.
Mannschaften traten heran, hoben den Sarkophag von der Bahre, um ihn mit dem Degen und Helm des Toten in die Gruft zu versenken.
Auf einen Wink des Kommandeurs hielten sie inne!
Der Oberst sagte in kurzen kräftigen Worten seinem treuen Kameraden und allzeit pflichtbewußten, tüchtigen Offizier im Namen des ganzen Regiments sein Lebewohl.
Mit gesenkter Fahne trat der Fahnenträger an den Sarg, der dann langsam der Gruft übergeben wurde.
Den letzten Gruß erwiesen dem verblichenen Major Soldaten durch Salutschüsse über das offene Grab, bis dann Allmutter Erde den Sarg für immer in ihren weiten Schoß aufnahm und mit ihrem schlichten Tuch zudeckte.
Martins Antlitz hatte der plötzliche Tod des Vaters versteinert. Sein Auge sah starr auf die äußerlichen Ehrungen, die insgesamt ein prunkendes Schauspiel darboten, von dem seiner Meinung nach der tote Vater aber doch nichts sehen konnte und das ihn leider auch nicht mehr in dieses Leben zurückrief.
Eduards tränenerfüllte Augen aber sahen überhaupt nichts von alledem. Seine Trauer um den so plötzlich aus der Welt gerissenen Beschützer und Freund war allmächtig – ihr gehörten alle seine Gefühle und Gedanken. Und weit weg von diesem militärischen Trauergepränge flüchteten sie sich in schmerzvolle Einsamkeit.
Ein feiner Regen sprühte vom Himmel, er verschonte nicht die blitzenden Uniformen des versammelten Offizierkorps, nicht die zerschossene Fahne des Regiments, deren Seidensträhnen in zerschlissener Betrübnis herabhingen, und auch nicht die auf einem Paradekissen ruhenden Orden des eben Bestatteten, die ihm sein Adjutant im Trauerzuge zur letzten Ehrung nachgetragen hatte.
Nun war auch das vorbei.
Soldaten und Offiziere verließen den Friedhof.
Die Regimentskapelle brachte mit der Ehrenkompagnie und der Fahne unter jubelnden Marschklängen das ewige Recht der Lebenden wieder zur Sprache.
Martin und Eduard fuhren in einem Wagen allein zur Stadt zurück.
Außer einem gallensteinkranken Onkel, der nie reiste, hatten sie nur wenig nahe Verwandte in Königsberg, die sie kaum kannten. Die entfernten Verwandten hatten aber wohl so schnell auch nicht abkommen können.
Man ließ die Brüder allein – wie man eben auch den armen Vater von nun ab allein lassen mußte.
In der Wohnung war Totenstille.
Noch waren die Dienstmädchen nicht vom Kirchhof zurückgekehrt – die beiden Burschen weilten wohl auch noch am frischen Grabe –! Sie alle hatten ihren Herrn ehrlich lieb gehabt.
Martin ging in der leeren Wohnung hin und her, und nur ein quälender Gedanke erfüllte ihn, die einzige Frage: Was jetzt?
Das Leben in seiner unerhörten Brutalität rührte auch an Eduards schweigenden Schmerz.
Martin sah dem jüngeren Bruder ins Auge.
Eduard mußte unbedingt auf irgendeine Weise abgelenkt werden, und Martin gelang es, mit einer plötzlichen Anwandlung von zärtlicher Brüderlichkeit, ihm wenigstens das Interesse des Zuhörens für seine Pläne abzugewinnen:
Eduard sollte die Wohnung vorläufig beibehalten und mit den Mädchen weiterwirtschaften, bis Martin Offizier geworden sei und er selbst sein Examen bestanden habe. Dann sollte Eduard mit dem Mobiliar nach Charlottenburg übersiedeln, um die Technische Hochschule zu beziehen, und Martin würde alle möglichen Anstrengungen machen, um ein Kommando nach Berlin oder vielleicht eine Versetzung in eine kleine märkische Garnison zu erreichen.
Sie wußten ja nichts von der freiwilligen Gerichtsbarkeit des Vormundschaftsrichters, der sie alle beide noch unterstanden.
Immerhin war Martin ein guter Tröster, und es gelang ihm wenigstens, durch seine Zukunftsträumereien den Bruder ein wenig auf andere Gedanken zu bringen.
So verging der Nachmittag.
Gegen Abend – Mädchen und Burschen waren längst wieder heimgekehrt – brachte der Bataillonsadjutant des Vaters Orden mit der Weisung an Martin, dieselben morgen früh bei dem dazu angesetzten Regimentsappell an den Oberst abzuliefern.
Der Besuch rief bei Eduard wieder alle Erinnerung an den geliebten Vater wach, und die schmerzenden Wunden bluteten von neuem.
Martin sprach mit dem Vorgesetzten über seine Pläne. Und als auch er gegangen war, überbrachte ein Unteroffizier einen Regimentsbefehl, daß die Burschen nach acht Tagen in die Front einzurücken hätten.
Martin beschloß, die Reitpferde des Vaters zu behalten und einen Reitknecht für die Verpflegung derselben zu engagieren. – – – – – – – – – – – – – –
Am nächsten Morgen war beim Trauerappell für den aus den Reihen des Regiments geschiedenen Offizier auf dem Kasernenhofe alles in der üblichen Form vonstatten gegangen. Martin mußte vor dem versammelten Regiment die Orden seines Vaters dem Oberst übergeben, der sie im Auftrage des Landesherrn unter Trommelwirbel entgegennahm.
Für den Nachmittag war in der evangelischen Kirche ein Trauergottesdienst angesetzt. Bis dahin wurden sämtliche Mannschaften für heute als dienstfrei entlassen.
Die Soldaten schwärmten auseinander.
Die Offiziere begaben sich nach Hause, und auch Martin ließ man wieder allein.
Er wollte in seine Stube, um Helm und Uniform abzulegen.
Auf den breiten Treppen der Kaserne kamen und gingen Soldaten in Menge.
Die weiten Flure waren gleichfalls mit Mannschaften erfüllt, die ihre Gewehre in die dazu vor allen Türen angebrachten Ständer abstellten. Feldwebel Hofmann kam Martin entgegen, der stramm grüßend vorüberschritt.
Der Feldwebel hatte in der rosigen Aussicht auf den gänzlich freien Tag bereits seinen Frühschoppen hinter sich und zur Feier des Tages auch noch einige Schnäpse genehmigt.
»Unteroffizier Weitbrecht!« – Er rief den bereits schnell Vorübergeeilten zurück.
»Herr Feldwebel befehlen?« Martin trat stramm vor den Vorgesetzten, der scheinbar milde begann:
»Es ist mir Ihr sonderbares Verhalten bei der Beerdigung gestern aufgefallen. Jeder Mensch hat doch für seinen Vater ein paar Tränen übrig – warum haben Sie nicht wenigstens zum Schein geweint?«
Martin fühlte, wie ein rasender Jähzorn in ihm rang, am liebsten wäre er diesem betrunkenen Gesellen an den Hals gesprungen. – Aber er zwang allen wilden Zorn zurück und antwortete ganz ruhig:
»Das ist meine Natur, Herr Feldwebel, ich kann nicht weinen.«
»So hätten Sie sich dazu zwingen sollen, Ihr kleiner Bruder hat ja auch geflennt – da hätten Sie schon zur Gesellschaft auch ein paar Tränen rausquetschen müssen! Das hätte entschieden einen besseren Eindruck gemacht.«
Martin war empört über diese ruchlose Entweihung seiner innersten Gefühle. – Was ging diesen Soldatenschinder überhaupt sein Seelenleben an? Kurz bedacht antwortete er deshalb:
»Ich möchte Herrn Feldwebel zu bedenken geben, daß diese Frage unangebracht ist.«
»Wat,« schrie ihn der leicht verletzte Mensch an, »Sie wollen mir wohl Instruktionsstunde erteilen über meine Benehmigung?«
»Meine Privatsachen kommen hier nicht in Frage,« war Martins immer noch gemessene Antwort.
»Dat wolln wir mal sehn, zunächst werde ich Sie ein bißchen melden wegen Insubordination.«
»Ich bitte darum,« erwiderte Martin ironisch, »und ich werde mich noch heute beim Herrn Hauptmann über Sie beschweren.«
»Sie sind wohl ganz verrückt geworden, Sie Idiot!« brüllte ihn der Feldwebel aufs Äußerste gereizt an, und sein alkoholerfüllter Atem traf Martins Antlitz.
In ohnmächtiger Wut verlor er die Besinnung. Alles drängte in ihm dazu, sich auf den Mann zu stürzen, der, breitbeinig auf seinen Degen gestützt, vor ihm stand und ihn herausfordernd angrinste.
Das schmutzige Lachen des Feldwebels gab Martin den Rest!
Im nächsten Augenblick hatte er das Seitengewehr blank gezogen und stürzte sich rasend auf den feindlichen Peiniger.
Aber Hofmann kam ihm zuvor.
Mit einem schnellen Griff fiel er ihm in den Arm und entwand Martins Faust mit einem eisernen Druck den blanken Stahl. Drei rasch herbeigewinkte Soldaten bemächtigten sich seiner.
Nachdem der Feldwebel ihn vor diesen Zeugen wegen tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten für verhaftet erklärt hatte, ließ sich Martin willig in die Arrestzelle abführen.