Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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6. Erste Liebe.

Der Tod des Königs machte, wie ich schon erwähnt, in meinen Münchener Verhältnissen keine einschneidende Änderung. So blieb ich in der Stadt wohnen, die mir eine zweite Heimat geworden war, ohne jedes Amt nur meinen mannigfachen literarischen Aufgaben mich widmend, sah gute Freunde und Gleichgesinnte kommen und gehen und eine neue Zeit anbrechen, in der ein neues Geschlecht mit neuen Anschauungen und Bedürfnissen heranwuchs. Dies alles vollzog sich geräuschlos, mit innerer Notwendigkeit, die ich nicht leugnete, wenn ich mich ihr auch nicht unterwarf. Von Zeit zu Zeit, so oft ich einer geistigen Luftveränderung bedurfte, pilgerte ich auf ein paar Wochen wieder in mein gelobtes Land und fuhr auch zweimal mit meiner Frau statt über den Brenner über den Rhein, um mich jedesmal etwa vierzehn Tage in Paris umzusehen. Von diesen kurzen Episoden jedoch soll hier so wenig berichtet werden, wie von meinen vielfachen einsamen Streifzügen in Italien. Da wir es in Paris von vornherein nur auf die Stadt selbst, Museen, Theater, die Umgegend und so viel vom Volkscharakter abgesehen hatten, als man im Schlendern über die Boulevards und im Bois davon erhaschen mag, notablen Bekanntschaften aber aus dem Wege gingen, so hätte die Mitteilung unserer flüchtigen Eindrücke nur geringes Interesse.

Hier aber habe ich noch einen Punkt zu berühren, der eigentlich schon früher hätte zur Sprache kommen sollen.

Ich bin oft gefragt worden, ob meinen zahlreichen Novellen, in denen es sich um leidenschaftliche Konflikte handelt, nicht eigene Erlebnisse zugrunde lägen, an denen ja auch ein äußerliches Stilleben nicht arm zu sein braucht. Man pflegte zu glauben, die Kenntnis des weiblichen Geschlechts, der Abgründe und Untiefen im Frauenherzen, die man in meiner Dichtung finden will, könne nur in der Schule des Lebens erworben und mit eigenem Herzblut bezahlt worden sein.

Dies ist nun keineswegs der Fall gewesen.

Von den nur allzu zahlreichen Novellen, in denen ich Frauencharaktere geschildert habe, wüßte ich kaum ein halb Dutzend, für welche persönliche Erinnerungen das Motiv geliefert hätten. Auch dann niemals in memoirenhafter Genauigkeit, sondern so umgebildet und künstlerisch verarbeitet, daß nur der seelische Grundton des eigenen Erlebnisses darin forttönte. Ebensowenig habe ich Schicksale guter Freunde oder Charakterbilder von Personen, mit denen das Leben mich in nahe Berührung brachte, novellistisch »verwertet« oder als Modelle mit porträtmäßiger Ähnlichkeit mir angeeignet, sondern mich stets auf die Anregungen beschränkt, die eine fruchtbare Phantasie einer liebevoll beobachteten Wirklichkeit verdankt. Gegen »Schlüsselromane« vollends, die nur eine frivole Neugier befriedigen, fühlte ich stets einen tiefen Abscheu, als gegen eine schnöde Zwittergattung, die den Reiz polizeilicher Dokumente mit künstlerischen Effekten verbinden will.

Und so würde die heut so unheilvoll im Schwange gehende Methode, Dichterwerke als eine genau zu berechnende Summe biographischer Faktoren darzustellen, an meinen novellistischen Arbeiten keinen dankbaren Stoff finden. Wohl habe auch ich in der Schule der Leidenschaft meinen Kursus gründlich durchzumachen gehabt. Denn schon als Knabe hatte ich die Macht der Schönheit empfunden, und es war eine sehr persönliche Konfession, die ich in einer Strophe der »Braut von Cypern« aussprach.

O heilig Wunder! Uralt ist die Welt,
Und dennoch steht am Anfang aller Dinge
Das Herz, in das ein Strahl der Schönheit fällt.
Als ob dich eine Schöpfung neu umfinge,
Wird dir die Brust erschüttert und geschwellt,
Es trifft dich wie ein Schlag von Adlerschwinge,
Die Träne fühlst du dir im Auge beben –
Nun weißt du erst, lebendig sei dein Leben.

Was der träumerische Tölpel Cimone dort erfuhr, wie gut kannte ich es, wie oft hatte ich es als schüchterner Juvenil selbst erfahren, in Gesellschaften, wo ich einer reizvollen Mädchengestalt begegnete, im Theater, wenn ich eine schöne Frau in ihre Loge treten oder sie auf der Straße mir vorübergehen sah. Ich empfand dann leibhaftig jenen »Schlag« auf das Herz, der Atem stockte mir, ja, wie es schon die große Lesbische Dichterin an sich erlebt hatte, ein leiser Schweiß trat mir auf die Stirn, wenn das zauberhafte Wesen mich anredete.

Diese Schwäche meiner jungen Jahre ist mir noch lange nachgegangen, und wenn ich als Dichter oft eines überschwänglichen Schönheitskultus geziehen worden bin – obwohl mir so viel tiefere geistige und sittliche Probleme zeitlebens zu schaffen machten –, kann ich mich nur damit entschuldigen, daß es sich dabei um einen Naturfehler handle, der sich mit keinem noch so guten Willen hätte ausrotten lassen.

Daß ich aber dennoch in der Schule der Frauen lange gesessen, ohne allzu schweres Lehrgeld zu zahlen, und vor zerrüttenden Herzensstürmen bewahrt geblieben bin, verdanke ich dem seltenen Glück, daß mein Herz früh in festen Händen war und daß ich zweimal eine Ehe geführt habe, wie sie harmonischer, Seele und Sinne im tiefsten erquickender nicht gedacht werden konnte.

*

Eine ernsthafte erste Liebe hatte ich schon in meinem Primanerherzen erleben müssen.

Schon bei der Schilderung des »Klubs«, den ich mit meinen drei Schulfreunden in dem Poetenhause am Enkeplatz gestiftet hatte, habe ich den Namen Felix von Steins genannt. Seine Eltern waren seit einigen Jahren aus Thüringen übergesiedelt, da sie für die Erziehung ihrer Kinder in ihrem waldumrauschten Schlosse Kochberg nicht wohl zu sorgen wußten, und bewohnten eine reizende Villa in Schöneberg, von wo aus ihr Stammhalter Felix und sein viel jüngeres Brüderchen Karl täglich zur Schule nach Berlin wanderten. Ein Neffe des Freiherrn, Sohn seiner Schwester, die in Weimar an einen Mister Perry verheiratet war, lebte ebenfalls unter der Obhut seiner Verwandten und besuchte wie sein Vetter das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.

Da die Eltern durch ihren Sohn von mir als einem »Musterschüler« gehört hatten, mußte Felix mich auf einen Sonntagmittag zu ihnen hinausladen. Noch ist es mir deutlich in der Erinnerung, wie ich das hohe Gittertor der Villa erreichte und das schmucke einstöckige Haus zum erstenmal hinter dem sanft ansteigenden Rasenplatz des Vorgartens liegen sah, von den hohen Wipfeln des Parks, der sich dahinter ausbreitete, überschattet. Als ich eintrat, sah ich einen großen, schwarzhaarigen Mann mit dunklem Bart, den ich nach seinem nachlässigen Anzug für den Gärtner hielt, an einem Gartenbeete beschäftigt. Auf meine Frage, ob Herr von Stein hier wohne, sah er mich mit seinen schwarzen Augen freundlich an und antwortete, ich möge nur ins Haus hinaufgehen, im Gartensaal, der sich nach dem Vorgarten öffnete, würde ich die Damen finden.

Felix kam mir entgegen mit dem großen Neufundländer, der bald mein Freund werden sollte, und führte mich zu seiner Mutter, deren herzlicher Empfang rasch alle Fremdheit zwischen uns verscheuchte. Ich war früh in allerlei geselligen Kreisen eingeführt und hatte mich leidlich unbefangen zu betragen gelernt. In ein altadeliges Haus trat ich hier zum erstenmal, und auch die Erinnerung an jene Frau von Stein, deren Freundschaft den jungen Goethe beglückt hatte, trug dazu bei, mich diesen ihren Nachkommen gegenüber anders als sonst in einem befreundeten Haufe empfinden zu lassen. Auch die Räume, die sie bewohnten, waren mit Bildern geschmückt, die eine Art historischer Stimmung erzeugten, und der ganze Zuschnitt des Lebens, obwohl von irgendwelchem Prunk keine Rede war, hob sich doch um eine Stufe über die mir gewohnte bürgerliche Sitte hinauf.

Dann öffnete sich eine Tür, und ein junges Mädchen trat ein, das Felix umarmte und mir als seine Schwester Anna vorstellte. Sie trug ein einfaches helles Kleid, das ihrer schlanken, aber schon voll aufgeblühten Figur sehr reizend stand, das reiche, schwarze Haar schlicht gescheitelt und in einem dicken Knoten aufgesteckt, den kleinen runden Kopf ein wenig in den Nacken geworfen. Sie gab mir unbefangen die Hand, betrachtete mich ruhig mit den halb zugedrückten schwarzen Augen, als ob sie bei sich selbst spräche: Also so sieht der gepriesene primus omnium aus! und wandte sich dann mit einem feinen Zucken der Nasenflügel von mir weg.

Nach der überfließenden Freundlichkeit der kleinen, trotz ihres Embonpoints sehr beweglichen Mama machte mir diese überlegen kühle Begrüßung der Tochter einen unholden Eindruck, und ich nahm mir vor, das hochmütige Freifräulein, das mir gegenüber sich in der Rolle einer unnahbaren Aristokratin zu gefallen schien, meinen Bürgerstolz fühlen zu lassen, auch wenn ich mir nicht ein junges Genie zu sein dünkte, wie der Dichter des Werther. Dieser flüchtigen Verstimmung aber wurde ein Ende gemacht, als der Bediente die Tür nach dem Eßzimmer öffnete und von der anderen Seite der Hausherr eintrat, kein anderer als der große brünette Mann, den ich für den Gärtner gehalten hatte.

Die schlichte Güte und Herzlichkeit, mit der er mir begegnete, gewann ihm in der ersten halben Stunde mein Herz, und als ich spät am Abend mich verabschiedete, fühlte ich deutlich, daß die Bekanntschaft mit diesen Menschen einen bedeutsamen Abschnitt in meiner Entwicklung bilden würde.

Ich habe nicht vor, hier den kleinen Roman dieser Jugendliebe ausführlich zu erzählen. Auch sind die wesentlichsten Züge desselben, vor allem die leidenschaftliche Stimmung, in der ich ihn durchlebte, in der Novelle »Das Freifräulein« zur Darstellung gekommen, getreuer und umständlicher, als irgendein anderes meiner eigenen Lebensabenteuer einen dichterischen Ausdruck gefunden hat. Nur die Katastrophe, von dem Entschluß der Entführung an, ist freie Zutat, da die Geliebte einer romantischen Torheit dieser Art nie auch nur im Traum sich würde schuldig gemacht haben.

Hier möge genügen zu sagen, daß das Eis zwischen mir und dem schwer verkannten jungen Wesen überaus schnell ins Schmelzen kam. Zwar behielt sie äußerlich ihre zurückhaltende Miene und den kühlen Blick der Augen bei, doch erkannte ich bald, daß unter der scheinbar stolzen Ruhe und Gleichgültigkeit sich ein scheues, warmblütiges Temperament verbarg, das Tasten und Suchen einer jungen Menschenseele, die den Rätseln des Lebens furchtsam gegenübersteht und ihr inneres Leben der Welt nicht enthüllen will. Eben diese äußere Sicherheit in den Formen bei der inneren geistigen Ratlosigkeit, die sich hin und wieder in unbewachten Augenblicken verriet, machte ihr Wesen so anziehend. Es war die erste »problematische« Mädchennatur, die mir begegnete. Kein Wunder, daß sie bald mein ganzes Inneres erfüllte und Kopf und Herz zugleich gefangen nahm.

So wenig Anlagen ich zum blöden Schäfer hatte und so kecklich anderen Mädchen gegenüber ich den Verliebten zu spielen verstand, wo ich nichts empfand, in diesem Falle versagten mir Mut und Selbstgefühl völlig, auch nur so weit mich mit meinem geheimen Herzenszustand hervorzuwagen, wie jeder gute Jüngling der Schwester seines Freundes den Hof machen darf. Auch trug ich diese Liebe ohne jede Hoffnung, daß sie je erwidert werden könne, mit mir herum. Doch lebte ich nur von einem Landbesuch zum andern, wo ich dann vierundzwanzig Stunden unter einem Dache mit ihr zubrachte, da es bald eingeführt war, daß ich Sonnabend nachmittags hinausging, die Nacht mit Felix und seinem Vetter in ihren Mansardenzimmern bei allerlei kleinen Rauch- und Trinkorgien halb durchwachte und den Sonntag darauf mit den Geschwistern unter den herrlichen alten Bäumen des Parks mich herumtrieb.

Man wird begreifen, daß bei diesem Gastrecht im Hause der Eltern – der Name des »Goldsohns« war mir von der Mutter, die mich in jeder Weise verhätschelte, wie in jener Novelle beigelegt worden – meine grüne junge Lyrik so üppig wie jedes andere Unkraut gedieh. Damals stand ich ganz im Banne Heines. Was an schwermütigen, desperaten oder todesschaurigen Versen entstand, wurde dann an den Klubabenden vorgelesen. So waren Felix meine Gefühle für seine Schwester, ohne daß der Name je genannt wurde, von Anfang an kein Geheimnis, und die Gedichte wurden zwischen uns nur in bezug auf ihren poetischen Wert oder Unwert besprochen.

Der gute Junge war aber endlich unvorsichtig genug, Mitleid mit meinem Zustande zu fühlen, und eines Nachts, als wir aus dem Klub nach Hause gingen und Endrulat uns verlassen hatte, eröffnete er mir, er habe mit seiner Schwester von mir gesprochen, und sie habe ihm gestanden, daß ihr meine Liebe längst kein Geheimnis mehr sei, und daß sie sie erwidere.

So unerhört und unfaßbar mir dieses Glück erschien, war ich doch keinen Augenblick im Zweifel, daß ich Manns genug sein würde, es festzuhalten. Am nächsten Sonntag, da mir die Liebste zum erstenmal ohne ihre sichere Haltung, mit beklommenem Atem und geröteten Wangen gegenübertrat, bat ich sie, mit mir in den Garten zu gehen. Dort fragte ich sie ohne Umschweife, ob ich glauben dürfe, was ihr Bruder mir gesagt, und als sie wortlos mit einem entschlossenen Nicken ihres reizenden Kopfes es bestätigte, sagte ich ihr alles, was ich seit der brüderlichen Enthüllung mir zurechtgedacht hatte. Wir standen beide in unserem siebzehnten Jahr, ich um wenige Monate älter, übrigens aber im Nachteil gegen sie, die so herangereift war, daß sie jeden Augenblick einem Bewerber ihre Hand gewähren konnte, während ich im günstigsten Falle, ehe ich daran denken durfte, sie heimzuführen, eine Wartezeit wie Jakob um Rahel durchzumachen hatte.

Wie konnten wir auch hoffen, selbst wenn die Eltern ohne jedes Standesvorurteil dem Goldsohn, dessen Vater ein schlechtbesoldeter Professor war, ihr Freifräulein gegönnt hätten, daß sie auf eine so weite, unsichere Aussicht hin zu einem Eingehen auf unsere Wünsche geneigt sein würden? In so seligem Taumel ich neben dem geliebten Wesen hinschritt, blieb ich doch besonnen genug, nichts von allem zu verschweigen, was scheinbar als ein unüberwindliches Hindernis unserem Glück sich entgegentürmte. Als ich sie aber schließlich fragte, ob sie sich getraue, trotz alledem an mir festzuhalten, wie ich mich ewig an sie gebunden fühle, und sie ruhig ausblickend das erste Wort auf meine gestammelte Rede, ein helles entschiedenes Ja! erwiderte, sah ich plötzlich alle Wolken über unserer Zukunft zerstreut und den Stern unserer jungen Liebe verheißungsvoll herabstrahlen.

Noch heute ist es mir rätselhaft, daß wir nach diesen tapferen Bekenntnissen uns nur die Hand reichten und unsere Lippen sich nicht berührten, so einsam und sicher der Platz unter den alten Ulmen war. Das damals Versäumte ist auch später nicht nachgeholt worden. Ich habe dies schöne Wesen, das sich mir verlobt hatte, nie im Arme gehalten und ihr nicht einmal Stirn und Augen, geschweige denn den stolzen Mund geküßt, der mir ein so beseligendes Geständnis gemacht hatte.

Was dann weiter geschah, nahm keinen so dramatisch bewegten Verlauf, wie in der Novelle. Bald nach unserer heimlichen Verlobung reiste ich in den Herbstferien mit den beiden Vettern nach Thüringen. Als Gymnasiasten im letzten Semester wurden uns in Jena von einem dortigen Corps gastfreundliche Ehren erwiesen, durch die man uns zum späteren Einspringen ködern wollte. Es waren auch sonst vergnügliche Tage, mir insbesondere verklärt durch das verschwiegene Liebesglück, das ich, wie ich meinte, sicher aufgehoben daheim zurückgelassen hatte, und von dem mein Skizzenbüchlein auf jeder Seite in überschwänglichen Liedern zu erzählen wußte. Die Krone all unserer Wandererlebnisse war die Rast in Kochberg, wo uns die alte Mama Stein und Onkel Altenstein aufs liebenswürdigste mehrere Tage beherbergten. Mit wie ehrfürchtiger Andacht betrachtete ich in den Goethezimmern alle Spuren, die die Hand unseres größten Dichters darin zurückgelassen hatte. Ihn sah ich natürlich unerreichbar hoch über mir. Daß aber die Urenkelin seiner Frau von Stein ihren Ahnen ebenbürtig sei, stand mir über allem Zweifel.

Doch aus dem seligen Traum, den ich in diesen Frühlingstagen geträumt hatte, sollte ich gleich nach der Rückkehr unsanft geweckt werden.

Die gute Tochter hatte es nicht über ihr Gewissen gebracht, das Geheimnis ewiger Liebe und Treue, die wir uns gelobt hatten, der Mutter zu verschweigen. Natürlich hatte dann auch der Vater davon erfahren, und beiden Eltern war es nicht zu verdenken, daß sie klüger waren als ihr Kind, und einen jungen Menschen, dem noch das Abiturientenexamen bevorstand, nicht als zukünftigen Eidam betrachten wollten.

Auch ich verdachte es ihnen nicht, als mir Felix im Schulzimmer berichtete, wie er es zu Hause gefunden hatte. Freilich, über den »Verrat«, dessen ich seine Schwester anklagte, war ich tief empört. Den Eltern aber dachte ich »männlich« gegenüberzutreten und für das, was ich getan und ferner zu tun entschlossen war, offen einzustehen.

Es sollte nicht dazu kommen. Ich wurde in der Villa draußen ganz wie sonst, als wenn nichts geschehen wäre, empfangen, von der Mutter mit schmeichelnder Zärtlichkeit, vom Vater treuherzig wie sonst, kaum daß in seinem guten, biederen Gesicht ein leiser Zug von Ironie sich bei meiner Begrüßung entdecken ließ. So oft ich anfangen wollte, meine Beichte samt allen mildernden Umständen und den festen Vorsätzen für die gemeinsame Zukunft vorzubringen, wurde ich durch irgendeine freundliche Frage nach unseren Reiseabenteuern, meinen Versen oder dem Befinden meines Vaters unterbrochen. Ich erkannte, daß man entschlossen war, das, womit es mir heiliger Ernst war, als eine Kinderei, einen Schülerstreich zu behandeln, den man einem leichtherzigen angehenden Poeten zugute halten, aber beileibe nicht ernst nehmen müsse.

Ob dies Verfahren den Umständen nach das gescheiteste war, da so jeder heftige Auftritt, der zum Bruch geführt hätte, vermieden wurde, ist mir noch lange zweifelhaft geblieben. Daß es nicht das gütigste war, steht mir auch heute noch fest. War ich wirklich der Sohn des Hauses gewesen, für den man mich ausgab, so hätte ich erwarten dürfen, daß man trotz meiner blutjungen Jahre mich nicht als ein Kind behandelt und den Schmerz, den man mir bereiten mußte, durch ein wenig Herzenswärme zu lindern gesucht hätte. Statt dessen wollte die »Goldmama« auch die poetischen Ergüsse meines Grimms und Grams, die ich ihr nicht vorenthielt, so oft sie nach meinen Versen fragte, nur als freie Phantasien ansehen, und zu einem vertrauten Aussprechen zwischen uns ist es nie gekommen.

Auch nicht zwischen mir und meiner verlorenen Geliebten. Meine Besuche in der Villa waren natürlich selten geworden und beschränkten sich immer nur auf wenige Stunden. Doch wäre auch in diesen Gelegenheit genug gewesen, unter vier Augen sich wenigstens ein letztes Mal sein Leid zu klagen. Sie aber wich mir beharrlich aus. Felix hinterbrachte mir zwar, daß er sie oft in Tränen aufgelöst finde. Ich erlaubte mir sarkastische Zweifel daran zu äußern, daß ich dem kühlherzigen Freifräulein diese Tränen entlockte, und verschmähte es nun eigensinnig, eine letzte Unterredung gewaltsam herbeizuführen. Und so blieb es bis zum Ende. Im Frühjahr verließ die Familie Schöneberg, um nach Kochberg zurückzukehren. Ich fand mich zum Abschiede, der von seiten der Eltern scheinbar der herzlichste war, am Bahnhof ein. Die Tochter reichte mir durch das Wagenfenster ihre kleine Hand im Handschuh, ohne ein Wort hinzuzufügen, und die Lokomotive entführte mir das Bild dieses kurzen, trügerischen Jugendglücks auf Nimmerwiedersehen.

Als ich sieben Jahre später nach München berufen wurde, schrieb die »Goldmama«, von der ich seither nie mehr ein Wort gehört oder gesehen hatte, im Auftrage des Großherzogs an mich, um anzufragen, ob ich nicht vorzöge, statt in München in Weimar am Hofe zu leben. Ich wußte, daß die Tochter Hofdame der Frau Großherzogin geworden und noch unvermählt war, während ich meine junge Frau in mein neues Leben hinausführte. Erst einige Jahre später ging das Freifräulein eine Ehe ein mit einem viel älteren Manne aus ihren Kreisen, dem sie zwei Knaben brachte. Sie selbst ist früh gestorben, und von all den Ihrigen habe ich nur sehr spät einmal den Bruder wiedergesehen, der von seinem Kochberg aus mich nur noch einmal an sein Dasein erinnert hatte, als er mir das Manuskript eines von ihm verfaßten Trauerspiels schickte, das schon in der Zeit unseres »Klubs« schwerlich unseren Beifall errungen haben würde.

*

Nach dieser ersten schmerzlichen Lebenserfahrung war ich gegen alle leidenschaftlichen Anwandlungen eine gute Weile gefeit. Ich glaubte, das »schwächere« Geschlecht nun hinlänglich kennen gelernt zu haben, und verhärtete mich gegen etwaige neue Versuchungen, seiner »Tücke« und »Falschheit« zum Opfer zu fallen, durch blutige Hohnverse im Heineschen Stil, in denen ich mir ungemein erwachsen und überlegen vorkam.

Zum Glück aber wurde ich von allen Nachwehen meines tollen Liebesfiebers bald geheilt, als ich in die gesunde Luft des Kuglerschen Hauses eintrat. Nicht, als ob das Bild meiner Jugendflamme so rasch in mir erblaßt wäre. Ich hörte aber auf, in meiner Wunde zu wühlen und lyrisches Gift hineinzuträufeln, und gewann es über mich, an das seltsam rätselhafte schöne Gesicht zu denken, ohne weiter darüber nachzugrübeln, wie das wohlerzogene junge Herz sich so rasch hatte verschenken und wieder zurücknehmen können.

Auf den früheren Blättern meiner »Jugenderinnerungen« habe ich die Menschen, die im Kuglerschen Hause wohnten oder dort ein und aus gingen, geschildert. Ich brauche nichts hinzuzufügen, um es verstehen zu machen, daß meine aufstrebende Jugend hier besser aufgehoben war als in der Schöneberger Villa. Die Tochter des Hauses, die später die Meine werden sollte, war freilich um vier Jahre jünger als ich, in jenem harmlosen Backfischalter, das nur zu einem lustigen Verkehr auf dem Neckfuß angetan war. Je mehr sie heranwuchs, je liebenswürdiger sich all ihre Gaben und Talente, die sie von den trefflichen Eltern ererbt hatte, entfalteten, je anziehender erschien sie mir wie allen anderen Freunden des Hauses. Doch nur sacht und unvermerkt verwandelte sich das geschwisterliche Gefühl, das mich mit ihr und ihren jüngeren Brüdern verband, in ein wärmeres von anderer Art, bis mir zuletzt ein Leben ohne sie als ein unfaßbarer Gedanke erschien, so wenig ich mir vorstellen konnte, wie ich es ertragen sollte, sie als Frau eines anderen zu sehen. Einen bestimmten Zeitpunkt aber, in welchem das geschehen wäre, was man »Verlieben« nennt, wüßte ich überhaupt nicht anzugeben. Wir wurden nur immer klarer darüber, daß es ein Naturgesetz sei, einander anzugehören, daß eins dem anderen zu jedem reinen und vollen Erfassen und Genießen des Lebens unentbehrlich geworden war. Daß dies Bewußtsein sich nicht als ein laues, behagliches Gewohnheitsrecht geltend machte, sondern, wenn es durch eine äußere Störung gefährdet schien, sich mit leidenschaftlicher Gewalt dagegen auflehnte, habe ich mehr als einmal erfahren müssen, in den heftigsten Sehnsuchtsschmerzen, während ich, von meiner Braut getrennt, ein Jahr in Italien zubrachte, dann in dem Freudensturm des Wiedersehens, endlich durch das Fieber der Nostalgie, an dem ich, wie ich früher berichtet habe, in der Pfalz erkrankte. Als dann vollends nach kurzen acht Jahren des reinsten, innigsten Miteinanderlebens der Tod mir die geliebte Frau von der Seite riß, empfand ich die Beraubung so tief, als wäre mir die linke Hand vom Rumpf getrennt worden und ich stände ratlos da, wie ich mich mit der rechten allein behelfen sollte.

Daß ich für das verlorene Glück je einen Ersatz finden könnte, war mir undenkbar. Überdies, wenn ich mich auch in meinem Innern gerade am Eigensten und Besten verarmt fühlte, wie viel war mir noch geblieben! Vier liebe, begabte Kinder, in deren Erziehung meine teure Schwiegermutter sich treulich mit mir teilte, der warme tägliche Verkehr mit den brüderlichen Freunden Adolf Wilbrandt und meinem jüngeren Schwager Hans, die unsere Hausgenossen waren, andere vertraute Freunde, mit denen uns eine lebhaft anregende Geselligkeit vereinigte, und endlich der wirksamste Trost in jedem Lebenskummer: Arbeit, die Seele und Geist erfüllte und mir das Bewußtsein gab, daß ich in freier Luft noch mancherlei zu schaffen hatte.

So lebte ich fünf Jahre hin, in einem helldunklen, wunschlosen Herzensfrieden, ohne zu zweifeln, daß für mein übriges Leben an Mühen und Freuden vollauf ausgesorgt sei. Am wenigsten reizte es mich, mit eigenem Willen diesen sicheren Besitz aufs Spiel zu setzen, um einem leidenschaftlichen Phantom nachzujagen.

Die guten Mächte aber, die meines Lebens walteten, hatten es freundlicher mit mir vor.


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