Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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Das Krokodil.

Am 24. Oktober trafen wir in München wieder ein.

Hier ging ich nun sogleich daran, einen Plan zur Ausführung zu bringen, der mir sehr am Herzen lag.

Die Spannung zwischen uns Berufenen und den einheimischen Poeten durfte auf die Länge nicht bestehen bleiben. Wenn auch eine Vereinigung alter und junger Dichter und Dilettanten nach Art des Tunnels nicht zu erreichen war, so wollte ich doch wenigstens den Versuch machen, die jüngeren Kollegen zu uns heranzuziehen.

Geibel, den ich in München vorfand, war heftig dagegen. Es kam zu einem stürmischen Auftritt zwischen uns, in dem ich Willen gegen Willen setzte und mich absichtlich nicht mäßigte, um ihm zum Bewußtsein zu bringen, daß ich nicht gesonnen sei, mich seiner Herrschgewalt auch da zu fügen, wo ich es als Pflicht erkannte, nach meiner besten Überzeugung einen anderen Weg zu gehen als er. Der Sturm verbrauste aber, ohne die alte Liebe und Freundschaft zu erschüttern. Die Entschiedenheit, mit der ich dem »Donnerer«, wie wir ihn nannten, gegenübergetreten war, hatte nur die erwünschte Wirkung, daß von da an der Freund mich in meiner Weise gewähren ließ und mir nachsagte, ich sei »sehr jähzornig und nicht leicht zu behandeln«, wozu die Freunde, die mich kannten, lächelten.

Ein sehr willkommener und treuer Mithelfer bei dem schwierigen Unternehmen, Einheimische und Fremde zusammenzuführen, war Julius Grosse. Er lebte damals schon einige Jahre in München, wohin es ihn als der Malerei Beflissenen aus seiner Thüringer Heimat gezogen hatte, war aber, da ich nach Bayern kam, schon endgültig zur Poesie übergegangen, in der er seiner unerschöpflich gestaltenden Phantasie freier die Zügel schießen lassen konnte. Wir nannten ihn »den letzten Romantiker«, der Achim von Arnims Erbschaft angetreten habe, da es auch ihm damals schwer wurde, die zuströmende Überfülle der Motive, Gestalten, lyrischen Stimmungen und geistigen Probleme zu ordnen, den reichen Quell seiner Dichtung zu »fassen« und »zu befestigen mit dauernden Gedanken«.

Seit jenen Tagen, wo er Geibel und mir mit herzlicher Wärme und einer Lauterkeit der Gesinnung, die jede Probe bestand, entgegenkam, bin ich ihm durch alle Wechselfälle unseres Lebens zugetan geblieben. Damals aber war sein Eintreten für uns um so unschätzbarer infolge seiner freien Stellung zwischen den Parteien – kein Berufener, doch auch kein Süddeutscher, und schon vor uns mit einigen der hervorragenderen Münchener, wie Franz Trautmann, Franz Bonn, Hermann Schmid, befreundet und somit zum natürlichen Vermittler geeignet. Hauptsächlich durch ihn kam am 5. November eine erste Zusammenkunft in dem Kaffeehause »Zur Stadt München« zustande. Die oben geschilderte Abneigung der hiesigen Poeten, sich eine offene Meinung ins Gesicht sagen zu lassen, verhinderte aber noch eine gute Weile jene kollegiale Vertraulichkeit, die ich vom Tunnel her gewohnt war. Statt dessen fehlte es nicht an verstärkter Feindseligkeit. So trug unter anderem Bonn bei einer unserer nächsten Zusammenkünfte eine Parodie auf meinen kürzlich erschienenen »Meleager« vor, unter dem Titel »Der brennende Stiefelzieher«. Unter dem Schein harmlosen Scherzes war hier ein reichliches Maß von Bosheit aufgewendet. Ich war überhaupt nicht empfindlich, ließ mich gern zum besten halten und machte natürlich auch diesmal gute Miene zum bösen Spiel. Der Vorfall hatte mich aber belehrt, daß es nicht so leicht sein würde, wie ich gehofft hatte, die tiefgewurzelte autochthone Gegnerschaft zu versöhnen.

Es gelang dies erst, als aus diesen tastenden Anfängen, an denen außer den schon genannten der Maler Teichlein, der Leutnant Neumann, Leonhard Hamm (ein konfuser, grüblerischer Kölner), Karl Heigel, Felix Dahn, Beilhack, Heinrich Reder, Oskar Horn und andere teilnahmen, sich eine Vereinigung wirklich begabter, ernsthafter Talente herausbildete, unter denen hier nur Hermann Lingg, Wilhelm Hertz, Hans Hopfen, Heinrich Leuthold und Max Haushofer genannt sein mögen. Wir kamen einmal wöchentlich für ein paar Nachmittagstunden in einem Café zusammen, und endlich widerstand auch Geibel der Lockung nicht, an den höchst anregenden Sitzungen dieser Poetenschaft teilzunehmen, die sich den Namen der »Münchener Idealisten«, den norddeutsche Kritiker ihr aufbrachten, gern gefallen ließ.

Geibels Gegenwart aber wirkte, obwohl er gern eben Entstandenes von seinem eigenen zum besten gab, nicht immer günstig auf die kameradschaftliche Stimmung. Der Respekt vor ihm und die Wucht seiner Persönlichkeit lähmten das freie Urteil, das ohnehin noch immer befangen genug war. Niemand wagte, wenn er gesprochen hatte, Einwendungen zu machen, und ich war dann der einzige, der sich seiner Autorität nicht schweigend unterwarf, gestützt auf mein altes Freundesrecht und Geibels Besorgnis, meinen »Jähzorn« zu reizen.

Die anderen sahen in mir einen willkommenen Anwalt und Volkstribun gegenüber seiner autokratischen Gewalt, und so kam es, daß mir bald auch formell der Vorsitz übertragen wurde. Geibel fühlte sich nicht dadurch gekränkt und erschien nach wie vor regelmäßig, soviel es seine Gesundheit erlaubte, im »Krokodil«.

Dies war der Name, den wir unserer Gesellschaft gegeben hatten. Er rührte nicht von Geibels berühmter Krokodilromanze her (»Ein lust'ger Musikante spazierte einst am Nil« usw.), sondern von Hermann Linggs Gedicht:

Das Krokodil zu Singapur.

        Im heil'gen Teich zu Singapur
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämlicher Natur
Und kaut an einem Lotosstiel.

Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch wenn ein schöner Tag ist, lacht's.

Der erhabene Charakter dieses Amphibiums schien uns trefflich zum Vorbild idealistischer Poeten zu taugen, und wir hofften, in unserem Münchener »heiligen Teich« dermaleinst ebenso gegen die schnöde prosaische Welt gepanzert zu sein, wie jener uralte Weise, der nur noch für den Wechsel der Temperatur empfindlich war.

Von einem befreundeten Bildhauer wurde ein Krokodil in Ton modelliert, an dessen Sockel die verschiedenen Reptile, nach denen wir uns genannt hatten, in hieroglyphischen Zügen eingegraben wurden. Ich – infolge meiner Lazertenlieder der Eidechs zubenamst – bewahre diese Reliquie noch heute. Die aus Pappendeckel gefertigte Pyramide, die unser Protokollbuch enthielt, von einem der Mitglieder, dem sonst ganz unproduktiven Lichtenstein, in Sonetten abgefaßt, ist leider verloren gegangen. Geibel selbst, das »Urkrokodil« (wegen jener Romanze vom lustigen Musikanten), ging mit liebenswürdigem Humor auf den Maskenscherz ein und dichtete zwei weitere Krokodillieder. Eines derselben hat er in seine »Spätherbstblätter« aufgenommen (»Ich bin ein altes Krokodil, ich sah schon die Osirisfeier«). Ein zweites, noch ungedrucktes, möge hier seine Stelle finden:

In ruentis alvo Nili
Quo vescuntur crocodili?
Aethiopum carne vili.

Praeter hoc in omni mundo
Haustu clari sunt profundo
Cerevisiam bibundo.

At post Monacense vinum
Malum venit matutinum,
Luctum quod vocant felinum.

Tunc in ripam conscendentes,
Caudas rhythmice moventes
Versus vomunt excellentes.

Archicrocodilus
de Nilo.
      

So war's im heiligen Teich, nachdem die ersten frostigen Zeiten überwunden waren, warm und behaglich geworden, wärmer als in dem vielgerühmten »Tunnel über der Spree«. Wer von den Einheimischen sich in den Geist harmloser Krokodilität nicht zu finden wußte, zog sich nach und nach in seinen Schmollwinkel zurück. Gerade die Begabteren aber schlossen sich dauernd an uns an, und mehr und mehr verbreitete sich unabhängig von allem ästhetischen Interesse ein kameradschaftliches Gefühl in dem kleinen Kreise, ähnlich wie sich's in noch jugendlicheren Studentenverbindungen einzubürgern pflegtWilhelm Jensens sehr anders lautende Darstellung in den oben erwähnten »Heimaterinnerungen« ist nur durch persönliche Verstimmung zu erklären. Auch war er während seines kurzen Aufenthalts in München nur ein seltener Gast in unserm Kreise.. Denn auch die paar bemoosten Häupter in unserer Mitte – Melchior Meyr, der erst später hinzutrat, das Ehrenkrokodil Schack, das sich selten blicken ließ, Carriere, der den Professorentalar ablegte, sobald er sich als Dichter gab –, sie alle plätscherten in der kristallinischen Flut des Musenteichs wie in einem Jungbrunnen herum. Es fehlten eben hier die würdigen alten Herren, die hohen Staatsbeamten, Schulräte, pensionierten Majore, die im »Tunnel« die Mehrzahl gebildet hatten, und weder ein pedantisches Zensurenerteilen fand statt, noch konnte es vorkommen, daß ein geschätztes älteres Mitglied ein endloses Heldengedicht zum besten gab, wie in der Gesellschaft der »Zwanglosen« der alte Hofrat Martins seine botanische Forschungsreise in das brasilianische Palmenland in den sanft einlullenden Oktaven seiner »Suitramsfahrten« vorgetragen hatte. Das Langweilige, wenn es selten einmal auftauchen wollte, wurde sofort mit einem Witz unschädlich gemacht, während irgendein wahrhaft poetisches Produkt zuweilen die gründlichsten Debatten anregte. Das alles nicht in dem Ton von Leuten, die ihre Weisheit an den Mann bringen wollen, sondern wie sich Freunde rückhaltlos gegeneinander aufknöpfen, wobei zuweilen ihre innersten Gegensätze zutage treten. Aus der langen Reihe der Jahre aber, in denen die Krokodile wöchentlich einmal sich zusammenfanden, ist mir nicht ein einziger Fall erinnerlich, wo infolge eines Streits eine Verstimmung entstanden, das trauliche Einverständnis gestört worden wäre. Auch nicht, nachdem wir vom Bier zum Wein übergegangen waren, der hitziger ins Blut ging.

Wilhelm Hertz hatte, da der Teich einmal wieder heimatlos geworden war, uns beredet, bei einem schwäbischen Landsmann uns niederzulassen, einem Weinwirt am Dultplatz, namens Murschel, der außer seinem recht trinkbaren Schillerwein uns durch das offene Feuer in der Trinkstube imponierte, über dem er auf einem Rost vor unseren Augen die saftig zischenden Fleischstücke briet. Hier verbrachte das Krokodil vier sehr nahrhafte, vergnügliche Winter, deren erster dadurch denkwürdig war, daß Geibels sechzigste Auflage durch ein Souper gefeiert wurde, zu welchem ein anderer frisch Belorbeerter, Andreas May, der eben im Volkstheater einen Preis davongetragen, den Champagner lieferte. Der letzte Winter bei dem schwäbischen Küchenmeister (1869) wurde durch eine solenne Strohlotterie verherrlicht. Jeder war verpflichtet, seiner mit Stroh umwickelten anonymen Liebesgabe ein Gedicht hinzuzufügen, und ich hatte mir den Spaß gemacht, einer Flasche Punschextrakt ein Blatt beizugeben, auf welchem ich die sämtlichen Mitglieder in etwas stacheligen Versen aufmarschieren ließ, doch nur wie Harlekin im Fasching mit der Pritsche schlägt. Zum Schluß kam ich selbst an die Reihe, indem ich alles Unfreundliche anführte, was die Münchener Übelwollenden gegen mich vorzubringen pflegten. Es sah so aus, als habe sich einer unserer Unfreunde die Tarnkappe zunutz gemacht, um unsere Festfreude zu stören, oder gar einer der Unseren sich vielleicht für eine etwas scharfe Kritik an mir rächen wollen. Die betreffenden Strophen lauteten:

Doch es fehlt im schönen Kreise mir noch ein geliebtes Haupt.
Dein gedenk' ich, o Paul Heyse. Hast du wirklich schon geglaubt,
Heute frei hier auszugehen, wo der Spötter Pfeile schießt?
Nein, dich hab' ich ausersehen als das Hauptstück – last not least.

Denn es waschen dir, der Heimat echtem Sprößling, bis ans Grab
Weder Bock noch Isarwasser jemals den Berliner ab.
Deine Muse, ob sie stets auch für des Südens Töchter brennt,
Gleicht aufs Haar der Holden, die man eine »kühle Blonde« nennt.

Nie wirst du vergessen machen, trotz dem echt blauweißen Ehstand,
Daß dem Sande du entsprossen, der umufert deinen Spreestrand,
Und so wird, was du beginnen magst, zu ernten Lob und Ruhm,
Alles doch im Sand verrinnen als ein Stück Berlinertum.

Aber nicht zu Gram und Trauer stimme dich dies herbe Wort:
Auf dem Felde der Kalauer lebt dein Name ewig fort.
Werde endlich klug, Verehrter, und ergreife nur dein Glück:
Zieh als Kladderadatschgelehrter in die Heimat dich zurück.

Laß dein episches Geflöte, laß die tragische Poesie!
Der berufne »junge Goethe« wird ein alter Goethe nie.
Höchstens als Novellendichter kann man dich noch gelten lassen,
Doch im Kreis der wahren Lichter muß dein künstlich Gas erblassen.

Diesen Spruch in aller Freundschaft bitt' ich mir nicht nachzutragen.
»Darum, Jutster, keene Feindschaft!« pflegt man in Berlin zu sagen.
Wer so gerne spaßt, muß billig Spaß verstehn. Und nun zum Schluß
Allen mich empfehlen will ich.

Dixi           Der Anonymus.

Hierüber entstand erst eine dumpfe Bestürzung, dann ein brausender Unwille, da die guten Gesellen ihren Vorsitzenden nicht ungestraft verspotten lassen wollten, bis Robert von HornsteinDer uns allen befreundete Liederkomponist. Außer ihm genossen noch zwei andere Nicht-Dichter ein Gastrecht im heiligen Teich. der Maler Theodor Pixis und der Bildhauer des Fischbrunnens Konrad Knoll., den ich allein eingeweiht hatte, lachend mit der Wahrheit herausplatzte und die verlegene Spannung sich in eine allgemeine Heiterkeit auflöste.

Der einzige, dem ein hämischer Streich dieser Art zuzutrauen gewesen wäre, war schon seit Jahren aus unserem Kreise geschieden. Ich muß hier den Namen Heinrich Leutholds nennen, weil nach dem beklagenswerten Ausgang des Unglücklichen mehrfach die Meinung laut geworden ist, die geringe Förderung und Anerkennung seines Talents, die er in München gefunden, habe seinen Geist zerrüttet. Er sei eben eines der verkannten Genies gewesen, die der Widerstand der stumpfen Welt in Wahnsinn und Tod getrieben. Diese Legende zu zerstören, liegt mir zur Steuer der Wahrheit und Gerechtigkeit am Herzen. Denn weder »verkannt« noch ein »Genie« war der merkwürdige Mensch, der aus der Schweiz zu uns herüberkam und jeden von uns, dem er begegnete, schon durch seine äußere Erscheinung, mehr noch durch sein Talent interessieren mußte.

Eine hohe, kraftvolle Figur, auf der ein bleicher Kopf mit scharfen, regelmäßigen Zügen saß, das Haar kurz geschoren, um den stets etwas bitter gerümpften Mund ein graublonder Schnurrbart, an dem kräftigen Kinn ein Knebelbärtchen. Er sprach mit einer rauhen Stimme und stark schweizerischen Kehllauten, stoßweise, seine Worte mit großzügigen Gebärden begleitend.

Wer ihn ins Krokodil einführte, weiß ich nicht. Doch machte er sofort Aufsehn durch einige seiner Gedichte von jener hohen Formvollendung, die ihn als einen leidenschaftlichen Platenverehrer ankündigte. Nicht minder erregte er unsere Aufmerksamkeit durch die schneidende Kritik, die pessimistische Grundstimmung seines Geistes, so daß wir der Meinung waren, eine höchst wertvolle Akquisition an ihm gemacht zu haben.

Die Jüngeren wurden seine treuen Anhänger, Geibel verband sich mit ihm zur Herausgabe von Übersetzungen französischer Lyrik, ich zog ihn in mein Haus, wo er besonders zu Wilbrandt bewundernd aufsah, und so ging man längere Zeit in einem losen freundschaftlichen Verkehr mit ihm um, der sich nicht fester und wärmer gestalten konnte, da eine unbezwingliche innere Unzufriedenheit ihm und uns zuweilen die besten Stunden verdarb.

Er machte mit zynischer Naivität kein Hehl daraus, daß er vom Neidteufel besessen war. »Wenn ich etwas Schönes lese, so ärgere ich mich; wenn ich aber etwas recht Schofles in die Hände bekomme, freue ich mich!« – bekannte er ohne jedes Bedenken. Denn da er im Grunde für seine Poesie keinen tieferen seelischen Gehalt in sich hatte, nichts wahrhaft Eigenes und Bedeutendes auszusprechen sich gedrungen fühlte, sondern bei seinem Dichten nur einen virtuosen Formtrieb betätigte, wurde ihm nie so herzlich wohl in seinem Innern, daß er auch anderen ihre stille Befriedigung gegönnt hätte. Mehr als einmal geschah es, daß er bei einer munteren Bowle, die eine behagliche Stimmung erzeugte, irgendeinen, dessen Augen besonders vergnüglich glänzten, zur Zielscheibe der empfindlichsten Bosheiten ersah, nur damit noch einem anderen so innerlich unwohl werden sollte wie ihm selbst.

Diese kleinen gelegentlichen Schadenfreuden ließen wir ihm hingehen, obwohl wir ihm nicht zugestehen konnten, daß er Ursache habe, mit seinem Schicksal zu grollen, wenn wir auch manche seiner grimmigen Launen dem Druck der Armut, der auf ihm lag, zugute hielten. Doch daß er noch keinen Weltruhm erlangt, durfte er Gott und Welt nicht zum Vorwurf machen. Sein unfertiges Epos »Penthesilea« in wunderlich galoppierenden, prunkvollen Anapästen ohne eigentliche Gestaltungskraft, seine Platen nachempfundenen melancholischen Verse und die wenigen trefflichen Übersetzungen Berangers, Brizeux' und Lamartines wurden ihm noch über Verdienst gedankt, und das warme Interesse so vieler guter junger Freunde war doch wahrlich auch kein geringer Lebensgewinn.

Gleichwohl trieb ihn sein Dämon, auf einen aus unserm Kreise ganz aus hellem Himmel einen giftigen Pfeil abzuschießen. In einem der Münchener Winkelblättchen erschien ein Spottgedicht gegen Julius Grosse, als dessen Verfasser man allgemein Leuthold bezeichnete. Als ich ihm beim nächsten Krokodil das Blatt vorhielt, überflog seine fahle Wange eine dunkle Röte; er sprach kein Wort, stand auf und verließ uns, um nie wieder den Fuß über unsere Schwelle zu setzen.

Der Witz jener Strophen war so gering, der Anlaß dazu so unerfindlich gewesen – nur der Wahnsinn, der ihn schon damals umlauerte, konnte erklären, wie der Unbegreifliche sich zu diesem schnöden Verrat an alter, guter Freundschaft hatte fortreißen lassen. Er war im Jahre 1864 nach Stuttgart gegangen, wo er in der Redaktion einer Zeitung sein seltsames Wesen forttrieb, wovon manches Wunderliche verlautete, dann auf kürzere Zeit zu uns zurückgekehrt, wo er sich aber durch allerlei Brutalitäten, deren jener Angriff auf Grosse der letzte war, unmöglich machte, bis er in seine Heimat zurückkehrte, um dort ein Ende zu finden, dessen Tragik alles, was er früher gesündigt haben mochte, in milderem Licht erscheinen ließ, als Symptome der geistigen Erkrankung, die seine reich angelegte Natur unterwühlen und ihn früh in die Nacht hinunterreißen sollte.

Ein desto erfreulicherer Gast war Joseph Viktor Scheffel, der im Winter 1857 sich bei uns einfand.

Von meinem früheren Begegnen mit ihm in Rom und Sorrent habe ich in der Italienischen Reise berichtet. Nun, da er vier Jahre später in mein Münchener Haus trat, wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Auch die Krokodile waren hocherfreut, den damals schon gefeierten jungen Poeten in ihrer Mitte zu sehen, wo er sich freilich nach seiner Art etwas steif und wortkarg verhielt, selten zu bewegen war, etwas vorzulesen, und hinter halbgeschlossenen Lidern vor sich hinzuträumen schien, bis der Humor in ihm aufwachte und ein im trockensten Ton hingeworfenes Scherzwort Zeugnis von seiner frischen Geistesgegenwart gab.

Dieser Münchener Aufenthalt sollte leider ein jähes, trauervolles Ende finden. Im Februar wurde seine schöne, liebenswürdige Schwester, die ihm nachgereist war, vom Typhus hingerafft. Er hat seitdem den Boden Münchens nie wieder betreten, und ich selbst sollte ihn nur ein einziges Mal, in seinem väterlichen Hause zu Karlsruhe, wiedersehen. Unser Freundschaftsverhältnis aber blieb bis an seinen Tod in alter Herzlichkeit bestehen, wofür noch zuletzt die Beiträge zeugten, die er mir zu dem »Neuen Münchener Dichterbuch« sandte, und ein warmherziger, kalligraphisch ausgestatteter dichterischer Gruß zu meinem fünfzigsten Geburtstage.

Julius Grosse, der im Jahre 1905 als Generalsekretär der Weimarer Schillerstiftung starb, hat in seinen »Lebenserinnerungen« (»Ursachen und Wirkungen«. Braunschweig, Georg Westermann. 1896) die Lebensgeschichte des Krokodils, sein Wachsen, Blühen und endliches Absterben ausführlicher behandelt. Auch solche Gesellschaften unterliegen ja wie alles Lebendige dem Gesetz des Werdens und Wandelns und können von Glück sagen, wenn sie sich nicht selbst überleben, sondern sich auflösen, sobald sie fühlen, daß der innere Trieb, dem sie entsprungen waren, erstorben ist. Als die Bedeutenderen unter uns herangereift waren und ihren Weg gefunden hatten, empfanden sie nicht mehr das Bedürfnis gegenseitiger Kritik. Die freundschaftliche Gesinnung blieb bestehen, aber jeder wußte auch ohne ausdrückliche Bestätigung, was er dem anderen wert war, und an ein Schutz- und Trutzbündnis in literarischen Blättern war von Anfang an nicht gedacht worden. Der einzige unter den Münchener Idealisten, der jonrnalistisch tätig war, Julius GrosseEr redigierte seit 1855 das Feuilleton der Neuen Münchener Zeitung, dann das Morgenblatt der bayerischen Zeitung bis Ende 66, 1869 mit Grandaur zusammen die Münchener Propyläen., ließ sich so wenig zu irgendwelchen kameradschaftlichen Liebesdiensten herbei, daß er meinem Ludwig dem Bayern sogar unfreundlicher, als mir nötig schien, mitspielte. Ich selbst hatte mich nur ein Jahr lang (1858) als Redakteur versucht, da ich das bisher von Berlin ausgegangene Literaturblatt zum Deutschen Kunstblatt zu leiten übernahm. Ich ging mit hohen Absichten und Hoffnungen daran. Aller kritische Kleinkram sollte ausgeschlossen bleiben, kein Werk besprochen werden, dem nicht vorwiegend Gutes nachzusagen sei, und wo wir tadeln mußten, eine eindringliche Begründung des Urteils nicht fehlen. Ich hatte die Freude, Friedrich Vischer zum Mitarbeiter zu gewinnen, anderer trefflicher Gelehrter zu geschweigen. Aber ich wußte noch nicht, daß man einen weiteren Leserkreis nicht heranzieht und festhält, wenn man ihm langatmige kritische Erörterungen zu lesen zumutet. Das gewöhnliche Publikum will feuilletonistisch unterhalten sein und zieht witzige Bosheit einem wohlabgewogenen ästhetischen Urteil vor. So erlahmte die Teilnahme, auch des Verlegers, und am Ende des Jahres wurde mit einem Defizit das Blatt zu Grabe getragen. Daß ich für keinen der Krokodile in seinen Spalten eine Lanze eingelegt, wurde mir nicht besonders zum Verdienst gerechnet. Dagegen zog ich mir durch einen Artikel in der letzten Nummer über die »Poetik« eines sehr einflußreichen Leipziger Schriftstellers, der allerdings schonungslos die Schwächen des Buches aufdeckte, den lang nachwirkenden Haß des Verfassers zu, während Wilbrandt, der den bösen Pfeil abgeschossen hatte, durch die Anonymität aller Mitarbeiter gedeckt, sich der fortdauernden Hochschätzung des Erzürnten zu erfreuen hatte.

Unser ästhetisches Kredo hatten wir in den zwei Münchener Dichterbüchern, 1862 von Geibel, 1882 von mir herausgegeben, durch die Auswahl der darin veröffentlichten Dichtungen bekannt. Freilich, eine »Richtung« zu vertreten oder gar eine Kampfstellung einzunehmen, war uns nie eingefallen. Auch hatten wir den Idealismus, zu dem wir uns freudig bekannten, niemals so verstanden, als ob seine Aufgabe eine Entwirklichung der Natur und des Lebens zugunsten eines konventionellen Schönheitsideals sein könne. Goethe hatte schon gesagt, was auch uns als das Entscheidende einleuchtete: »Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.« Und so konnten wir einen Gegensatz von Realismus und Idealismus nicht anerkennen, da wir uns eines hinlänglichen Wirklichkeitssinnes bewußt waren und den Wert einer dichterischen Produktion zunächst nach der Fülle und Wahrheit des realen Lebensgehaltes maßen, der sich darin offenbarte. Wo wir den vermißten, konnte uns kein Reiz und Adel der äußeren Form für die mangelnde tiefere Wirkung entschädigen. Doch begriffen wir auch nicht, daß irgendeine Form, wie sie von großen Vorgängern überliefert war, dem Geist ein Hindernis sein könne, seine Lebenskraft zu erweisen. Daß Formen und Gesetze auch in der Kunst dem Wandel unterworfen sind, wie hätten wir das leugnen können! Aber die absolute Formlosigkeit, die einige Jahrzehnte später der Naturalismus predigte, der schrankenlose Individualismus, der in der Poesie wie in den Sitten der Gesellschaft einzureißen anfing, erschien uns nur als ein Krankheitssymptom, das schon zu anderen Zeiten aufgetaucht und von der unverwüstlichen Regenerationskraft unseres Volkes überwunden worden war. Daß diesen anarchischen Tendenzen unter anderem auch der Vers im Drama zum Opfer fallen sollte, weil »wirkliche Menschen« nicht in Versen sprächen, konnten wir nur belächeln, da uns Hamlet, Lear und Shylock denn doch sehr reale Personen dünkten, und im »Zerbrochenen Krug« selbst moderne Lustspielfiguren ihr Lebensrecht behaupteten, obwohl ihnen ihr Verfasser durch den Vers eine »höhere Wirklichkeit« verliehen hatte.

Darin aber zeigten wir uns nicht nur als Idealisten, sondern als »Ideologen« im Sinne Napoleons, daß es uns völlig an Geschick und Neigung fehlte, in die Zeit hineinzuhorchen und uns zu fragen, welchen ihrer mannigfachen Bedürfnisse, sozialen Nöte, geistigen Beklemmungen wir mit unserer Poesie abhelfen könnten. Da auch wir mitten in der Zeit lebten, konnten wir uns denselben Influenzen, die den Zeitgenossen zu schaffen machten, nicht entziehen, und auch unsere künstlerische Arbeit trug gelegentlich die Spuren ihres Einflusses. Doch war es dann keine bewußte Spekulation, als soziale Nothelfer uns Dank zu verdienen, sondern das eigenste Bedürfnis, uns mit schwebenden Problemen abzufinden, und vor allem blieben wir der alten Maxime treu, daß die Kunst auch das Zeitliche im Licht des Ewigen (sub specie aeternitatis) darzustellen habe.

Und so erschien uns für unser Interesse keine Zeitschranke zu bestehen, da das Menschenwesen seit Anbeginn einer höheren Kultur in seinen Grundtrieben sich gleich geblieben ist. Im Gegensatz gegen die Forderung einer sogenannten Aktualität betonten wir den Anspruch alles »allgemein Menschlichen«, dichterisch gestaltet zu werden, vorausgesetzt, daß es ein »ungemein Menschliches« sei. Es komme nur darauf an, das zeitlich Entlegene uns durch höchste Lebendigkeit und naive Naturgewalt so nahe zu rücken, daß wir es trotz der veränderten Lebensformen als etwas Blutsverwandtes empfänden.

Dieser an sich gewiß richtigen Überzeugung entsproß der verhängnisvolle Irrtum, den auch Friedrich Vischer begünstigte: die höchste Form der Dichtung sei das historische Drama, um soweit allen sittlichen Konflikten einzelner Menschen an Bedeutung und Interesse überlegen, als Völkerschicksale die tragischen Nöte des Individuums an Macht und Würde überragten. Ich gehe hier nicht weiter darauf ein, zu erklären, warum der Idealismus hier scheitern mußte, wie denn selbst die Historien Shakespeares trotz aller Wiederbelebungsversuche ihrer glorreichen Familiengruft nur hin und wieder als Gespenster entsteigen, um eine kurze Weile auf einer unserer anspruchsvolleren Bühnen herumzuspuken und, wenn der ehrgeizige Direktor sich damit als klassisch gebildeter Mann ausgewiesen hat, wieder zu den Schatten hinabzusteigen. Nur eines melancholischen Rückblicks auf meine eigenen Otto III., Ludolf, Ludwig den Bayer kann ich mich nicht enthalten, der großen Namen zu geschweigen, die Freund Geibel in seinem Buchdeckel als zu bearbeitende Bühnenhelden so liebevoll und eifersüchtig aufgezeichnet hatte.

Immerhin, als er im Herbst 1868 für immer aus München schied, durfte er sich sagen, daß sein Wirken dort im Sinne seines königlichen Gönners nicht fruchtlos gewesen sei und eine Spur hinterlassen habe, die eine Weile nachleuchten würde.


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