Paul Heyse
Jugenderinnerungen und Bekenntnisse
Paul Heyse

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Wiener Nachklänge. Meran

Am 1. März traf ich in München wieder ein, voll von den reichen und glänzenden Eindrücken der eben durchlebten Woche. Ich mußte beim nächsten Symposion auch dem Könige darüber berichten, und auf seine Frage, warum von allen Wiener Dichtern sich keiner an den Münchener dramatischen Wettbewerben beteiligt habe, konnte ich ihm nicht verschweigen, was ich mehrfach gehört hatte, daß das Münchener Theater in Wien nicht im besten Rufe stand und man gefürchtet hatte, durch unsere Darstellung ein neues Stück nicht vorteilhaft eingeführt zu sehen.

Der König war sehr betroffen und trug mir auf, ihm Vorschläge zur Hebung unserer Bühne und Ausfüllung der Lücken im Personal, die allerdings vorhanden waren, schriftlich vorzulegen. Ich versäumte nicht, dies alsbald zu tun. Meine unmaßgeblichen Winke hatten jedoch keinen praktischen Erfolg; es blieb alles beim alten.

Vieles von diesem Alten war sehr gut, und die vorhandenen trefflichen Kräfte hätten nur einer fachkundigeren, energischeren Leitung bedurft, um noch Erfreulicheres zu leisten. Auf den ganz unfähigen alten General war aber nur ein geschickter Verwaltungsbeamter »interimistisch« gefolgt, der Intendanzrat Schmitt, der alles Künstlerische, dem er sich nicht gewachsen fühlte, den Regisseuren überließ. Mir war er feindlich gesinnt, da er mich im Verdacht hatte, an seine Stelle treten zu wollen.

Auch er also hatte keinen frischeren Zug in unsere Theaterzustände gebracht. So war unter anderem seit den Mustervorstellungen im Sommer 1854 kein Gast auf der Münchener Bühne erschienen, und es wurde als ein Ereignis betrachtet, daß die Intendanz im März 1861 Frau Lila Bulyowsky ein Gastspiel gewährte. Da sie in manchen Rollen auftrat, für die wir nur eine fragwürdige Vertreterin hatten, und der Reiz der Neuheit mitwirkte, war es natürlich, daß sie sehr bewundert wurde und sogar ein leiser slawischer Anklang in ihrer Sprache sich den Ohren einschmeichelte. Ich fand bei meiner Rückkehr aus Wien sogar die nächsten Freunde unter ihrem Zauber, alte Professoren huldigten der klugen Menschenfischerin mit jugendlichem Feuer, und Geibel besang sie in zärtlichen Versen. Daß ich unter diesen Berauschten der einzig Nüchterne blieb, verdankte ich meinen frischen Eindrücken vom Burgtheater. Ich hatte wieder einmal echte große Schauspielkunst erlebt und war durch kleine Künste nicht zu verführen.

Meine »Grafen von der Esche« legte ich zurück, ohne sie weiter zu versenden, obwohl einige Bühnen danach verlangten. Ich tat vielleicht nicht klug daran. Trotz seiner Mängel, über die ich mir klar geworden war, hätte nach dem Vorgang Wiens das Stück dank seinem packenden volkstümlichen Stoff doch wohl seinen Weg gemacht, auch wenn sich, was mich vor allem zurückhielt, für die Rolle der Mutter nirgend eine Darstellerin fand, die nur von fern an die Rettich heranreichte.

Ich habe aber von jeher vorgezogen, ein Stück lieber gar nicht als unzulänglich aufführen zu sehen, für einen Dramatiker, der die Bühne erobern will, ein bedenklicher Fehler. Da es ihm unter zwanzig oder dreißig deutschen Theatern kaum einmal so gut wird, eine Besetzung zu finden, die ihm ganz genügte, muß er sich bescheiden, eins ins andere zu rechnen. Ich habe das nie über mich gewonnen; und diese Empfindlichkeit gegen eine mangelhafte Verkörperung der Gestalten, die ich in mir getragen, hat mit den Jahren mehr und mehr zugenommen, so daß ich immer häufiger selbst großen Theatern die Erlaubnis zur Ausführung eines Stückes verweigerte, für die sie nicht die geeigneten Darsteller hatten. Ich wußte wohl, daß jedes Publikum an seine Schauspieler glaubt und an ihre Schwächen gewöhnt ist. Es widerstrebte mir aber, was ich mit eigensinniger Liebe so und nicht anders gemacht hatte, in entstellender Form ans Licht treten zu lassen, wie ich auch ein Buch mit vielen sinnstörenden Druckfehlern lieber hätte einstampfen lassen, als es zu veröffentlichen.

Dazu kam, daß, sobald ich an einer Arbeit meine Lust gebüßt hatte, eine neue mein leidenschaftliches Interesse in Anspruch nahm und das Schicksal der früheren mich wenig bekümmerte. Von früh an war mein Respekt vor der sogenannten »Gottesstimme« des Publikums nur gering gewesen, mein Ehrgeiz vollauf befriedigt, wenn mein eigenes Gewissen und die Freunde, auf deren unbestechliches Urteil ich vertrauen durfte, mich darüber beruhigt hatten, daß ich das Meinige getan. Wo dies, wie bei den Eschengrafen, ausblieb, lag mir nichts an dem äußeren Erfolg bei der Menge.

Zunächst wandte ich mich wieder meinem »Ludwig dem Bayern« zu, den mir selbst und zugleich dem Könige und dem Münchener Publikum zu Dank zu machen keine leichte Sache war. Auch fehlte dazu in jenem Frühjahr die reine, glückliche Stimmung. Wir wurden aufgeregt durch Sybels Berufung nach Bonn. In dem Umstand, daß der König ihn nicht halten wollte, sahen wir mit übermäßiger Sorge den Anfang des Endes. (Das Nähere über diese Wendung von Sybels Geschick, an der er selbst nicht von jeder Mitschuld frei war, ist in A. Doves oben erwähntem Aufsatz »Ausgewählte Schriftchen« S. 125 mitgeteilt.) Uns allen schien durch die Entlassung dieses Freundes der Boden unter unseren Füßen unsicher geworden, weit mehr als durch die frühere Entfernung von Dönniges, der aus der unmittelbaren Nähe des Königs in den diplomatischen Dienst verbannt worden war. Am schwersten aber drückte auf mein Gemüt häusliches Unglück, das mir das ganze folgende Jahr verdüstern sollte.

Am 10. April 1861 hatte meine teure Frau ihrem vierten Kinde das Leben gegeben. Zum erstenmal konnte sie sich von der Erschöpfung des Wochenbetts nicht erholen, und bald stellten sich Symptome eines tieferen Leidens ein, die uns Mitte Juli nötigten, auf den Rat der Ärzte die frischere Luft von Tegernsee aufzusuchen. Die erhoffte Besserung blieb aus. Wir mußten uns entschließen, Mitte September nach Meran überzusiedeln, und es begann für meine arme Geliebte, die ihre drei jüngeren Kinder unter der Obhut der Großmutter in München hatte zurücklassen müssen, eine Leidenszeit, der selbst die Kraft ihrer tapferen Seele nicht immer gewachsen war. So lange Furcht und Hoffnung wechselten, fast den ganzen Winter hindurch, konnte ich auf einige Stunden des Tages mich zu einer Arbeit sammeln. An »Ludwig den Bayern« wurde die letzte Hand gelegt, die Novelle in Versen »Rafael« für das Münchener Dichterbuch ins reine gebracht – es gab gute sonnige Stunden, wo man nach einem vom Arzt bestätigten Trugschein der Besserung aufatmete und sich der Freude an dem schönen Fleck Erde und heiteren Zukunftsgedanken hingab. Damals schrieb ich die Novelle »Unheilbar«, die Hoffnung meiner Dulderin auf einen glücklichen Ausgang zu stärken. Im März brachte uns die Großmutter die drei Kinder zu dem Ältesten, der unsere Verbannung bisher allein geteilt hatte, und mein jüngerer Schwager Hans, den auch ein tief tragisches Schicksal elf Jahre später in der Blüte seiner hoffnungsvollen Jugend hinraffen sollte, begleitete die kleine Karawane.

Doch nach den ersten frohen Tagen des Wiedersehens wurde die Stimmung rasch wieder tief verschattet, da kein Zweifel mehr blieb, daß an Rettung dieses teuern Lebens nicht zu denken war. Um mich aufrecht zu erhalten, hatte ich eine dritte Meraner Novelle begonnen, »Der Kinder Sünde der Väter Fluch«. Ich dachte, durch das erschütternde Sujet die Schrecken meiner eigenen Tage und Nächte überbieten zu können. Mittendrin aber versagte mir die bildende Kraft. Ich konnte mir nur noch hin und wieder durch die halb mechanische Übersetzermühe am »Giusti« über die Qual der schleichenden Tage hinweghelfen.

In der Nacht des 30. September entschlief meine geliebte Frau. Am 2. Oktober betteten wir sie auf dem protestantischen Friedhof zu ihrer letzten Ruhe. Mit dem Weibe meiner Jugend hatte ich meine eigene Jugend zu Grabe getragen.


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