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Sehr langsam und oft stehen bleibend, wie wenn er eine schwere Last zu tragen hätte, stieg er den Berg wieder hinauf.
Es war nicht die Sorge, ob seine Kraft der freilich schwierigen Aufgabe gewachsen sein möchte. Die Aussicht, die sich ihm so unverhofft eröffnet hatte, wieder in ein tätiges Leben zurückzukehren, der Welt, die er geflohen, sich wieder anzuschließen, hatte ihn mit so freudigem Mut beseelt, daß er ohne Bedenken noch Schwereres übernommen hätte. Aber die Rücksicht auf Weib und Kind machte ihn unschlüssig. Würde er Juliane zumuten dürfen, in diesem um ein halb Jahrhundert hinter der modernen Kultur zurückgebliebenen Pfahlbürgernest ihr noch junges Leben fortzuspinnen, ihr Kind entweder fortzugeben, oder es auf die Bildung zu beschränken, die den Töchtern der Windheimer Honoratioren zugänglich war? An eine Rückkehr in die Kreise, auf die seine Bildung und die Neigungen seiner Jugend ihn hinwiesen, war nicht zu denken. Aber sollte sich ihm jetzt, da er seine Familie wiedergewonnen und sein Lebensmut sich erneuert hatte, nicht irgendein anderes Feld eröffnen, auf dem er wirken könnte, als die physische und moralische Entsumpfung einer kleinen Stadt und das Ausstreuen einer bescheidenen Saat, die vielleicht erst in Jahrzehnten Früchte tragen würde?
Als er das Kloster wieder erreicht hatte und seine Zelle betrat, fand er Juliane an dem Fenster sitzend, das nach der Stadt hinunterging, auf einem Schemel zu ihren Füßen das Kind, das mit den geschickten kleinen Fingern ein Puppenkleid für Evchen schneiderte.
Greiner schickte Hilde hinaus, mit den andern zu spielen, und berichtete, wie es ihm im Rathaus ergangen sei. Als er fertig war, sah ihm Juliane mit strahlendem Ausdruck ins Gesicht. Oh, sagte sie, wie bin ich glücklich, daß man deinen Wert so erkannt, dir das höchste Ehrenamt übertragen hat! Und du, in deiner Bescheidenheit, hast dir noch Bedenkzeit ausgebeten?
Nun sagte er ihr, welche Gründe ihn zurückhielten. sich den Wünschen der guten Windheimer zu fügen.
Da stand sie auf, und ihr weiches junges Gesicht wurde wie vom Aufleuchten einer tapferen Seele verklärt. Nein, sagte sie, das kann dein Ernst nicht sein! Du kannst nicht zweifeln, daß deine Frau auch in einer finsteren Höhle glücklich sein würde, wenn du neben ihr bliebst. Und nun hier zu leben, an dem Ort, wo ich nach so langen Schmerzen wieder erfahren sollte, was Freude und Frieden ist, – o mein Geliebter, mir ist, als hätte ich eine Dankesschuld gegen diese Stadt, die ich nie abtragen könnte, und wenn du ihr nun aus ihren Nöten heraushilfst, so wird mir sein, als hätte auch ich einen Teil daran, und meine ganze Welt wird in den Mauern dieser kleinen Stadt beschlossen sein.
Sie umarmten sich in tiefer Bewegung und fingen dann noch an, einiges zu besprechen, wie sich's in der nächsten Zukunft gestalten würde. Darin unterbrach sie das Tischglöckchen, und sie kamen überein, von dem Antrag und ihrem Entschluß, ihn anzunehmen, vorläufig noch nicht zu reden. Doch merkten die Freunde an ihrem wunderlich zerstreuten Betragen, zumal der jungen Frau, daß etwas Ungewöhnliches sich ereignet haben müsse, und als Helene geradezu die Freundin fragte, ob sie etwa das große Los gewonnen hätte, sie aber nur stillbeseligt vor sich hin nickte, fand Greiner es angezeigt, das Schweigen zu brechen und der Tafelrunde mitzuteilen, welch wichtige Schicksalswendung der Morgen gebracht hatte.
Ich kann mich nicht dagegen sträuben, sagte er, da auch meine liebe Frau damit einverstanden ist. Bin ich doch auch noch zu jung, um mich irgendeinem Ruf, zu schaffen und zu wirken, entziehen zu dürfen, zumal meine Natur nicht darauf angelegt ist, nur einen Zuschauer bei dem, was Zeit und Leben bewegt, abzugeben, sondern mit Hand anzulegen, und wär' es an eine so beschränkte Aufgabe, daß mein Name in ewigem Dunkel bliebe. Aber ich gestehe, daß es mir doch weh tut, dies freundschaftliche Stilleben nun enden zu sehen. Natürlich wird das Kloster bestehen bleiben, auch wenn sein Prior die Kutte in die Nesseln wirft und in die Welt zurücktritt. Aber wenn ich mir auch für die Zukunft ein Gastrecht unter den Freunden hier oben ausbedinge, – um die alte trauliche Gemeinschaft zwischen den Todsünden und den Kardinaltugenden ist es doch geschehen, und nach einem mühseligen Tagewerk werde ich meinen aufgeregten Kopf nicht mehr durch eine geistliche Nachtmusik zur Ruhe singen lassen.
Alle hatten sehr ergriffen von der unerwarteten Eröffnung dagesessen. Da erhob sich Simon, der während der ganzen Zeit seinen kleinen Sohn angeblickt hatte, und sagte: Wie seltsam, lieber Freund, verschlingen sich die Fäden der menschlichen Geschicke zu einem unerwartet harmonischen Gewebe! Sie haben sich entschlossen, unsern weltabgeschiedenen Bund zu verlassen, und keiner, der Sie kennt, wird nicht den wärmsten Anteil an dem neuen weltlichen Berufe nehmen, der sich vor Ihnen auftut. Gerade heute aber war ich zu der Überzeugung gekommen, daß auch meines Bleibens hier nicht länger sein könne. Ich fühle mich verpflichtet, das junge Menschenleben, das mir vom Geschick anvertraut ist, nicht im Schatten dieser Klostermauern aufblühen zu lassen, so viel Gutes ihm auch hier beschieden sein würde, sondern es in die freie Luft hinauszuverpflanzen. Ich werde mich in der Schweiz ansiedeln, in einer der Universitätstädte, wo ich zugleich als Privatdozent tätig sein könnte, während die freieren Gesetze dort gestatten, einen Knaben ohne konfessionellen Zwang in einer öffentlichen Schule erziehen zu lassen. Denn so sehr mir auch in der bloßen Theorie pädagogische Probleme am Herzen liegen, in der Praxis scheint mir alle Weisheit des erleuchtetsten Erziehers unzulänglich gegen den frischen Hauch, der durch eine Schar gleichaltriger Schüler in einer öffentlichen Schule weht. Diesen Segen soll mein lieber Sohn genießen, in reicherem Maße, als die Windheimer Stadtschule ihn gewähren könnte.
Er hatte kaum geendet, so stand auch Jürgen Rabe von seinem Sitze auf, lachte mit seinem rauhen Baß vor sich hin und sagte dann: Auch ich bitte ums Wort. Hier heißt's wieder mal, aller guten Dinge sind drei, vorausgesetzt, daß auch das, was ich vorzubringen habe, zu den guten Dingen gehört und mir zum Guten ausschlagen wird. Gerade heut morgen hab' ich von einem Verleger und Herausgeber einer neuen Zeitung den Antrag erhalten, die Redaktion dieses Blattes zu übernehmen. Mein Artikel über die Wehrsteuer hat dem Mann so eingeleuchtet und an meinem Stil hat er sich so erbaut, – anderen ist er immer etwas zu sansculott vorgekommen – daß er mich tot oder lebendig für seine Zeitung gewinnen will. Ich hab' ihm vorgestellt, irgend eine Partei zu vertreten sei ich nicht der Mann, und eine ganz neutrale, unparteiische Zeitung könne nicht bestehen. Der verrückte Kerl will aber gerade das einmal probieren, und wenn ich heute nach rechts, morgen nach links, übermorgen gegen die Mitte Hiebe austeile, sei ihm das gerade recht, vorausgesetzt, daß die Hiebe auch säßen und keine Sauhiebe seien. Ihr müßt gestehen, meine Freunde, der Mann ist ein weißer Rabe, und wenn er sich mit Jürgen Rabe assoziieren will, kommen zwei Raben zusammen, die der Welt was vorkrächzen werden, was diese noch nicht gehört hat. Mir kann daher nichts erwünschter sein, als daß unsere bisherige Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht sich auflöst, so sehr ich ihr dafür dankbar bin, daß sie mich am wenigsten zahlungsfähigen Querkopf so lange in ihrer Mitte geduldet hat. Wahrscheinlich werde ich, wenn mir in der Hitze des Gefechts die Wurfgeschosse allzu nah' am Schädel vorbeifliegen, noch manchmal mit lebhaftem Heimweh an den Frieden des Nonnbergs zurückdenken.
Bei den letzten Worten wurde seine Stimme unsicher. Er setzte sich rasch und drückte sein Gesicht gegen Hildes Köpfchen, die neben ihm saß. Alle wunderten sich im stillen, daß diesen scheinbar so wenig empfindsamen Menschen eine so warme Rührung übermannt hatte bei dem Gedanken, aus dem Verein seiner Freunde scheiden zu sollen.
Es blieb dann eine Weile still am Tische, die Kinder standen geräuschlos auf, sich ins Freie zu begeben, Helene setzte sich zu Juliane und sprach leise in sie hinein, da erhob sich endlich auch Carus und sagte: Halten Sie es nicht für unfreundschaftlich, lieber Freund, daß ich der letzte bin, Ihnen Glück zu wünschen. Aber freilich, so herzlich ich es Ihnen gönne, aus diesem unserm Schmollwinkel herauszukommen, wo wir wie der selige Achill in seinem Zelt gesessen und den Kampf der Welt draußen untätig haben toben lassen, so menschlich werden Sie den Neid finden, mit dem ich Sie in Ihr neues Leben hinausschreiten sehe. Daß meine herzlichsten Wünsche Sie dabei begleiten, brauche ich nicht zu versichern. Was meine Wenigkeit betrifft, da ich's nun einmal verspielt habe, so werde ich Ihnen dankbar sein, wenn Sie mich wenigstens als Ihren geheimen Sanitätsrat und Leibarzt fernerhin in Ihrer Familie dulden und mir erlauben wollen, in meiner stillen Zelle meine Heusammlung stumpfsinnig zu vermehren und mit der Zeit selber einzutrocknen, wie eine Pflanze, die man zwischen Löschpapier legt.
Ein so bitter ironischer Ton klang aus diesen Worten heraus, daß die andern, vor allen Greiner, das innigste Bedürfnis fühlten, irgend etwas vorzubringen, was die beklommene Stimmung wieder zu lösen vermöchte. Doch ehe irgendeinem das befreiende Wort auf die Zunge kam, hatte Carus, sich grüßend gegen die Tafelrunde verneigend, den Saal verlassen.