Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Fünftes Kapitel.

Es war sehr kühl geworden nach dem Untergang der Sonne. Ein lebhafter Wind spielte um die Wipfel der Bäume, und Helene zog ihr leichtes Mäntelchen fester um die Schultern. Statt den Fußweg durch den dunklen Buschwald einzuschlagen, wandte sie sich rechts nach der Fahrstraße und beschleunigte ihren Schritt. Die Nacht war sternklar und eine zarte Mondsichel stand im tiefen Blau. Der breitere Weg lief in weitem Bogen um den Berg herum, auch am Rande von niederem Gehölz eingesäumt, zwischen dessen Lücken man auf die Felder und Pflanzungen der Tiefe hinabsah. Kein Laut ringsum, als weit in der Ferne zuweilen Hundegebell und der klagende Ruf eines Käuzchens im Eichenwald.

Helene ging so in Gedanken, daß ihr nicht einfiel, ein Wort an den langen Menschen zu richten, der ihren Fersen folgte. Das wohlige Nachgefühl des eben Genossenen wich einer dumpfen Betrübnis über ihr gescheitertes Unternehmen. Wie sollte sie sich ein Herz fassen, der Freundin zu berichten, daß alle Hoffnung vergebens sei! War sie's denn aber auch? War's möglich, daß über den Abgrund, der sich zwischen diesen zwei einst so fest verbundenen Menschen aufgetan, nie mehr eine Brücke zu schlagen sei? Dann sah sie wieder das steinerne Gesicht des Mannes, der das Wort »niemals« ausgesprochen hatte, und ein trostloses Gefühl beklemmte ihr Herz. Wenn es nun doch unsühnbare Verschuldungen gäbe und keine Reue und Buße Macht hätte, Geschehenes ungeschehen zu machen und Erinnerungen, die sich in ein reizbares Herz eingeätzt, auszulöschen? – –

In solchen hin und her wogenden Betrachtungen war sie rascher als sie gedacht am Fuß des Berges angelangt und wollte vor dem Stadttor ihren Begleiter verabschieden. Der aber schüttelte den Kopf, er habe Befehl, bis zum Gasthof mit ihr zu gehen. So betraten sie die Stadt, die schon in tiefen Schlaf versunken schien, obwohl es kaum neun geschlagen haben konnte. Nur in wenigen Häusern brannte noch Licht, kein Mensch war auf dem hellen Bürgersteig zu erblicken, nur im Schatten der Haustüren oder Seitengäßchen stand hie und da ein flüsterndes Paar, das sich erschreckend tiefer ins Dunkel zog, wenn die Schritte der Verspäteten herankamen.

Die Haustür des »Blauen Engels« stand aber noch weit offen, und kein Geringerer als der Herr Wirt in eigener Person begrüßte Helene, als sie sich näherte. Sie wollte dem Andreas ein Trinkgeld geben, er weigerte sich aber mit einer lebhaften Gebärde, es anzunehmen, zog die Mütze und machte sich eilig auf den Heimweg.

Der Wirt sprang die Stufen herab und bot Helenen den Arm, sie ins Haus zu führen. Sie ging aber abwehrend an ihm vorüber, da seine Dienstbeflissenheit und kriechende Betulichkeit ihr zuwider waren, und trat in den Flur hinein, während der Wirt nach Licht rief. Aus dem Gastzimmer zur Linken, dessen Tür nur angelehnt war, hörte man ein Stimmengewirr und am lautesten dazwischen den Handlungsreisenden, der den beim Bier sitzenden Honoratioren von der großen Welt draußen allerlei Prahlerisches auftischte. In der offenen Küchentür dahinter stand die ältliche Wirtin, offenbar neugierig, ihren vornehmen Gast in Augenschein zu nehmen. Helene richtete ein paar Worte an sie, doch auf die Frage, ob sie noch zu speisen wünsche, bat sie nur um eine Tasse Tee und stieg dann die Treppe hinauf hinter dem voranleuchtenden Wirt, der sich in Beteuerungen erging, wie er in Sorgen gewesen sei, ob die Frau Baronin sich nicht etwa verirrt habe oder sonst zu Schaden gekommen sei. Da der Andreas vom Kloster droben sie nach Hause begleitet habe, scheine sie ja dort Einlaß erhalten zu haben, was eine große Ehre und Ausnahme von der Regel sei. Aber freilich – eine so vornehme Besucherin könnten die Herren nicht abgewiesen haben, und er bedaure nur, daß sein einfaches Haus –

Sie schnitt jede weitere Rede mit der Bitte ab, ihr das Mädchen zu schicken, nahm ihm an der Schwelle den Leuchter aus der Hand und verabschiedete den sichtlich Verblüfften mit einem kurzangebundenen Gutenacht.

Es war eine dumpfe, muffige Luft in dem berühmten Kaiserin-Friedrich-Zimmer. Sie öffnete beide Fenster, ließ sich von dem Mädchen, das den Tee hereintrug, eine zweite Kerze bringen und war froh, als sie endlich sich selbst überlassen blieb.

Nur der Blick in die stille, schlummernde Straße hinaus und die kühle Nachtluft besänftigten etwas ihre erregten Sinne, obwohl die Gedanken noch immer nicht zur Ruhe kamen. Aus dem Gastzimmer, dessen Fenster offen standen, drang das verworrene Gespräch herauf und verstummte erst, als die guten Bürger sich nach ihren Häusern begaben. Sie aber ging im Zimmer auf und ab, überlegend, ob sie den schweren Brief gleich jetzt noch schreiben solle, beschloß dann aber, den guten Rat abzuwarten, der über Nacht zu kommen pflegt, und fing an, sich auszukleiden. Den Tee zu trinken, der einen scharfen Heugeschmack hatte, war ihr unmöglich gewesen, auch das Wasser widerstand ihr, so legte sie sich endlich durstig nieder, fiel aber trotz der Unrast der Gedanken in der Ermüdung durch den langen Reisetag bald in Schlaf.

Als sie früh erwachte, lag sie noch eine Weile nachsinnend und wartete dann nicht ab, bis sie sich vollständig angekleidet hatte, sondern setzte sich an den Tisch zwischen den Fenstern und schrieb das folgende:

»Mein geliebtes Herz!

Verzeih, wenn ich Dir keinen ausführlichen Bericht über meine Reise und den Erfolg dessen gebe, was ich für Dich unternommen habe. Nur so viel für heut, daß ich gleich nach meiner Ankunft es erreicht habe, in das Haus, wohin Dein Ludwig sich zurückgezogen, einzudringen und ein langes Gespräch mit ihm zu halten. Ich fand ihn wohl aussehend, nur wenig gealtert, doch, wie ich nicht anders erwartet hatte, in einer stillen, kummervollen und in sich verschlossenen Stimmung, in der er dem Versuch, ihn ins Leben und zu Euch zurückzulocken, fürs erste unzugänglich blieb. Fürs erste. Denn ich gebe die Hoffnung nicht auf, auch seinen Stolz zu überwinden, da ich das Zutrauen zu seinem Herzen nie verloren habe. Es ist schon viel gewonnen, daß er erklärt hat, ganz ohne Groll und Bitterkeit an Dich zu denken und Dir alles Gute zu wünschen, da er, nachdem ich ihm alle mildernden Umstände vorgehalten und auch den Tod Deines Vaters berichtet hatte, der ihm unbekannt geblieben war, versteht, wie alles kommen mußte, und Du weißt ja: Alles verstehn –. Und so verzeiht er auch. Nur daß er jemals vergessen könne, ist ihm noch unfaßbar. Auch das wird kommen, glaube mir, zumal wenn die Sehnsucht nach seinem Kinde recht innig in ihm geweckt wird, was gestern noch nicht geschehen konnte. Wir wurden unterbrochen, die anderen Klosterbrüder kamen dazu, eine sehr merkwürdige Gesellschaft, lauter Schicksalsgefährten, die aber in ihrer Gemeinschaft einen Trost und sogar eine gewisse Heiterkeit wiedergewonnen haben. Ich erzähle Dir später noch Näheres von ihnen und von dem interessanten Abend, den ich in ihrer Mitte zugebracht habe. Heute nur dies Vorläufige, damit Du keine Gespenster siehst, wenn ich stumm bliebe. Halt Dein Herz aufrecht, Liebste! Denk, daß man mich schon heut im Kloster droben wieder erwartet, obwohl die Weltflüchtlinge ihre Pforte sonst allen weiblichen Wesen verschlossen halten. Auch wie dies Wunder, das mein Gastwirt mehr anstaunt, als irgendeins, das vorzeiten die heilige Anna verrichtet hat, auf ganz natürlichem Wege geschehen ist, sollst Du das nächste Mal wissen. Und so will ich schließen und Dir die lieben traurigen Augen küssen, die, so Gott will, das Lachen bald wieder lernen sollen. und bitte Dich nur noch, Deine Hilde zu grüßen und zu küssen von Deiner alten getreuen

Helene.«

Sie klingelte dem Mädchen und ließ den Brief sogleich in den Kasten tragen, ging dann zur Wirtin hinunter und bat, sie zu entschuldigen, wenn sie sie ersuchte, von dem Tee, den sie selbst mitgebracht, ihr das Frühstück zu bereiten, da aus Verordnung des Arztes nur eine besondere Sorte ihr zuträglich sei. Sie hatte eine so gewinnende Art, die Menschen zu behandeln, daß ihr sogar das verbitterte und freudlose Gemüt der früh ergrauten Frau nicht widerstehen konnte, zumal sie ihre reinliche Küche und die Sauberkeit des ganzen Hauses lobte und erklärte, wenn es auf sie ankäme, würde sie gern einen Sommer hier zubringen. Vorläufig sei ihr Aufenthalt nur auf Wochen beschränkt.

Als sie dann gefrühstückt hatte, ging sie in den Garten hinunter, der an der Rückseite des Hauses lag und sich bis an den schmalen Weg hinabzog, der zwischen dem Zaun und dem Nebenflüßchen hinlief. Es war ein düsterlicher alter Wirtsgarten, unter dessen hohen Bäumen, die jetzt freilich noch nicht in vollem Laube standen, Tische und Bänke aufschlagen waren, schwärzlich und von der Feuchte der Luft vermorscht, im Hochsommer jedoch den Einwohnern der kleinen Stadt willkommen durch ihren dichten Schatten. Einen breiten Mittelgang durchschreitend gelangte sie an die kleine hölzerne Pforte, die ins Freie führte, gerade auf ein Brückchen zu, das den kleinen Fluß übersprang. Hier lagen, an Pfähle angeschlossen, ein paar flache Kähne, die wohl den jungen Leuten im Sommer zu Lustfahrten dienen mochten, da unweit davon die schmale Wasserstraße in den größeren Fluß einmündete. Darüber hinaus aber sah man nur in das Bruchland mit seinem fahlen schilfigen Graswuchs und dunklen Moorstrecken.

Bis zu diesem Brückchen reichte die alte Stadtmauer, und zu dem Umgang, mit dem sie überbaut war, konnte man auf einer steilen kleinen Treppe hinaufklettern. Es reizte Helene, dies zu tun, und sie wandelte oben mit einem Gefühl, als wenn sie der Gegenwart entrückt und ein paar Jahrhunderte zurückversetzt worden sei. Der halbverfallene Mauerngang war nach der Stadtseite offen und wies, durch ein morsches Holzgeländer begrenzt, auch gegen das flache Land manche von einer plumpen Kugel gerissene Bresche auf. An einer solchen stand sie ein wenig still und schaute nach dem Damm hinüber, wo sich ihr ein drolliges Schauspiel darbot. Unter den Erlen, mit denen der Uferwall bestanden war, saßen oder hockten in Zwischenräumen von etwa dreißig Schritten wunderliche Männchen von mittlerem Alter, jedes eine Angelrute in der Hand und ein kleines Fischtönnchen neben sich im Grase. Dieser Postenkette eifriger Sportsleute, die fast wie ausgestopft oder aus Holz geschnitzt aussahen, da nur dann und wann ein Ruck an der Angel verriet, daß sie lebendig waren, entsprach auf der Flußseite gegenüber eine gleiche Anzahl, deren mit alten Hüten gegen die Sonne geschützte Köpfe ebenfalls unverwandt auf die langsam dahinströmende Flut starrten. Der unwiderstehlich humoristische Eindruck dieser Flußdekoration wäre für die Späherin droben noch belustigender gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß die guten Bürger, die hier, da sie sich von ihren wenigen Geschäften zurückgezogen hatten, mit großem Ernst ihrem ebenso unschuldigen wie unergiebigen Vergnügen frönten, täglich an dieselbe Stelle kamen und ihren Stammsitz gegen unbefugte Eindringlinge verteidigten, ihn auch wohl im Testament ihren Spezialfreunden vermachten, wie wenn sie ihn in Erbpacht besäßen. Auch sollten sich heftige Feindschaften aus unberechtigten Usurpationen besonders günstiger Angelplätze angesponnen haben.

Für Helene war's nur ein Zeugnis mehr für das stagnierende Leben dieses weltverlorenen, halb im Moorgrund versunkenen kleinen Nestes. Auch der Blick nach der offenen Seite über das Geländer hinweg zeigte nur die ganze Armseligkeit und Enge einer pfahlbürgerlichen Kleinstadt, da die Hinterhäuser ebenso unsäuberlich gehalten waren, wie die Vorderseiten mit blanken Scheiben prunkten. Hier sein Leben verträumen zu müssen, erschien ihr schlimmer als alle Not und Armut eines großstädtischen Proletariats.

Sie vollendete ihren Gang etwas rascher, da die Stunde heranrückte, wo sie dem jungen Maler zu sitzen versprochen hatte, und stieg am oberen Ende des Mauerrings auf ebensolchen halbzerbröckelten Stufen hinab, wie sie am Anfang sie erklommen hatte. Dort fand sie sich dicht bei dem nördlichen Tor und schlug eilig den Fußweg durch Bäume und Buschwerk den Berg hinan wieder ein.


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