Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Helene aber war nicht lange allein geblieben.

Kaum eine Viertelstunde, nachdem das glücklich neuverbundene Paar sie verlassen hatte, klopfte es an ihre Tür; ohne ein Herein! abzuwarten, wurde sie aufgerissen, und Carus stand auf der Schwelle.

Ich komme, gnädige Frau, Sie zu einer kleinen Wasserfahrt einzuladen. Wie ich sehe, hat unser Prior Sie schnöderweise allein gelassen, und auch im Hause ist niemand zurückgeblieben, der sich Ihrer annehmen könnte. Da dachte ich, es sei meine ärztliche Pflicht, Sie vor dem Hungertode zu bewahren, da Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden wohl kaum mit Speise und Trank versorgt werden möchten. Kommen Sie nun, wenn Sie sich mir anvertrauen mögen. Mein Schifflein wartet Ihrer unten an der Treppe.

Sie hatte ihn erstaunt angesehen, seine drollig-ernste Miene aber gab ihrem Gemüt, in dem alle soeben erfahrenen Aufregungen noch nachzitterten, die heitere Fassung wieder.

O, sagte sie lächelnd, es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie um mich besorgt waren, aber ich kann Sie versichern, ich habe hier von meinem Fenster aus die Windheimer Lagune so ruhig betrachtet, wie vom Balkon des Hotel Danieli in Venedig den Canale Grande, und ein paar Tage hätte ich mir auch mit meiner Reiseschokolade das Leben gefristet. Sagen Sie mir nur, verehrter Lebensretter, wie Sie zu mir gelangt sind und wo Sie Ihre Gondel aufgetrieben haben?

Sehr einfach, versetzte er. Da mir kein Pferd zu Gebote stand, wie unserm Prior, erklomm ich die alte Treppe zur Stadtmauer hinauf und lief oben durch den Gang, den ich sehr gut kannte, an allen Schießscharten vorbei, wo Geflüchtete in den abenteuerlichsten Kostümen kauerten und verzweifelt hinauslugten, wie hoch der Fluß wohl noch steigen würde. Ich gestehe zu meiner Schande, daß mich das Lamento der dürftig bekleideten Weiber und Kinder nicht sonderlich rührte. Sie waren wenigstens im Trocknen, während ich nicht wußte, ob Ihnen nicht das Wasser bis an die Kehle gegangen sei. Am Ende des alten Gemäuers führen ja wieder Stufen hinunter nach dem Brückchen über dem Nebenfluß. Das alles kannte ich, da mich der Blaue Engel vorzeiten ein paar Monate lang beherbergt hatte, und ich rechnete darauf, einen der beiden Kähne wenigstens werde die Hochflut noch nicht weggeschwemmt haben. Richtig schaukelten sie beide noch ruhig am Geländerpfeiler, den einen löste ich ab, sprang hinein und ruderte durch den Garten, der jetzt ein See geworden, geradeaus durch die zum Glück offenstehende Hintertür in den Hausgang hinein. Die Treppe ist auch schon zur Hälfte überflutet. Aber wenn Sie mir gestatten, Sie hinabzuführen, garantiere ich Ihnen, daß ich Sie trocknen Fußes aus der Sintflut hinausbringen werde.

Sie häufen eine so große Dankeslast auf meine Seele, erwiderte sie lächelnd, daß ich daran verzweifle, sie bis zum Jüngsten Tage abtragen zu können. Auch Ihr Freund hatte versprochen, mich aus diesem Gefängnis zu befreien, aber ehrlich gesagt ist mir Ihr Rettungsboot lieber, als der nasse Rücken eines Pferdes. So lassen Sie uns gehen. Nur noch ein paar nötigste Siebensachen möchte ich mitnehmen.

Rasch hatte sie ihre kleine Handtasche vollgepackt und folgte ihm in den dunklen Korridor hinaus. Der Kahn schaukelte sich an der obersten Treppenstufe, sie stiegen behutsam hinein, und Carus lenkte das schmale Fahrzeug geschickt unten durch den Hausgang und die vordere Tür in die überschwemmte Straße hinaus.

Hier trafen sie die neugierigen und neidischen Blicke der armen in ihre Häuser eingesperrten Menschen, die viel darum gegeben hätten, auf die gleiche Art aus ihrer Haft erlöst zu werden. Carus aber, während er mit ruhigen Stößen vorwärts ruderte, hatte nur Augen für das schöne Gesicht auf dem Bänkchen ihm gegenüber, das in der nachlässigen Kleidung, von dem unfrisierten Haar im Morgenwinde umflogen, ihm reizender erschien als in dem Kopfputz und zierlichen Gewande der anmutigen Kardinaltugend, so daß er wie aus einem Traum erwachend zusammenzuckte, als der Kiel endlich auf dem Pflaster auffuhr und das Ende der Fahrt erreicht war.

Er sprang rasch hinaus, bot Helenen die Hand, ihr beim Aussteigen zu helfen, und sagte dann: Hier, verehrte Freundin, muß ich mich von Ihnen beurlauben, so gern ich Ihnen bis zu unserm Kloster das Geleit gäbe. Aber mein ärztliches Gewissen treibt mich zu den unglücklichen Menschen zurück, die in ihren Häusern vielleicht meiner Hilfe bedürfen. Mein alter Kollege wird nichts dagegen haben, wenn ich ihm bei seinen Bemühungen, halb Ertrunkene ins Leben zurückzurufen oder sonst Verunglückten beizustehen, assistiere. Zum Glück ist die Flut noch nicht bis zur Apotheke hier oben vorgedrungen, da will ich gleich einmal hineinschauen, da ich Leute drin sehe, die um ein Krankes bemüht sind. Also auf Wiedersehen heut mittag!

Ehe sie ein Wort erwidern konnte, hatte er den Kahn vollends aufs trockne Pflaster gezogen und ihr beim Aussteigen geholfen. Dann verschwand er in der Tür der Apotheke.

Sie sann einen Augenblick, ob sie ihm nicht folgen solle. Sie hatte ihm ja noch gar nicht gedankt. Einen warmen Händedruck wenigstens wollte sie ihm bringen. Aber sie sah ein, daß sie eine ruhigere Zeit dazu abwarten müßte, und schritt, ihr Täschchen tragend, in seltsamer Bewegung die Straße vollends hinan und zum Tor hinaus.

Soeben war vom Berge kommend Greiner auf seinem Pferde hier angelangt, seinem Versprechen gemäß, sie ebenfalls zu »retten«. Er erstaunte, daß seine ritterliche Hilfe überflüssig geworden war, ließ sich kurz von ihr berichten, auf welche Weise der Doktor ihm zuvorgekommen, hatte aber den Kopf zu voll von seinem eigenen Erlebnis und den Pflichten, die ihn nach dem gefährdeten Damm riefen, und sprengte nach einem flüchtigen Abschiede in der Richtung nach dem Flusse davon.

Inzwischen war oben im Kloster auch Peter Paul aufgewacht. Er erfreute sich in der Regel eines so gesunden Kinderschlafs, daß auch sein leidenschaftlicher Liebeskummer ihn nicht darin stören konnte. Endlich aber hatte das Toben des Unwetters draußen, das Brausen und Stürmen des Flusses und auch das ungewohnte Geräusch von Schritten und Stimmen im Korridor ihn doch ermuntert. Er war aus dem Bett gesprungen und an das Fenster geeilt. Der greuliche Anblick in die Tiefe, wo in der hereingebrochenen Überflutung jede feste Form verschwunden und alles in ein schmutziges Nebelgrau versunken war, widerstrebte ihm dermaßen, daß er eilig auf sein Lager zurückkehrte und willens war, das Unheil, an dem er nichts ändern konnte, seinen Gang gehn zu lassen. Doch da er schon die Decke über die Ohren ziehen wollte, hörte er im Korridor eine weibliche Stimme, die einer leiseren antwortete, dazwischen ein Kinderstimmchen, das nicht dem Evchen gehörte. Die Neugier, was da vorgehe, trieb ihn nun doch aus dem Bett und in die Kleider, und als er auf den Gang hinaustrat, sah er Juliane mit der kleinen Hilde in der Wohnung des Priors verschwinden, von Frau Marianne gefolgt, die noch auf der Schwelle dem Andreas einiges zu befehlen hatte.

Von diesem erfuhr er, was sich zugetragen hatte. Sofort fiel ihm aufs Herz, daß seine heimlich Angebetete unten im Gasthof zurückgeblieben sei und von ihm erwarten konnte, aus der Gefangenschaft erlöst zu werden. Wie das anzustellen wäre, konnte er nicht absehn. Aber daß er hinunter mußte und wenn er nichts anderes tun könnte, als schwimmend wie Leander bis zu ihr hinzudringen, wär's nur, um ihre Haft zu teilen, stand ihm augenblicklich fest. Er nahm sich nicht die Zeit, seinen Anzug zu vervollständigen, warf nur einen langen Lodenmantel um, ergriff seinen großen Malschirm und stürmte die Treppe hinab in den Hof und zum Tor hinaus.

Wie er auf dem dunklen, steilen Pfad kopfüber hinunterrennend vorwärts kam, ohne zehnmal zu stürzen oder sich die Stirn an einem Baumstamm zu zerschlagen, war ein Wunder, doch ein größeres schien es ihm, daß er unten anlangend das Ziel seiner Sehnsucht schon erreichte. Denn eben schickte die geliebte Frau sich an, den Fußpfad zu ersteigen, und der ihr entgegensausende junge Freund mochte in dem wehenden Mantel mit dem riesigen Leinwandschirm sich so drollig ausnehmen, daß sie ihn mit unverhohlener Heiterkeit begrüßte.

Atemlos in seiner frohen Bestürzung stammelte er alles heraus, was sein Herz bewegt hatte, seine Angst und Sorge um sie, und daß er alles darangesetzt haben würde, ihren Retter zu machen.

Dafür danke sie ihm aufrichtig, erwiderte sie lächelnd, doch wie er sehe, sei sein Bemühen nicht mehr nötig. Und nun erzählte sie ihm mit einigen humoristischen Übertreibungen, wie sie dem unseligen Blauen Engel entronnen sei, dem das Wasser bereits bis an die Flügelspitzen reiche, und daß sie selbst ohne einen Fuß zu netzen auf dem Windheimer Canale Grande dahingeschwommen und endlich auf dem Trocknen gelandet sei.

Dies lustige Abenteuer schien dem jungen Mann durchaus kein Vergnügen zu machen. Er hörte ihr mit finsterer Miene zu, ohne ein Wort zu reden, so daß sie sich nicht enthalten konnte, ihm scherzend zu sagen, er wünsche wohl gar, sie möchte noch in der nassen Gefahr schweben, damit er sich an ihr die Rettungsmedaille verdienen könnte, aber sie nehme mit seinem guten Willen vorlieb und wenn er noch etwas für sie tun wolle, möge er ihr die vollgepackte Reisetasche abnehmen, die auf dem steilen Bergpfade ihr etwas beschwerlich sein würde.

Eilig nahm er sie ihr ab und war überglücklich, als er ihr auch den Arm bieten durfte, um sie den Fußpfad nach dem Kloster hinaufzuführen, während er zugleich das riesige Leinwanddach über ihrem Kopf hielt, da von den regenschweren Bäumen reichliche Tropfen auf sie herabfielen. Auf halbem Wege aber stießen sie mit einer Gestalt zusammen, die sich, von oben kommend, ebenfalls mühsam durch die graue Wildnis hindurchwand.

Erst dicht ihm gegenüberstehend, erkannten sie den Professor. Es hatte ihn ebenfalls bei dem Aufruhr der Elemente unter dem sicheren Dach nicht geduldet, obwohl er ohne bestimmten Zweck sich zu den Unglückstätten hinuntergezogen fühlte. Auch er hatte sich hastig angekleidet und den kahlen Kopf statt eines Hutes nur mit dem schwarzseidenen Mützchen bedeckt.

Er wisse nicht, sagte er, ob er unten irgend etwas helfen könne. Jedenfalls möchte er nicht ganz untätig bleiben.

Wollen Sie nicht auch hinunter, Herr Peter Paul? sagte Helene. Ich finde ja auch allein meinen Weg.

Nein, gnädige Frau, rief er lebhaft, ich darf Sie nicht verlassen in diesem stichdunklen triefenden Dickicht. Der Schirm ist unentbehrlich und zu schwer, als daß Sie ihn selber tragen könnten. Wenn ich Sie sicher droben abgeliefert habe, kehre ich wieder um und sehe, ob ich etwa dem Prior nützlich sein kann.

Damit führte er Helene mit sanfter Gewalt an Simon vorbei, und dieser setzte seinen Weg hinunter fort.


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