Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

So war's zehn Uhr geworden, als Greiner sehr erschöpft zum Kloster wieder hinaufritt.

Andreas hatte ihm über Tag etwas Wein und kalte Küche hinuntergebracht, wovon er bei der angestrengten Arbeit nur wenig genossen hatte. Die andern Klosterbrüder, da sie sich unfähig fühlten, zu helfen, hatten das merkwürdige Schauspiel von oben mit angesehen, Peter Paul eine flüchtige Skizze von dem überschwemmten Heideland gemacht, über dem die Nebelschwaden hinzogen, doch ohne sonderliche Neigung, da das eintönige Grau sein farbenfrohes Auge verstimmte, Jürgen Rabe einen Bericht über das Ereignis verfaßt, den er an eine befreundete Zeitung schicken wollte. Der Kaplan fand nichts zu tun, als sich in stillen Gebeten für das Heil der Verunglückten an den Himmel zu wenden. Nur Carus war unermüdlich bemüht gewesen, im Verein mit dem Kreisphysikus denen Hilfe zu bringen, die ihrer bedurften, ein paar Arm- und Beinbrüche, die sich ängstliche Flüchtlinge beim Sprung aus den Fenstern zugezogen, einzurenken und Arzneien zu verteilen, wo der Zustand von Kranken durch den Schrecken verschlimmert worden war.

Er empfing den Prior im Korridor droben mit einem Händedruck, begleitete ihn bis zur Tür seiner Wohnung und wünschte ihm eine gute Nacht.

In seiner Arbeitszelle fand Greiner Juliane, die ihn mit einem innigen Aufblick begrüßte.

Hilde schläft, flüsterte sie. Sie hat oft nach dem Vater gefragt und mir von dir erzählt.

Er faßte ihre Hand und trat mit ihr über die Schwelle. Nur ein Nachtlicht brannte auf dem Tischchen neben dem kleinen Bett, in dem das Kind rosig angehaucht schlief. Die gute Klostervögtin hat es hineintragen lassen, sagte Juliane; es ist das Bett ihres Evchens, sie bestand aber darauf, daß Hilde es bekommen solle. Dein Bett hat sie frisch überzogen.

Für dich. Natürlich wirst du darin schlafen.

Ein dunkles Rot übergoß ihr liebliches Gesicht.

Nein, sagte sie. Du hast nach der Anstrengung die Ruhe nötiger als ich. Wenn du mich bei dir behalten willst, werde ich in dem anderen Zimmer mich auf dein Ruhebett legen. Ich bin da ganz gut aufgehoben und kann mich mit deinem Plaid zudecken.

Du wirst so gut sein, liebe Frau, erwiderte er, indem er ihr sanft über das Haar strich, in dem Bett neben dem Kinde dich niederzulegen und mir das Sofa zu überlassen. Die Mutter gehört zum Kinde. Morgen lass' ich auch mir ein Bett hier aufschlagen. Ich sehe, daß Frau Marianne mir noch ein wenig Abendessen hingestellt hat. Ich muß noch einen Bissen zu mir nehmen, und wenn du noch nicht zu müde bist, setz' dich zu mir. Es wird bald geschehen sein, denn es war ein heißer Tag, und ich muß morgen mit dem frühsten wieder hinunter.

Ihre Augen glänzten von Glück, als sie sich ihm gegenüber setzte. Sie sprach aber nicht, sah ihm nur unverwandt in sein ernstes, stilles Gesicht und füllte sein Glas von neuem, während er ihr von den Arbeiten am Fluß erzählte, ohne sie anzusehen. Aber seine Stimme klang mild und weich, und er drückte ihr die Hand, als er sie abhielt, ihm zum drittenmal einzuschenken. Dann stand er auf.

Es ist spät, wir müssen zur Ruhe gehen, sagte er. Ich hoffe, du wirst sanft schlafen. Nun ist ja alles gut geworden.

Sie warf sich mit überfließenden Augen an seine Brust. Ist es denn möglich! flüsterte sie. Kannst du mir verzeihen!

Still! machte er und drückte sie innig ans Herz. Kein Wort von dem, was hinter uns liegt, nie wieder! Wir fangen ein neues Leben an, auch ich habe viel zu vergessen, was ich gefehlt habe. Wenn wir morgen aufwachen, blicken wir nur in die Zukunft und hoffen zu Gott, daß sie noch voll Sonne sein werde.

Er führte sie bis an die Schwelle ihres Schlafgemachs, küßte sie auf die Stirn und schloß leise hinter ihr die Tür. – –

Als er am andern Morgen früh erwachte, rührte sich noch nichts nebenan. Er hatte fest geschlafen, die nassen Kleider gleich mit trockenen vertauscht, so daß er sofort zum Ausgehn parat war, oder zu helfen, wenn in der Nacht etwas Unvorhergesehenes sich ereignete. Nun verließ er sacht sein Zimmer.

Im Korridor kam ihm Simon entgegen.

Es war eine ungewöhnliche Stunde für ihn, da er lange zu schlafen pflegte, und auch der aufgeregte Ausdruck seines Gesichts, auf dem sonst eine milde Klarheit wohnte, befremdete Greiner.

Wo wollen Sie hin vor Tau und Tage?

Wenn Sie in die Stadt gehen, nehmen Sie mich mit, antwortete jener. Mir ist etwas Wundersames begegnet, das für mein ganzes Leben Folgen haben wird.

Nun erzählte er, wie er den Knaben gefunden und heraufgebracht hatte.

Er schläft jetzt, und ich habe Frau Marianne gebeten, einmal nach ihm zu sehn und ihm Frühstück zu bringen. Ich aber will in die Stadt hinunter, für das Begräbnis der armen Frau zu sorgen und die nötigen Schritte zu tun, ihr lebendes Vermächtnis mir anzueignen. Denn ich denke den verwaisten Knaben, zu dem schon jetzt das Herz mich zieht, da er in einer gewissen Zartheit der Empfindung mich an meinen Daniel erinnert, in aller Form zu adoptieren.

Dann erzählte er ihm, was Andreas ihm mitgeteilt hatte, während sie das Haus verließen und rasch den Berg hinabschritten. Zu ihrem Erstaunen fanden sie die gepflasterte Straße unten bereits vom Wasser befreit, nur in der Tiefe vor dem Gasthof einen trüben Rest, der allen Schlamm und Schmutz aufgenommen hatte und zäh und langsam in die Abzugsgräben hinabsickerte. Der Ingenieur, der mit übernächtigem Gesicht sie begrüßte, war noch an der Arbeit, das Letzte zu tun, um den Zugang zum Blauen Engel freizumachen. Die Wirtin, die vom Garten her sich ins Haus den Weg gebahnt hatte, stand auf der Schwelle und starrte mit düsterer Miene wie geistesabwesend auf den Schlammpfuhl. Der an äußerste Sauberkeit gewöhnten Frau mußte der Zustand, in dem sie ihr Haus gefunden, herzbrechend sein. Dazu war der Hof so hoch unter Wasser gesetzt worden, daß das sämtliche Federvieh, bis auf die paar Hühner, die sich auf das Dach des Stalls geflüchtet hatten, ertrunken war.

Lachend erzählte der Ingenieur, ihr Mann, der Herr Hegelmüller, habe sich noch nicht blicken lassen. Er sei nur einmal flüchtig zum Vorschein gekommen, da er hinter der Gardine im Zimmer seiner neuesten guten Freundin auf die langsam sinkende Wassermasse hinausgespäht habe. Kein Wasser der Welt aber werde ihm den Schimpf abwaschen, den er in dieser Nacht auf sich geladen.

Greiner, während Simon nach der Toten sah, hielt sich nicht lange hier unten auf, sondern ging nach dem Damm, wo noch allerlei zu tun war, das vorläufige Werk vollends zu sichern. Denn obwohl der Fluß bis auf einen Fuß unter dem Rande des Damms gesunken war, konnte man sich eines neuen Anwachsens versehen, da die Morgensonne sich bald wieder verschleierte und neue Gewitter heraufzuziehen drohten.

Indessen klärte sich die Luft gegen Mittag auf, da der Wind umsprang. Auch der Ingenieur, der Greiner aufsuchte, sah für den Augenblick keinen Grund zu neuer Besorgnis. Was aber für die Zukunft vorzukehren sei, um eine ähnliche Katastrophe abzuwehren, wollte er ungesäumt mit dem Hauptmann besprechen.

Er hatte von dem alten Bürgermeister endlich Vollmacht erhalten, die Frage der Ufermauer neu zu beraten und einen Beschluß zu fassen, der dann im Magistrat bestätigt werden sollte. Dazu war's nötig, die Herren im Kloster wegen des Vorrats von Steinen zu sondieren, die zum Fundament der Mauer geeignet schienen.

Greiner hatte schon bei einer früheren Aussprache hierüber sich geneigt erklärt, auf die Sache einzugehen. Jetzt nahm er den Ingenieur mit hinauf, da er allein nichts entscheiden könne. Der Professor sei bei dem Ankauf der Ruine mit einer Summe beteiligt gewesen, die seinen und des Doktors Anteil zusammen weit übertraf. So habe er sich in erster Linie zu äußern, ob er einwillige.

Da es die Mittagszeit war, befanden sich Simon und Carus in ihren Zellen, und die Angelegenheit war rasch erledigt. Zu größerer Zufriedenheit des Ingenieurs, als dieser hatte hoffen können. Denn Simon schlug vor, die Steine der Stadt unentgeltlich zu überlassen, sie hätten damals beim Ankauf der Klosterruine einen so höchst billigen Preis gezahlt, daß es Ehrensache wäre, jetzt keinen Vorteil von dem Geschäft zu suchen, das ohnehin geringfügig sei.

Zu diesem großmütigen Handel fühlte sich der Treffliche noch durch ein heimliches Motiv bewogen, da ihm das Schicksal hier am gestrigen Tage einen Besitz beschert hatte, der ihm unschätzbar war, und da auch die beiden andern sich in einer freudevollen Stimmung befanden, fiel es keinem ein, an einen armseligen materiellen Gewinn zu denken.

Der Ingenieur dankte hocherfreut den Herren auch im Namen der Stadt und verabschiedete sich, um sofort unten Bericht zu erstatten. Greiner begleitete ihn zum Tor hinaus und stand mit ihm draußen, noch mancherlei beredend, bis das Glöckchen zu Tische rief. Dann wandte er sich nach dem Hause zurück und betrat das Refektorium.

Der Anblick, der sich ihm dort bot, war dazu angetan, ihn aufs freundlichste zu überraschen.

Der weite, hohe Raum war in den vier Ecken mit grünem Buschwerk geziert, das der Klostervogt aus dem Walde geholt hatte. Auf dem Tisch, der so viel neuer Gäste wegen einen Ansatz erhalten hatte, stand ein bauchiger kupferner Kessel, aus dem ein mächtiger Strauß von den schönsten Blumen des Klostergartens herauswuchs. Auch der große Kuchen, den Frau Marianne zur Feier des Tages gebacken hatte, war mit einem zierlichen Kranz umgeben, und all diese Herrlichkeit glänzte in der schönsten Maiensonne, die jemals ein Mahl in diesem Refektorium beschienen hatte.

Als nun der Prior hereintrat, standen die alten und neuen Tischgäste vor der Wand der Kardinaltugenden, die Peter Paul Frau Juliane eine nach der andern präsentierte. Hilde aber, sobald sie den Papa erblickte, nahm ihre kleine Spielgefährtin bei der einen, den schüchternen Adoptivsohn Simons bei der andern Hand und führte sie gleichsam im Triumph, daß sie eine so hübsche Gesellschaft bekommen, dem Vater entgegen. Dann aber ließ sie die beiden los, legte ihm die Ärmchen auf die Schultern und hob sich auf den Zehen zu ihm hinauf, daß er sie küssen sollte.

Das tat er denn auch mit inniger Rührung, da er begriff, daß hier all der festliche Aufwand gemacht worden war, um den Frieden, der nach so vielen Stürmen alle beglückte, gebührend zu feiern. Er nahm dann seinen herkömmlichen Vorsitz am Tische wieder ein zwischen den beiden Frauen, neben denen die kleinen Mädchen ihren Platz hatten. Simon hatte den Knaben an seiner Seite behalten, Jürgen Rabe sich Hilde zur Tischnachbarin erwählt, für die er eine etwas plumpe Zärtlichkeit äußerte, Peter Paul und der Kaplan saßen am untern Ende, wo Carus, der sich verspätete, zwischen ihnen sich niederließ.

So heiter der Anblick dieser Tafelrunde war, so wollte doch ein munteres Tischgeplauder nicht in Gang kommen. Jeder blieb im stillen Verkehr mit seinen eigenen Gedanken und gab nur hin und wieder von dem Erlebten und den Gefühlen, die ihn dabei beseelt, eine fragmentarische Kunde. Die Kinder aber, die beim Spiel unter sich schon alle Fremdheit abgelegt hatten, verhielten sich still, teils aus Wohlerzogenheit, teils, weil sie mit den guten Dingen aus der Klosterküche, die Andreas herumtrug, vollauf beschäftigt waren. Nur Friedel verfiel von Zeit zu Zeit wieder in seine Trauer und es fehlte nicht viel, daß er plötzlich in Tränen ausgebrochen wäre.

Wer aber weder zum Sprechen noch zum Essen kam, sondern nur die Augen weidete, war Peter Paul. Daß er nach dem Erlebnis dieser Nacht, wo er die teure Frau so nah' an seiner Seite gehabt, in seinem Gefühl für sie nur bestärkt worden war, verstand Carus nur allzu gut und wurde aus dem nämlichen Grunde wortkarg und in sich gekehrt. Und so wäre das Festmahl trotz des reichlich gespendeten Weins ziemlich nüchtern verlaufen, wenn nicht am Schluß die kleinen Mädchen ein Lied gesungen hätten, dessen Melodie sie zufällig beide kannten und zu dem der Kaplan einen kleinen Text verfaßt und ihnen eingeübt hatte, einen kindlichen Dank an den lieben Gott, der nach Trübsal und Not seine ewige Sonne wieder scheinen läßt.

Das hörte Frau Juliane mit überfließenden Augen an, und auch die andern konnten sich der Rührung nicht erwehren.

Der Prior aber hob die Tafel auf und schlug vor, den Kaffee draußen in der Laube zu trinken, während er selbst freilich sich keine Siesta gönnen durfte, da seine Anwesenheit unten in der Stadt vonnöten war.


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