Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.

Wenn diese Getreue, während sie schrieb, einen Blick in die Zelle des Einsiedlers hätte tun können, in ihren Zorn gegen den unerbittlichen Mann und die harten Männer im allgemeinen, die sich Helden dünken, wenn sie, um ihrer Ehre nichts zu vergeben, sich gegen die Stimme der Natur vertauben, hätte sich wohl ein weiches Mitleid gemischt.

Er hatte kaum die Botschaft nach dem Blauen Engel abgefertigt, als er aufsprang und nach der Tür eilte, den Boten zurückzurufen.

Wenn er auch keinen anderen Brief schreiben konnte, das Bild seines Kindes wenigstens wollte er wieder herausnehmen, sich die lieben Züge noch fester einprägen, die ihm so fremd waren und doch auch an die Frau, von der er sich getrennt hatte, nicht erinnerten. Nur bis morgen früh. Dann konnte er die Photographie nachschicken, unter dem Vorwand, sie sei aus Versehen zurückgeblieben.

Es war keine Lüge, daß er den Brief nicht gelesen hatte. Aber während er ihn beiseite legte, war sein Auge doch auf einzelne Sätze gefallen, die er nun beständig vor sich sah, in der kleinen zarten Schrift, die in den Jahren, während er sie nicht mehr gesehen, sich doch auch ein wenig verwandelt hatte, weniger zierlich und nachlässiger, aber charaktervoller geworden war. »Mich zu seinen Füßen werfen«, »über mich hinwegschreiten« hatte er gelesen, und ein Schauer hatte ihn überlaufen, bei dem Gedanken, das könne in Wirklichkeit geschehen. Am Ende hätte er doch den ganzen Brief lesen sollen, das hätte ihn ja zu nichts verpflichtet, und war er nicht in seinem Entschluß gefestet genug, um trotzdem in dem Unabänderlichen nicht wankend zu werden?

Doch wie er die Türklinke schon ergriffen hatte, ließ er die Hand wieder sinken. Nein, es durfte nicht sein. Was war denn geändert seit dem Gespräch mit der Vermittlerin in der Laube? Wenn sie jetzt, nach dem Tode des Vaters, sich besann, was sie dem Gatten schuldig war, und um jeden Preis, selbst der tiefsten Demütigung, zu ihm zurückzukehren begehrte, änderte das das geringste an der Tatsache, daß sie fünf Jahre lieber eine gute Tochter als eine pflichttreue Frau hatte sein wollen? Hätte jener Schuft, dessen ruchlose Absicht, die Ehe zu zerreißen, nur zu gut geglückt war, jetzt nicht wieder gewonnen Spiel, wenn er höhnen könnte, sein Gegner, der sich feige dem Austrag durch die Waffen entzogen, hätte nun auch der Frau gegenüber eine jämmerliche Rolle gespielt und wäre, nachdem er eine Zeitlang mit ihr geschmollt, nun doch zu Kreuz gekrochen?

Er hatte recht getan, den Brief zu schreiben, gerade so, wie er ihn geschrieben, und auch der Verführung durch das Bild zu widerstehen. Eine neue Kriegslist war's gewesen, ein alter Soldat, wie er, durfte sich nicht überrumpeln lassen. In Zukunft wollte er sich noch stärker gegen jeden ähnlichen Überfall verschanzen. Fatal war's nur, daß diese listige Frau sich freien Zugang in seine Festung erschlichen hatte und es kein Mittel gab, ihr das Tor wieder zu verschließen. Er empfand plötzlich einen tiefen Widerwillen gegen das schöne, kluge Wesen und dachte mit Ingrimm daran, daß ihr Bild ihre Erscheinung im Refektorium verewigen und sie ihm täglich vor Augen stellen würde.

Jedenfalls faßte er den Vorsatz, einem neuen Begegnen mit der Versucherin entschieden auszuweichen und kein Blatt, das von ihr kam, je wieder anzunehmen.

Als er aber zu diesem mannhaften Entschluß gelangt war und nun in der vermeintlichen Heldengröße, deren Helene ihn geziehen, sich hätte wohlfühlen können, empfand er eine so tiefe Niedergeschlagenheit an Leib und Seele, daß er nach seinem Ruhebett wankte und mit Stöhnen darauf niedersank.

Sofort, nachdem er die Augen geschlossen, trat das Bild des Kindes vor sein inneres Auge, mit dem seltsam fragenden, in sein tiefstes Herz eindringenden Blick, und um das herbe Mündchen schien etwas zu zucken, als ob nur ein kindlicher Stolz und Trotz es abhielte, in Weinen auszubrechen. Wie die Stimme aus diesem Munde klang, hatte er nie gehört. Das Lallen des Babys, das er auf dem Arm herumgetragen, war ihm nicht im Ohr geblieben. Desto deutlicher hörte er die süße Stimme der jungen Frau, ihr oft noch mädchenhaftes Lachen, und sah den unschuldig furchtsamen Blick, mit dem sie die schönen dunklen Augen zu ihm aufschlug, wenn sie glaubte, etwas nicht recht gemacht zu haben.

Aber ganz so, noch schüchterner hatte sie zu dem tyrannischen Vater aufgeblickt, noch nicht zu einem Bewußtsein ihres eigenen Selbst gelangt, und das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, wie ein unmündiges Konfirmationskind nachgestammelt, das für jenes andere: Du sollst Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen, noch kein Verständnis hat.

Aber es hieß ja auch anders, es war für den Mann gesagt, der dem Weibe anhangen soll. Ja, wenn der Mann danach ist! Aber in seinem Falle, wo es zu zeigen galt, daß er den Ehrenhandel nicht abgelehnt, um an der Schürze eines Weibes zu hängen – nein, und in alle Ewigkeit nein! Es gab kein Zurück, er mußte seinen einsamen Weg bis ans Ende fortschreiten.

So lag er wohl eine Stunde und dachte endlich, seine Ruhe wiedergewonnen zu haben. Als er sich endlich aufrichtete, fühlte er sich bis ins Mark gelähmt, wie wenn er eine schwere Krankheit überstanden hätte.

Die freie Luft wird mir gut tun! sagte er vor sich hin, nahm seine Mütze und ging aus dem Zimmer. Doch als er mühsam die Treppe hinuntergewankt war und die Tür öffnete, blieb er an der Schwelle stehn.

Das Evchen spielte unten im Grashof, es saß in einem hübschen kleinen Wagen aus glatten Holzstäben, den ihr Freund Andreas zurechtgezimmert hatte, Nero war vorgespannt und wurde an zwei roten Zügeln gelenkt, während das Kind mit einer kleinen Gerte ihm sanft auf das dicke Fell schlug. Der Stifter dieser Herrlichkeit ging nebenher, um jeden Unfall zu verhüten, sein breites gutes Gesicht strahlte vor Vergnügen, daß er seiner kleinen Freundin dies Fuhrwerk verschafft hatte, und auch Evchens Augen leuchteten, als sie dem Zuschauer unter der Tür entgegenjauchzte und ihn bat, herauszukommen und sie fahren zu sehn.

Er kam aber nicht. Er winkte nur mit der Hand und brachte keinen Laut über die Lippen. Im Geist sah er statt des Kindes der Klostervögtin ein anderes im Wägelchen sitzen, und wie gern hätte er sich selbst vorgespannt und die Rundfahrt über Hof und Garten gemacht, unermüdlich, wenn das Stimmchen ihn angetrieben hätte.

Langsam machte er die Türe zu und stand unten an der Treppe. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die er nicht zurückhielt. Sie erleichterten ihm die schweratmende Brust. In diesem Augenblick drangen von oben Geigenklänge zu ihm herab. Die Furcht befiel ihn, daß jemand kommen und ihn hier finden möchte. So ging er die Treppe wieder hinauf, während das Spiel immer stärker zu ihm herdrang. Peter Paul hatte seine Geige ergriffen, und während er in leidenschaftlichem Phantasieren vor dem Bilde der schönen Frau seinem Herzen Luft machte, war die Tür seiner Zelle durch den Abendwind aufgestoßen worden, so daß die Töne in voller Stärke den langen Korridor hinunterwogten. Wie wenn sie das Geheimnis seiner eigenen sehnsüchtigen Brust verrieten, flüchtete der unselige Mann in seine Zelle und schloß hastig die Tür hinter sich zu.

*

Nicht lange, so hörte er das Glöckchen läuten, das zur Abendmahlzeit rief. Er fühlte sich aber unfähig, daran teilzunehmen und in dieser Gemütsverstörung den ahnungslosen Freunden unter die Augen zu treten. So schickte er den Andreas hinunter und ließ sagen, daß er ein wenig unwohl sei und für sich bleiben möchte.

Die fünf anderen saßen schon um den Tisch, als die Botschaft kam. Es sei nichts Besonderes, hätte der Herr Hauptmann gesagt, nur ein wenig Kopfweh. So hatten sie zu essen angefangen, und nachdem die Schüsseln weggetragen und die Zigarren angezündet waren, hatte Jürgen Rabe ein Heft hervorgezogen und gefragt, ob er es vorlesen dürfe. Es sei die Abhandlung über die allgemeine Wehrsteuer, die er für die Grenzboten geschrieben und dort wohl anzubringen hoffe.

Es war dies ein Lieblingsthema des Politikers, das schon für seine Vergangenheit verhängnisvoll gewesen war. Über diese Frage hatte er sich mit der nationalliberalen Partei, der er im Reichstag angehört, entzweit, war dann auch beim Freisinn, in den er eintrat, mit seinen Ansichten nicht durchgedrungen und ihretwegen auch bei den nächsten Wahlen unterlegen. Nun hatte er das Problem, das ihm sowohl wegen seiner ethischen Bedeutung, als in betreff seiner finanziellen Wichtigkeit ungemein am Herzen lag, sorgfältig in einem ausführlichen Essay behandelt, und hätte gern, vorläufig wenigstens, die Stimmen der Klosterbrüder für sich gewonnen.

Da er schon vorher zur Genüge sich mündlich darüber ausgesprochen hatte, lag keinem sonderlich daran, die fertige Arbeit kennen zu lernen. Sie waren aber gutherzig genug, ihm diese bescheidene Genugtuung nicht zu versagen, und ergaben sich in die Vorlesung, die der eifrige Volks- und Vaterlandsfreund denn auch sofort begann, mit einer Stimme, die sich eher für eine große Versammlung als für diese kleine Tafelrunde geeignet hätte.

Die Gedanken seiner Zuhörer wurden dadurch nicht stärker an seinen Vortrag gefesselt. Peter Paul hatte sich nach kurzer Zeit an ein gewisses Bild erinnert, das unweit von diesem Raum in seiner Zelle stand, und lebhafter noch an das Original, dessen Züge er schon im Geist an seiner Stelle unter den Kardinaltugenden sah. Denselben Weg waren auch die Gedanken des Doktors gewandelt, der gleichfalls den noch leeren Platz aus seiner Erinnerung belebte. Der stille Kaplan hatte am Morgen eine Schrift von Tolstoi gelesen, dessen sonderbare Schwärmerei, ein ursprüngliches Christentum mitten in die moderne Zivilisation hineinzupflanzen, ihn eindringlicher beschäftigte, als die schon genugsam bekannte steuerpolitische Theorie seines Nachbarn. Nur Simon folgte der Erörterung des Für und Wider in dieser schwierigen Frage mit vollem Interesse und notierte sich in seinem Taschenbuch verschiedene Einwürfe, die er bei der darauffolgenden Diskussion vorzubringen gedachte.

Zu einer solchen kam es aber heute nicht.

Der Doktor erhob sich plötzlich, bat um Entschuldigung, daß er die Vorlesung unterbreche, es sei ihm aber aufs Gewissen gefallen, daß er nicht doch erst nach ihrem Freunde gesehn und sich überzeugt habe, daß kein ernstlicheres Übel im Anzug sei.

Sofort schlug der Vortragende das Heft zu und stand ebenfalls auf. Carus habe recht, sie alle wollten ihn begleiten und für heute die Sitzung beschließen. Der Doktor möge das Manuskript dem Kranken einhändigen, vielleicht würde es – fügte er lachend hinzu – geeignet sein, ihm einen gesunden Schlaf zu verschaffen, zumal gerade ihm das Militärische darin bekannter sei als den andern.

So brachen sie auf, erstiegen die Treppe zum Korridor und enthielten sich droben alles Gesprächs, wie sie auch auf den Zehen gingen, um durch keinen Lärm in dem weithallenden Raum den Kranken zu stören.

Vor Greiners Zelle hielt das Trüpplein an und ließ Carus, nachdem er angeklopft, allein hineingehen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder herauskam. Der Freund habe nur ein leichtes Fieber, ein paar Tropfen würden ihm jedoch zu einer ruhigen Nacht verhelfen, so daß er Rabes Essay erst morgen zum Frühstück zu sich nehmen würde. Er lasse allen eine gute Nacht wünschen und für ihre Teilnahme danken.

Hierauf entfernten sich die Klosterbrüder geräuschlos, wie sie gekommen waren, und jeder verschwand in seiner Zelle.


 << zurück weiter >>