Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Neunzehntes Kapitel.

Er gab das Kind endlich wieder frei und stellte es auf das Bänkchen vor sich.

Du bist es, brach es aus seiner schwer atmenden Brust, meine Hilde, mein geliebtes Kind! So hab' ich dich im Bilde gesehn. Wie aber hast du mich sogleich erkannt, da du mich nie gesehn hattest und, als ich fortging, noch so klein warst?

Sie stand vor ihm, die Arme auf seine Schultern gelegt, ohne die geringste Scheu, als wäre sie's von jeher gewohnt, den Vater sich gegenüber zu sehen.

Bei uns zu Hause hängt ja deine Photographie, Papa, sagte sie, in der Schlafstube der Mama, und ich selbst habe ein ganz kleines Bildchen in einem goldenen Medaillon, das ich immer am Halse trage, aber unter dem Kleide. Denn Großpapa, sagte die Mama, mag es nicht gern, daß Kinder Schmuck tragen. Ich hab' es aber oft angesehn, des Abends, wenn ich für dich gebetet habe, daß du gesund werden möchtest und wieder zu uns kommen.

Woher wußtest du denn, daß ich krank bin?

Mama hat mir ja gesagt, daß du nur darum nicht bei uns sein konntest, weil du die Luft in der Stadt nicht verträgst und auf einem Berg wohnen mußt. Das hat mir so leid getan. Ich hätte dich zu gern gesehn, aber wir konnten ja nicht fort vom Großpapa, der immer krank war und manchmal so böse mit der Mama. Jetzt aber ist er gestorben, und da konnten wir zu dir kommen.

Die feine junge Stimme und was sie ihm sagte, rührten ihn im Innersten. Er wußte nichts zu erwidern und sah ihr nur immer in die ernsthaften großen Augen, die zuletzt einen etwas ängstlichen Ausdruck annahmen.

Du freust dich aber gar nicht, sagte sie jetzt, daß wir da sind. Du stehst so traurig aus, und neulich, als wir bei der Kapelle auf dich warteten, bist du rasch umgekehrt, und die Mama hat sehr geweint. Hast du uns nicht mehr lieb? Dürfen wir nicht bleiben? Ich habe dich immer lieb gehabt, aber ich konnte mich nur wenig an dich erinnern. Ich weiß nur noch, daß du mich, wenn du von deinen Soldaten nach Hause kamst, immer auf den Arm nahmst und im Zimmer herumtrugst und dann sangst du dazu. Das hörte ich lieber, als wenn meine Lina mir was vorsang. Jetzt bin ich zu groß, daß du mich noch tragen könntest.

Meinst du? sagte er. Ein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf. Wenn er sie jetzt aufhöbe und auf und davon trüge, durch den Wald und weit ins Land hinaus, daß niemand so bald seine Spur fände, so hätte er sein Kind sich erobert und durfte es herzen und hegen und wäre nicht mehr ein ganz unglücklicher einsamer Mann. Wer dürfte sie ihm streitig machen? Er war ja von ihrer Mutter nicht gerichtlich geschieden, so lange hatte sie das Kind besessen, warum sollte die Reihe jetzt nicht mal an ihn kommen?

Aber das war Flucht, feige Flucht, als müsse er heimlich tun, was er als sein gutes Recht ansah. Nein, er wollte sie bei sich behalten, aber frei und öffentlich und seinen Schatz gegen jedermann verteidigen.

Zu fragen, wie sie hier heraufgekommen, allein, oder von wem begleitet, unterließ er. Was gingen alle andern ihn an? Er und das Kind, nur das war ihm wichtig, als ob sie beide die einzigen Menschen in der Welt wären.

Aber andere konnten dazukommen, dem mußte er vorbeugen.

Meinst du, ich könnte dich nicht auch jetzt tragen, mein Liebling? sagte er. Du bist noch immer eine leichte kleine Person. Komm, ich will dir zeigen, wo ich wohne. Das möchtest du doch wohl sehen?

Oh, sagte sie rasch, das möchte ich freilich, um es der Mama beschreiben zu können, bis die auch zu dir kommt. Aber ich kann ganz gut bis dahin gehen.

Sie stieg von dem Bänkchen herab und wollte seine Hand fassen. Er aber hob das zarte Gestältchen in die Höhe und trug die leichte Last durch das grüne Gehölz auf dem schmalen Pfad nach der breiten Straße dem Kloster zu.

Sie lag ohne sich zu rühren in seinen Armen, ihr eines Ärmchen um seinen Hals geschlungen, den Kopf gegen seine breite Brust gedrückt, so weich wie in einer Wiege. Du bist stark, Papa, sagte sie lächelnd. So möchte ich eine ganze Stunde von dir getragen werden.

O Evchen, rief sie, da ihre kleine Gespielin mit einem gefüllten Gießkännchen ihr entgegenkam und sehr erstaunt zu ihr aufschaute, sieh nur, der Papa trägt mich, als wär' ich noch ein kleines Kind! Er will mir seine Wohnung zeigen, ich kann jetzt nicht mehr mit dir spielen, aber ich komme wieder, und nachher sehen wir, wie die Kuh gemolken wird.

Der Vater aber trug sie hastig vorüber, durch die Gartenpforte, den Hof und an der Laube vorbei in die Tür, die zu den Zellen hinaufführte. Erst als er die Schwelle der seinen überschritten hatte, ließ er das Kind tiefatmend auf den Boden gleiten und schloß die Tür hinter sich zu, als ob er seinen Raub in Sicherheit bringen wolle.

Die Kleine stand mitten in dem großen Gemach und sah sich verwundert um.

Hier ist's aber nicht so hübsch, wie bei uns zu Hause, keine Bilder und Blumen, wie bei der Mama, und die vielen Bücher, und das da ist dein Schreibtisch? – Sie trat nahe heran und betrachtete das beschriebene Blatt, das auf der Mappe lag. Du schreibst so schön, Papa. Ich lerne es auch schon bei meiner Lehrerin, Mama sagt, wenn ich's erst besser könnte, dürfe ich dir einmal einen Brief schreiben, und du würdest mir dann auch antworten. Willst du das tun, Papa? O das ist aber schön! unterbrach sie sich plötzlich, da sie zum Fenster hinausgesehen und die Stadt unten entdeckt hatte. Da liegen die Häuser und Türme alle so reizend beisammen, und man sieht die Leute herumgehen. Deine Wohnung ist draußen hübscher als drinnen. Und nach der andern Seite – sie war an das östliche Fenster gelaufen – da ist's beinah noch schöner, die weite, grüne Wiese, und wie der Fluß vorbeifließt – oh, hier möcht' ich bleiben, wenigstens den ganzen Sommer, bis ich in die Schule muß. Ich will die Mama bitten, daß sie mich bei dir läßt, sie selbst braucht ja auch nicht wieder fortzugehn, nicht wahr, Papa? Aber nun laß mich auch sehn, wo du schläfst, denn hier ist ja kein Bett.

Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, verschluckte Tränen ließen die Stimme nicht hinausdringen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er das Kind an der Hand und führte es in das Nebengemach, wo seine eiserne Bettstelle und die sonstige Ausstattung eines Schlafzimmers, aber an den kahlen Wänden keinerlei Schmuck zu sehen war. Nur über dem niederen Lager hingen zwei Photographien, ein ältliches Ehepaar darstellend.

Auch an dieser spartanischen Kahlheit der Umgebung fand das Stadtkind keinen Gefallen, wollte es aber den Vater nicht empfinden lassen.

Was sind das für Bilder? fragte sie, um nicht ganz zu verstummen. Der Mann ist auch ein Offizier und die Dame sieht sehr freundlich aus.

Es sind meine Eltern, erwiderte Greiner. Sie starben, als ich erst siebzehn Jahr alt war, mein Vater an einer schweren Wunde, die er bei Königgrätz erhalten. Du hast doch von der großen Schlacht im deutschen Kriege gehört? – Hilde nickte. – Dann ist dein Großvater auf sein Gut gezogen, nachdem er als Oberst den Abschied genommen hatte, und da bin ich selbst bei den Eltern gewesen, bis sie beide in der nämlichen Woche starben, und der Vormund hat mich ins Kadettenhaus getan. Aber meine ersten Jahre auf dem großen Gut waren meine glücklichsten, und niemand habe ich mehr geliebt als meine Mutter. Aber wart, ich will dir etwas schenken, zum Andenken an sie.

Er führte das Kind wieder in sein Wohnzimmer zurück und nahm aus einem Schubfach seines Schreibtisches ein elfenbeinernes, mit kleinen Figuren verziertes Kästchen. Das schloß er auf und zeigte der Kleinen die kindlichen Schmucksächelchen, die darin aufbewahrt lagen. Das alles hat deiner guten Großmutter gehört und sie hat es mir, als ich ein Knabe war, oft gezeigt und mir von ihrer Jugend erzählt, wo sie diese Sachen trug oder sonst gebrauchte. Möchtest du dies Korallenkettchen haben und den silbernen Fingerhut? Er wird gerade auf dein Fingerchen passen.

Ein helles Rot der Freude überflog ihr blasses Gesicht. O Papa, rief sie, wie gut du bist! Nein, so was Reizendes! Und das soll ich wirklich haben? Was wird die Mama dazu sagen! Ich muß es ihr gleich zeigen – aber erst – erst muß ich dir einen Kuß geben!

Sie hob sich auf den Zehen und umfing ihn mit beiden Armen, ihr Mündchen auf seine bärtige Wange drückend.

In diesem Augenblick erklang ein Klopfen an der Tür.

Er fuhr erschrocken in die Höhe. Aber die Stimme Helenes, die draußen Hildes Namen rief, beruhigte ihn wieder. Als er aufgeschlossen hatte, stand die schöne Frau mit heiterer Miene vor ihm.

Wo steckst du denn, Schatzkind? rief sie. Ich suche dich überall.

O Tante Hella! rief die Kleine und lief zu ihr hin, die blanken Geschenke ihr entgegenhaltend, sieh nur, was ich vom Papa bekommen habe! Es sind Andenken von der Großmama.

Nun, das gesteh' ich, sagte die Baronin lächelnd, Sie mißbrauchen Ihr Vaterrecht, unser Kind zu verziehen. Dagegen kann ich freilich nichts sagen. Jetzt aber müssen wir Abschied nehmen. Gib dem Papa eine Hand, und sage adieu und auf Wiedersehn!

Greiner stand mit verdüsterter Stirn ihr gegenüber.

Lassen Sie mir das Kind, kam es mühsam von seinen gepreßten Lippen – wenigstens bis morgen – ich schicke es dann sicher zurück.

Sie zuckte die Achseln.

Das steht nicht in meiner Macht. Ich bin nicht die Mutter. Vielleicht erlaubt es die, wenn Sie bei ihr anfragen. Ich habe sie unten vor dem Gitter stehen sehn, sie wird sich über das lange Ausbleiben des Kindes gesorgt haben und selbst nachsehen wollen, natürlich ohne sich in den Klosterfrieden zu wagen. Daß der ihr verschlossen ist, hat man sie ja unhöflich genug empfinden lassen.

Und da er keinen Laut von sich gab und regungslos dastand: Vielleicht möchten Sie sie gern unter vier Augen darum bitten, und unten könnte jemand dazukommen, dann bleibt nichts übrig, als daß Sie ihr im Blauen Engel einen Besuch machen. Den ihren haben Sie neulich nicht annehmen wollen. Sie werden begreifen, daß eine Dame, qui se respecte, nun erwarten muß, daß Sie sie aufsuchen. Wir sind den ganzen Vormittag zu Hause, Zimmer Nummer zwei, hoffentlich haben wir bald das Vergnügen.

Sie grüßte ihn mit einer leichten Gebärde und vollkommener Heiterkeit, während er sich abwendete, nahm Hilde bei der Hand und entfernte sich mit dem Kinde, das sich vergebens bemühte zu begreifen, warum die Tante so zu dem Papa gesprochen hatte.

Als sie bis zur Treppe gelangt waren, begegnete ihnen Carus, der eben von einem Spaziergang zurückkehrte. Daß hier etwas vorgegangen sein mußte, begriff er sofort, aber seine Ratlosigkeit wurde nur vermehrt, als er Helene mit dem Kinde antraf, die offenbar aus der Zelle des Priors kamen. Der Frage, die ihm auf der Zunge schwebte, kam die kluge Freundin zuvor.

Sie können mir gratulieren, lieber Doktor, flüsterte sie ihm im raschen Vorübergehen zu. Noch hat sich die Festung nicht ergeben, aber die Außenwerke sind schon in unsrer Macht, und es wird hoffentlich nur kurze Zeit dauern, bis wir das Herz vollends ausgehungert haben, daß es uns flügelweit die Tore öffnet. Auf frohes Wiedersehen, lieber Freund!

Damit verließ sie ihn und eilte mit dem Kinde die Treppe hinunter.

Er war so erstaunt über den Anblick des Kindes und die triumphierenden Worte der schönen Frau, daß er, statt sie hinunterzubegleiten, im Korridor stehen blieb und ohne ein Abschiedswort ihr nachstarrte. Doch was geschehen sein mochte, kümmerte ihn in diesem Augenblick nur wenig. Die Hauptsache war, daß der Groll gegen ihn verschwunden schien und die Sonne ihrer Huld ihm wieder leuchtete.


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