Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Achtes Kapitel.

Sie war leichtfüßig den steilen Weg hinuntergeeilt, doch hatte es schon vor einer Weile eins geschlagen, als sie den Speisesaal des Gasthofs betrat. Man hatte mit dem Beginn des Essens auf sie gewartet, da der Wirt seinem vornehmen Gast diese Rücksicht schuldig zu sein glaubte. Einige Herren standen an den Fenstern, die auf die Straße hinausgingen, man sah ihnen die Ungeduld an, mit der sie sich in die ungewohnte Verspätung ergaben. Am Tische saß nur ein weißbärtiger pensionierter Major, der ingrimmig murrend vorläufig ein Brötchen aß und mehrmals seine große silberne Uhr hervorzog.

Als aber Helene eintrat, hellten sich die unmutigen Gesichter auf, und da sie vollends ihr Verspäten entschuldigte, indem sie die Entfernungen nicht richtig abzumessen verstehe, erschöpfte man sich in Versicherungen, es habe nichts auf sich. Der Wirt deutete auf den Platz oben am Tische, den sonst er selbst einzunehmen pflegte. Diese gute alte patriarchalische Sitte schien ihm aber heute zu spießbürgerlich. Er hielt sich wie in seiner Oberkellnerzeit im Hintergrunde am Büfett, von wo er die beiden aufwartenden Mädchen zum Herumreichen der Speisen anwies, nachdem er selbst den ersten Teller Suppe der Frau Baronin hingestellt hatte.

Sie kannte von der kleinen Tischgesellschaft nur den Handlungsreisenden, dessen ehrerbietigen Gruß sie mit einem freundlichen Kopfnicken erwiderte. Ihr Nachbar zur Rechten stellte sich ihr als der Steuereinnehmer vor, ein schon bejahrter Junggesell, der im Gasthof zu speisen pflegte und vom Wirt sehr höflich behandelt wurde. Der Herr zu ihrer Linken war jünger und gab sich als Ingenieur zu erkennen. Auch nachdem sie Platz genommen hatten, setzte er das Gespräch mit dem Steuereinnehmer über seine Nachbarin hinweg fort, wandte sich aber bald direkt an diese, da er dachte, der Gegenstand der Unterhaltung müsse auch sie als eine Ortsfremde interessieren.

Ein Sumpf – rief er heftig, und seine scharfen schwarzen Augen unter den buschigen Brauen funkelten, der reine Sumpf ist diese Stadt! Ich weiß, Herr Major, daß ich Ihnen damit ans Herz greife, da's Ihr Geburtsort ist, aber Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Frau Baronin sind erst seit gestern hier, da werden Sie nicht verstehen, wie ich über das alte Nest, das so hübsch sauber gewaschen zwischen Wiesen und Kohlpflanzungen liegt, mich so ereifern kann. Aber wer, wie ich, jedes Jahr herkommt – ich bin dazu angestellt, den Damm zu inspizieren, beziehungsweise auszubessern, wo er schadhaft wird – na, da hab' ich jedes Jahr meinen Ärger, da die Herren in der Stadtverwaltung den alten Schlendrian lieber fortbestehen lassen, als sich zu etwas Gründlichem aufzuraffen. Eben war ich wieder beim Bürgermeister, der seit Jahren an der Gicht leidet und seinen Krankenstuhl nicht verlassen kann, um den Schaden mal mit mir in Augenschein zu nehmen. Den Dammbruch vor einunddreißig Jahren, der eine so große Verwüstung angerichtet, hat er selbst noch miterlebt, auch die anderen älteren Herren entsinnen sich der Kalamität. Aber er hat seitdem gehalten, sagen sie, er wird noch weiter halten, nur immer geflickt und gestückt, wo's schlimm zu werden droht, weil der Fluß, so ruhig er scheint, eine große Gewalt hat und den Grund unterwühlt. Es wäre für immer zu helfen, wenn eine feste Mauer aufgeführt würde, auch die Steine wären bei der Hand, da oben beim Kloster ein großer Haufen liegt, und die Herren würden sie auch wohl billig hergeben. Aber nee, die Kosten beliefen sich doch auf mehrere Tausend, und der Hauptgrund ist, daß die Herren, die da oben ihren Anglersport haben, fürchten, um ihre schönen schattigen Sitze zu kommen, wenn ein Steindamm aufgemauert wird. So bleibt alles beim alten, bis mal wieder der Teufel los ist und ein großer Kladderadatsch hereinbricht. 's ist Sünd' und Schande, und Sie, Herr Steuereinnehmer, halten den Starrköpfen noch die Stange!

Der Angeredete wollte etwas erwidern, was sich auf die Finanzen bezog, der hitzige Mann aber schnitt ihm das Wort ab.

Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie müßten den Knopf auf dem Beutel halten für den Theaterbau, den die Stadt vorhat. Damit kam mir auch der Bürgermeister, aber es ist zum Lachen, daß man erst an den Luxus denkt und dann an das Nötige. Ja wenn man mir gefolgt wäre und in den Wiesen eine richtige Drainage eingeführt hätte, da könnten viele Kilometer Weide und sogar Ackerland gewonnen und der Stadtsäckel mächtig angeschwellt werden. Aber das würde viel mehr Arbeit verursachen, und mit dem Gemüsebau, der von aller Feldwirtschaft die wenigste Mühe macht, haben sich die Großväter begnügt, die Urenkel finden dabei auch ihr Auskommen. Frau Baronin haben vielleicht die vielen Wagen mit Weißkohlköpfen an der Bahn gesehen. Halb Süddeutschland wird da mit Sauerkraut versorgt, und dies Verdienst ums Vaterland berechtigt dazu, daß die Leute hier in der Stadt sich aufs Ohr legen und den Schlaf der Gerechten schlafen. Ich hab' mir umsonst die Zunge verbrannt und wasche jetzt meine Hände.

Er stand mit hochrotem Gesicht auf, stürzte den Rest seines Weins hinunter und verneigte sich gegen seine Nachbarin. Er müsse die Mehlspeise im Stich lassen, da er in einem benachbarten Dorf wegen der Anlage eines Brunnens erwartet werde. Für seine ingrimmigen Reden bitte er um Entschuldigung. Doch wes das Herz voll sei –

So rannte er, ohne die übrigen Gäste zu grüßen, aus dem Zimmer.

Als er hinaus war, unterbrach zuerst der Handlungsreisende die verlegene Stille. Es schien, daß es ihm darum zu tun war, sich bei den Anwesenden, die sämtlich Eingeborene waren, in Gunst zu setzen, da er nun anfing, gegenüber so hitzigen Neuerern, wie der Ingenieur, die Partei derer zu nehmen, die an den friedlichen Zuständen nicht rütteln lassen wollten. Er komme in seinem Berufe weit herum, aber nirgends werde ihm nach dem Lärm und Tumult der großen Städte so wohl, wie hier im »Blauen Engel«. Das mit dem Theater sei freilich ein Wagestück. Wenn das Haus auch ganz hübsch zustande käme, wie solle man eine anständige Truppe herbeiziehen? Und mit einer armseligen Schmiere werde man doch nicht zufrieden sein.

Einer der Herren bemerkte, es könne ja auch von den Stadtkindern darin gespielt werden, so ein Liebhabertheater sei sogar für die Bildung der jungen Leute sehr nützlich, und wenn sich einer fände, der ein Festspiel zustande brächte, das den Kampf um das Sankt Annenkloster behandelte, könne man hoffen, zu den alljährlichen Aufführungen von weit und breit Fremde herbeiströmen zu sehen, wie zu dem Meistertrunk in Rothenburg und den Passionsspielen in Oberammergau.

Diese Zukunftsaussicht leuchtete der ganzen Tafelrunde sichtbar ein, und sogar der alte Major wurde plötzlich gesprächig und schilderte die verschiedenen Episoden des Kampfs um den Nonnberg, die ihm aus einer etwas späteren Chronik bekannt waren.

Helene hatte nur zerstreut der Unterhaltung zugehört. Ihre Gedanken verweilten bei dem, was sie droben im Klosterbezirk vernommen hatte. Sie stand daher auf, als das Dessert herumgereicht wurde, sagte dem Wirt, der sie fragte, ob sie mit der Küche zufrieden gewesen, ein lobendes Wort und verließ mit einem freundlichen Gruß gegen die Tischgesellschaft den Saal.

*

Als sie aber in ihr einsames Zimmer hinaufkam, überfiel sie, obwohl die helle Straße zu ihren Fenstern hereinsah, eine dumpfe Schwermut. Die Enge und Stille dieses weltverlorenen Nestes beklemmte ihre Seele, unwillkürlich schweifte ihr Blick zu der eingerahmten Urkunde über dem Sofa, und sie beneidete die hohe Frau, der es vergönnt gewesen, nur eine Stunde in diesem Raum zu verweilen.

Wie lange würde sie es hier aushalten müssen? Sie war in der Zuversicht gekommen, es werde nur eines kurzen Ansturms bedürfen, um den starrsinnigen Mann zu dem zu bewegen, was sie für die junge Freundin so herzlich wünschte. Der Angriff, den sie unwiderstehlich geglaubt, war abgeschlagen worden. Welche anderen Waffen standen ihr zu Gebote, ihn mit der Aussicht auf besseren Erfolg zu erneuern? Daß sie das Feld nicht räumen dürfe, ehe sie den Sieg erfochten, stand ihr felsenfest. Wie lange aber konnte die Belagerung dauern? Und wie sollte sie die öden Tage überstehen, wenn auch der Vorwand, Peter Paul Modell zu sitzen und sich damit den Zugang zu den Klosterbrüdern offen zu halten, nicht mehr gültig sein würde?

Der Verkehr mit den seltsamen Weltflüchtlingen droben hätte ihr wohl Ersatz bieten können für das, was ihr im Städtchen unten versagt war. Aber außer dem Maler schienen alle das Geheimnis ihres Schicksals wohlverwahrt im Busen zu tragen. Auch der Doktor, der ihr schon gestern so anziehend erschienen war, hatte sich zu näheren Mitteilungen nicht herbeigelassen, und was Peter Paul ihr von den andern erzählt hatte, ließ begreifen, daß sie sich wortkarg verhalten und über den Austausch höflicher Phrasen nicht würden hinauslocken lassen.

Sie nahm endlich ein Buch aus ihrer Reisetasche, streckte sich mit einem leisen Seufzer auf das Sofa und versuchte zu lesen, als das nicht glückte, zu schlafen. Als es auch dazu vor erregten Gedanken nicht kommen wollte, erhob sie sich, setzte den Hut auf und ging aus dem Zimmer.


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