Paul Heyse
Gegen den Strom
Paul Heyse

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Diesen ganzen Tag und auch den folgenden kam die Sonne nicht zum Vorschein.

Ein schwerer, bleifarbener Dunst war über den Himmel gebreitet, hie und da zu einer dunkelgrauen Wolkenschicht verdichtet, die sich bis in die Kronen des Waldes herabsenkte. Über dem Heideland schwebten fahlgraue Schleier, wie Rauchwölkchen, die aus dem Boden aufgestiegen waren, oder in langen Streifen, die sich zuweilen ganz niedrig an die Torfpyramiden hingen oder höher schwebend an den Weiden des Uferdamms verfingen. Die Schwüle war so lastend, daß sie sogar den Vögeln die kleinen Kehlen bedrückte. Die ganze Natur schien den Atem anzuhalten, wie in bangem Vorschauer eines gewaltigen Ereignisses.

Das ließ denn auch nicht mehr lange auf sich warten.

Bald nach Mitternacht wurden die Bewohner des Klosters durch unheimliche Töne geweckt.

Ein mächtiges Gewitter war lautlos heraufgezogen, kündigte sich aber plötzlich durch einen furchtbaren Donnerschlag an, und zugleich stürzte der Regen in einem wahren Wolkenbruch herab, und man hörte den Fluß gegen das Ufer toben, bis herauf vernehmlich.

Greiner sprang auf und eilte ans Fenster. Das nächtliche Dunkel aber war undurchdringlich. Erst als gegen fünf Uhr der Wetterlärm nachließ, der Regen mäßiger wurde und im Osten eine schwache Helle zwischen dem Gewölk durchbrach, konnte der Späher oben eine Ahnung gewinnen, wie es in der Tiefe stand.

Ein letzter gewaltiger Blitz, der ein paar Sekunden anhielt, ließ ihn das Unheil erkennen, das unten geschehen war.

Er sah zwischen den noch immer vom Sturm gepeitschten Bäumen den Damm, der den Stößen der Flut an einer Stelle zunächst dem Stadttor nicht länger widerstanden hatte und durch eine breite Lücke die Wasser hereinströmen ließ. Drüben das weite Heideland war zu einem uferlosen See geworden, in dem die aufglimmende Morgenhelle sich spiegelte. Vom andern Fenster aus, zu dem er erschrocken hingeeilt war, sah er in das Städtchen hinab und erkannte, daß der Fluß unaufhaltsam, doch ohne Wellen zu schlagen, den tiefsten Teil bereits überschwemmt hatte und immer anwachsend bis zum Marktplatz, wo die beiden Kirchen standen, heraufgestiegen war. Vom Turm der einen Kirche erklang Glockengeläut, der Küster schien aus dem Schlaf aufgeschreckt zu sein und sich seines Amts, bei Wasser und Brandgefahr die Gemeinde zu warnen, erinnert zu haben.

Ob es rechtzeitig geschehen war, ließ sich aus der fernen Höhe nicht erkennen. Greiner warf sich rasch in die Kleider, fuhr in die hohen Stiefel, die er noch vom Felddienst her bewahrte, und eilte aus dem Zimmer.

Im dunklen Korridor stieß er auf Carus, den die gleiche Sorge hinausgetrieben hatte.

Ich muß hinunterreiten! stieß er hastig hervor. Wer weiß, wie es im Gasthof aussieht, ob sie sich zeitig genug haben retten können.

Ich gehe mit Ihnen. Auch mich möchte man unten nötig haben.

Wie wollen Sie hinunterkommen?

Das wird sich finden. Zum Glück läßt der Regen ein wenig nach, und auf ein bißchen nasse Füße kommt's mir nicht an.

Greiner hörte ihn schon nicht mehr. Er war nach der Treppe geeilt und die Stufen hinuntergestürmt. Durch den sumpfig gewordenen Grashof rannte er zum Stall hinüber, rüttelte Hinrich aus dem Schlaf und sattelte mit seiner Hilfe den Braunen. Dann ließ er sich das Tor öffnen und trabte, das Pferd spornend, die Straße nach dem Städtchen hinab, ohne nach dem Freunde umzublicken, der in raschem Lauf den Fußweg hinuntereilte.

Sie waren noch nicht unten angelangt, als der Regen völlig aufhörte und auch der Himmel über ihnen sich erhellte. Vor dem Tore unten begegneten sie sich, Greiner sah noch, wie Carus sich nach links wandte, wo die Stufen zu dem Umgang auf der Stadtmauer hinaufführten, hielt sich aber nicht mit Mutmaßungen auf, was der Freund vorhaben möchte, sondern ritt in die breite Hauptstraße hinein, wo er einzelnen Gestalten in eilig zusammengerafften Kleidern begegnete, die vor der herandringenden Überschwemmung die ansteigende Straße hinaufflüchteten.

Es war unheimlich, wie still alle diese geängsteten, aus ihren Häusern vertriebenen Leute sich verhielten, gerade so lautlos wie das Element, das auf ihren Fersen blieb. Kein Jammerruf, kein Notschrei drang aus ihren Kehlen, nur ihre entgeisterten Gesichter und die Angstblicke, die sie hinter sich warfen, verrieten ihr Entsetzen. Greiner aber ritt hindurch, ohne auf irgendeinem der mitleidswürdigen alten Weiblein oder gebrechlichen Greise den Blick ruhen zu lassen, zumal er jetzt die Flutgrenze erreicht hatte, wo der Braune lieber angehalten hätte. Ein Ruck mit dem Zügel trieb ihn aber in das Wasser hinein, in dem er langsam, aus den Nüstern schnobernd, seinen platschenden Schritt fortbewegte.

Je weiter sie hinunterkamen, desto kläglicher war der Anblick hilfloser Menschen, die in dürftigen Nachtkleidern aus den Fenstern der oberen Stockwerke blickten und aus dem unmerklichen Steigen des Wassers unten Furcht oder Hoffnung schöpften, ob das Unheil bis zu ihnen hinaufdringen möchte. Auch von diesen aber wurde kaum hie und da ein Angstruf laut. Eine stumme Verzweiflung schien die Seelen der guten Windheimer gelähmt zu haben, die so lange sorglos neben ihrem Flusse hingelebt und sich seiner als Angler erfreut hatten.

Endlich aber, als das Wasser dem Braunen bis hoch zum Bauch hinaufging, wurde der Blaue Engel sichtbar und am oberen Fenster zu seiner Linken, das offen stand, zwei Frauen in leichten Nachtkleidern, die sich umschlungen hielten, aber ohne Angst in die regungslose Wasserwüste unten am Hause hinabblickten.


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