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Zu derselben frühen Stunde, in der der Prior droben erwacht und sich der Gefahr bewußt geworden war, hatte der Lärm des Unwetters auch die Engelwirtin geweckt.
Mit einem bitteren Gefühl hatte sie das Bett neben dem ihren leer gesehen. Sie wußte, daß es nicht die Sorge um Haus und Hof gewesen war, was ihren leichtfertigen Gemahl bewogen hatte, sein Lager heute nacht nicht aufzusuchen, sondern eines seiner heimlichen Liebesabenteuer, über die das ehrbare Städtchen beide Augen zudrückte, und von denen er sonst um diese dunkle Morgenstunde durch die Hintertür sich wieder ins Haus zurückzuschleichen pflegte. Doch auch wenn sie sich mit ihrem Eheschicksal nicht längst abgefunden hätte, wäre heute nicht Zeit gewesen, darüber nachzugrübeln, welcher Abweg etwa Herrn Hegelmüller seinen Pflichten abtrünnig gemacht hätte.
Sie hatte deutlich die Stöße des Flutschwalls gehört, die das schwache Stadttor in ihrer Nähe gefährdeten, und das Toben des hochgehenden Flusses gegen die Brückenpfeiler. Mit einem resoluten Sprung war sie aus dem Bette, das in einem düsterlichen Gemach des Erdgeschosses hinter dem Speisesaal stand, klingelte die Mägde von ihren Dachkammern herunter und begann das Nötigste in einen großen Korb zu packen, vor allem die Kasse, dann allerlei Lebensmittel. Das befahl sie sofort durch den Garten nach dem Sommerkeller hinaufzutragen, kleidete sich rasch an und öffnete die Haustür, um zu spähen, wie weit die Gefahr schon herangedrungen war.
Sie kam gerade in dem Augenblick, da die Flut das schlecht verwahrte Stadttor gesprengt hatte und nun in die Straße hereinschoß. Alsbald war der am tiefsten liegende Platz vor dem Gasthof ausgefüllt, die Wellen wuchsen zu den Stufen hinan und drohten schon über die Schwelle zu steigen. Da entsann sich die Frau ihrer beiden Gäste im oberen Stock, sandte aber, statt selbst zu ihnen zu eilen, den Pikkolo die Treppe hinauf, um sie zu wecken, und lief, da das Wasser schon in den Hausgang hereinspülte, in hastigem Lauf den Mädchen nach, um noch trockenen Fußes das Freie zu gewinnen.
Der Junge aber, in seiner Angst, von dem Unheil ergriffen und fortgeschwemmt zu werden, war zitternd die Stufen hinaufgesprungen, hatte nur im Fluge mit der Faust an Helenes Tür gehämmert und sich dann hurtig wieder hinabgeflüchtet, der Wirtin nach. Immerhin war sein Klopfen laut genug gewesen, um die Schlafende zu wecken. Sie hatte am Abend vorher mit der Freundin in endlosen Gesprächen bis Mitternacht aufgesessen und war dann in festen Schlaf gesunken. Nun stand sie bestürzt auf, kleidete sich eilig an und lief über den Gang zu Juliane hinüber, die schon durch das Rauschen und Brausen von der Straße her geweckt worden war und eben zu ihr hinüber wollte.
Ein Blick zum Fenster hinaus überzeugte sie, daß sie gefangen waren. Ihr Rufen und Klingeln in das Haus hinunter weckte kein Echo. Doch erkannten sie bald, daß sie hier oben ungefährdet waren, da sie selbst in dem Fall, daß die Flut bis in den oberen Stock hinaufstiege, zum Boden hinauf flüchten konnten. Daß das Haus in seinen Grundmauern erschüttert und umgerissen werden möchte, war nicht zu befürchten.
So standen sie Schulter an Schulter gelehnt an einem der kleinen Fenster und genossen mit einem abenteuerlichen Grauen das Schauspiel, wie die breite Straße sich zum See verwandelte, die aus dem Schlaf aufgeschreckten Bewohner der nächsten Häuser in seltsamen Kostümen gleich ihnen auf die langsam wachsende Wasserfläche hinunterstarrten, während die Dämmerung sich mählich erhellte und über den niederen Dächern der Maimorgen zwischen dem Regengewölk heraufglänzte.
Auf einmal fuhr Juliane zusammen. Ganz fern in der breiten Wasserstraße hatte sie den Reiter entdeckt, der gerade auf ihr Haus zukam, und glaubte sogar zu erkennen, daß seine Augen unverwandt auf ihre Gestalt gerichtet waren. Hella! rief sie mit erstickter Stimme, stehst du ihn auch? Er ist's! O Gott, ihn wiederzusehn, in dieser angstvollen Stunde, und gewiß, er will zu uns, zu mir – ja, er ist es! O nun wird alles gut werden!
Auch Helene hatte die dunkle Mannesgestalt sofort erkannt. Liebste! er kommt, wiederholte sie. Halte dich nur aufrecht, daß dich die Freude nicht umwirft. Diesmal macht er alles wieder gut, was er im Walde droben gesündigt hat, und selbst ich werde ihm nicht länger zürnen können. Aber nein, einen guten Morgen will ich ihm nicht zuwinken, das muß er sich erst verdienen!
Inzwischen hatte sich der Braune immer schwerer durch die Flut durchkämpfen müssen, der Reiter aber hielt die Augen, statt sie zu dem Paar am Fenster droben aufzuschlagen, fest auf seinen Weg gerichtet, wo mit jedem Schritt des Pferdes das Wasser aufschäumte. Erst als er jetzt das Haus erreicht hatte und nun still hielt, während der Spiegel des Sees ihm bis an den Sattel reichte, blickte er zu den Frauen empor und sagte mit einer Stimme, die vor innerer Bewegung heiser klang: Ich komme, um unser Kind zu holen, eh' die Flut noch höher steigt. Reiche mir's hinaus und hülle es warm ein. Und wenn du Mut hast, dich über den Fenstersims hinauszuschwingen, will ich auch dich aufs Pferd setzen und in Sicherheit bringen. Aber eile dich! Wir dürfen keine Minute zaudern.
Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, in ihre Augen traten große Tränen. Sie konnte nur stammeln: Ich danke dir! Ich komme! Nur einen Augenblick!
Sie trat ins Zimmer zurück, Helene warf ihr einen langen Regenmantel um, küßte sie rasch und flüsterte: Gott sei gelobt! Dann erschienen sie wieder am Fenster.
Sie hatten die Kleine zwischen sich, die sie schon vorher geweckt und angekleidet hatten. Nun hob Juliane sie zum Fenster hinaus, sie dem Vater hinreichend, der aus den Bügeln gestiegen war und auf dem Sattel des Pferdes stand, die Arme zu ihr hinaufreckend. Er nahm die kleine Last sorgsam in Empfang und ließ sie am Sattelknopf nieder, dem Kinde einschärfend, sich an der dichten Mähne des Pferdes festzuhalten. Dann richtete er sich wieder auf, um auch Juliane zu holen. Die Fensterbrüstung war so niedrig, daß sie sich leicht hinaufschwingen konnte. Da ergriff er ihre schlanke Gestalt um die Mitte und hob sie vollends hinaus, sie auf den Rücken des Pferdes niederlassend. Zieh die Füße hinauf! gebot er, indem er selbst sich wieder im Sattel zurechtsetzte, zwischen Frau und Kind, Hilde vor ihm, sich an seine Brust schmiegend, Juliane auf der Kruppe kauernd und seinen starken Rücken umklammernd. Er aber blickte zu Helene zurück und rief: Ich komme wieder, auch Sie zu holen, sobald ich die andern in Sicherheit gebracht habe.
Bemühen Sie sich meinetwegen nicht! rief Helene ihm nach, da er schon das Pferd gewendet hatte. Ich bin hier so gut aufgehoben, wie in Abrahams Schoß.
Das Geräusch des Wassers, durch das der Braune sich durchdrängte, verschlang ihre Worte, die nicht allzu laut waren, da die Rührung sie überwältigte. So stand sie droben und sah den teuren Menschen nach, die durch eine so wundersame Fügung endlich wieder vereinigt waren.
Auch aus den Häusern zu beiden Seiten folgten verwunderte Blicke den dreien, die langsam vorüberzogen. Kein Wort wurde zwischen ihnen laut, auch nicht als das Pferd jenseits des Marktplatzes endlich auf das trockene Pflaster trat, sich schüttelnd, daß die Tropfen herumsprühten. Der Reiter aber stieg aus dem Sattel, da es dem Braunen, so stark er war, beschwerlich gewesen wäre, die dreifache Last bergan zu tragen, ergriff den Zügel und schritt schweigend die Straße vollends hinan und durch das Tor ins Freie.
Auch auf dem weiteren Wege, den sie bis zum Gipfel hinan langsam fortsetzten, wurde kein Wort gesprochen. Erst als sie droben an der Klosterpforte anlangten, wo Andreas sie erwartete, und Greiner beide heruntergehoben hatte, sagte er, Frau Marianne zunickend, die eilig über den Hof herangelaufen kam: Ihr müßt euch nun von dem Schrecken erholen. Diese gute Frau wird euch hinaufführen in meine Wohnung und euch zu Bett bringen, dann für trockene Kleider und Schuhe sorgen, daß ihr nicht krank werdet. Ich kann noch nicht bei euch bleiben, sie brauchen mich da unten, wo alle den Kopf verloren haben werden, und auch Helene wartet ja auf mich. Aber hoffentlich komme ich bald wieder. Lebt wohl indes!
Sie standen einander einen Augenblick stumm gegenüber, dann hob er das Kind auf und küßte es auf Stirn und Augen. Als er es niedersetzte und sich zum Fortgehen wendete, hörte er das junge Stimmchen sagen: Gibst du nicht auch der Mama einen Kuß? Da hielt er sich nicht länger, drückte Juliane, die regungslos zu ihm aufsah, in überwallender stürmischer Zärtlichkeit ans Herz, und ihre Lippen fanden sich in einem langen Kusse.
Dann löste er sich hastig aus ihrer Umarmung, stieg rasch aufs Pferd und sprengte unaufhaltsam die Straße wieder hinunter.