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4

Hier draußen auf dem Tveholm hatten die beiden Flüchtlinge einen ganz anderen Aufenthaltsort als in der Hütte des Pfarrers auf Hasselöra. Das erkannte Valle sofort, und er richtete sich danach ein. Vor allem war er auf eigenem Grund und Boden. Gleich in der Nacht, als sie ankamen, zündete er in der großen Stube ein so riesiges Feuer an, daß wahre Funkengarben zum Schornstein hinausflogen, denn eines war ja sonnenklar: man wußte genau, wohin sie sich gewendet hatten. Und am nächsten Morgen fuhr er mit dem Kahn hinaus, fing mit einem Netz Fische für den Tagesbedarf und schoß ein paar Wildenten. Körperliche Not brauchten sie nicht zu leiden, denn in dem Bündel, das er bei jenem nächtlichen Besuch hergebracht hatte, war Brot für lange Zeit und ein ganzer Topf voll gesalzener Butter.

So erlebten sie noch einmal ein kurzes, verzweifeltes Glück. –

Bei Tage würden sie jeden Verfolger auf zwei Seemeilen Abstand sofort entdecken können, die einzige unsichere Seite war der schmale Sund gegen die Inseln; aber dort auf der anderen Seite gab es kein Boot, und es wäre ein fast über Menschenkraft gehendes Unternehmen gewesen, wenn man über die Sumpfwiesen und um die von Gestrüpp umrandeten Berggipfel herum einen Kahn hätte schleppen wollen.

Bei Nacht war kein Überfall zu befürchten. Der Leuchtturmwächter hatte gesehen und gehört, daß dann Schüsse gewechselt werden könnten. Er wußte auch, daß sich sein Augapfel nur allzunah bei dem Verbrecher halten würde; er wollte bestimmt jedes weitere Blutvergießen vermeiden, wollte keinesfalls, daß noch einmal auf sie geschossen würde.

Zur Sicherheit verbarrikadierte Valle am nächsten Abend das Wohnhaus wie eine Festung; den ganzen Flur stapelte er mit angeschwemmten Balken voll und verrammelte die hochgelegenen Fenster mit Läden, die er aus alten Brettern zusammennagelte. Im Schuppen am Ufer lag das Großboot mit den Segeln und mit Herbstballast sowie Proviant versehen bereit. Nur die Segel mußten noch gesetzt werden.

»Wollen wir gleich fort?« fragte er Tuva.

»Ja, aber wohin?«

»Nach Schweden, meine Heuer von der Penelope ist noch unberührt. Und die Großmutter kann uns für den Anfang noch mehr schicken. Sie hat noch einige Sparpfennige von Janne für mich.«

Tuva überlegte eine Weile. Dann sagte sie auf ihre frühere zuversichtliche Art: »Ich glaube nicht, daß das nötig ist. Ich glaube, Vater gibt jetzt nach. Er hat gesehen, daß es uns ernst ist.«

»Aber wie können wir wissen, was er im Sinn hat?«

»Vielleicht kommt er hierher. Was tust du dann, Valle?«

»Wenn er allein kommt, nehm ich ihn auf, wie es deinem Vater gebührt, und rede mit ihm.«

»Oder wenn er einen andern als Friedensvermittler schickt? Vielleicht den Pfarrer selbst?«

Jetzt war die Reihe, zu überlegen, an Valle. »Du vergißt, daß ich in seine Hütte eingebrochen bin.«

»Ach, das hat er gewiß verziehen, so kleinlich ist er wahrhaftig nicht.«

»Na ja, wenn der Pfarrer allein kommt mit deinem Vater oder seinem Knecht, dann laß ich sie herein. Aber der Junker oder die Polizei kommen mir nicht an Land. Dann schieß ich.«

»Nein, Valle, du darfst nicht mehr schießen.«

»Doch, wenn es notwendig wird. Aber wenn es, ausgenommen von Westen her, genügend stark weht, dann gibt es ja noch einen andern Ausweg. Irgendein Motorboot, das es gut mit sich selber meint, kann uns, wenn alles gut abläuft, kaum festnehmen. Gehst du dann mit mir, Tuva? Ohne dich fahre ich nirgends hin.«

Sie schlingt ihm die Arme zu hartem Griff um den Hals und antwortet fest: »Ich gehe mit dir, wohin du willst.«

»Ich danke dir, Tuva. Nun werden wir sehen ...«

Der Tag erschien bald, der ihnen Antwort auf alle diese Fragen gab.

Durch das von seinem Vater geerbte Fernrohr sieht Valle den Lotsenkutter von Ankarö auf den Tveholm zusteuern. Noch ist er eine Seemeile entfernt und rollt gehörig in den hochgehenden Wellen. Aber schon kann Valle ganze fünf Mann an Bord unterscheiden. Ach so, der Leuchtturmwächter will sich ihrer bemächtigen! Da sitzt er selbst am Steuer. Und neben ihm – ist das wirklich der Junker? Schlimm ist er also nicht verwundet. Weiterhin zwei Gestalten, die eine groß, die andere kurz und breit. Das müssen der Amtsvorsteher und der Dorfpolizist sein. Und mittschiffs ein runder, zusammengekauerter Kerl, der aussieht wie eine Maschine Nummer zwei, aber eine viel größere. Doch jetzt erkennt er ihn – es ist der Pfarrer! Nun handelt sich's nur darum, ob der als Friedensstifter oder als Ankläger kommt. Wahrscheinlich das letztere, da er sich in solcher Gesellschaft herausbegeben hat ... Das ist übrigens einerlei – Valles Plan ist fertig. Es weht ein scharfer Ostwind, fast ein Sturm.

Er ruft Tuva an den Strand herunter und deutet hinaus. Entrüstet sagt er: »Auf sie schießen kann ich nicht, denn außer dem Junker und der Polizei sind auch dein Vater und der Pfarrer an Bord. Aber wir haben Wind, Tuva, und gerade von der rechten Seite.«

Sie erblaßt sichtlich. Er steht von seinem alten Späherplatz hinter dem Steinsarg auf und schiebt die drei Teile des Fernrohrs ineinander. Seine Stimme bebt, als er fragt: »Also, bist du bereit?«

»Ja«, antwortet sie deutlich und ohne Zögern, als stünde sie vor dem Altar.

Da wird er ganz ruhig. Ohne jede Hast trägt er Ölröcke, Pelze, Kissen, alle Eßwaren, die sie noch haben, und alles an Ausrüstung, was nicht vorher schon bereit lag, in den Schuppen hinunter. Sie reicht ihm die Sachen über die Reling, und nachdem er die Ladung verstaut hat, springt sie an Bord. Er schlägt die Schuppentüren zurück, leitet das Boot an seiner langen Fangleine hinaus zum Strand und an die Leeseite des Holms. Dort macht er die Leine an einem Baumstamm fest und klettert auf eine Felskuppe, um Ausguck zu halten. Nein, von dem Lotsenboot aus kann man das Manöver nicht gesehen haben, der ganze Holm liegt dazwischen. Aber noch ist's zu früh zum Aufbruch, noch könnte man ihnen den Weg abschneiden. Erst wenn die ganze Gesellschaft an Land gestiegen ist, erst dann ... Er läuft zurück in den Bootschuppen und verschließt die Türen von innen. Einige Minuten später ist er wieder auf der Leeseite bei Tuva, macht die Leine los und setzt die Segel.

Nach einer langwierigen Fahrt bei halber Maschinenkraft legt der Lotsenkutter vorsichtig am Landungssteg an. Nichts regt sich auf dem Holm. Der Junker drückt ein Auge an eine Ritze in der Wand des Bootsschuppens und späht in das Halbdunkel hinein.

»Sonderbar«, sagt er, »die Türen sind ja geschlossen; aber, hol mich der Teufel, ich glaube, das Boot ist fort!«

Der Pfarrer hört bei dem Sturmwind den Fluch nicht. Gelassen und im Südwester und dem flatternden Ölrock breiter als je steigt er als erster den Hügel zum Wohnhaus hinauf. Dicht auf den Fersen folgt ihm der Vater, dann die zwei Vertreter der Obrigkeit mit entblößten Pistolen und der Junker schußbereit mit seiner hocherhobenen Schrotflinte. Pfarrer Rosius sieht das nicht, sonst würde er augenblickliche Entwaffnung verlangen.

Aber was plötzlich alle vom Hügel aus sehen, ist ein Fischerboot. Es fährt mit vollen Segeln auf See hinaus, daß es um den Steven hoch aufschäumt.

»Schnell zurück und die Maschine anlassen!« schreit der Amtsvorsteher.

Der Pfarrer aber gehört nicht zu denen, die sich übereilen. Ehe er an Bord und die Maschine in Gang ist, haben die Flüchtlinge einen ansehnlichen Vorsprung. Im Seegang sieht man ihre Segel mit wenigstens einem Kilometer Abstand sich heben und senken. Das Ankaröboot setzt nach, der Leuchtturmwächter schraubt an den Nadelventilen und strengt die Maschine aufs äußerste an. So beginnt die Hetzjagd aufs Meer hinaus.

Zuerst sieht es aus, als würde das Fischerboot davonsegeln und dann verschwinden. Der Ostwind weht hier näher an Land stark und heftig. Es ist ganz klar, daß die zwei Waghälse dort draußen im Vertrauen darauf, daß die Tücher halten werden, ohne Reff in den Segeln fahren.

Aber bald ändert sich die Lage. Als die Schären hinter ihnen liegen, wallt von der Bottensee her ein langer nördlicher Seegang um die letzten Landspitzen. Das Fischerboot fällt bei der Gegensee zwei Strich ab, und der Lotsenkutter ändert augenblicklich seinen Kurs und folgt ihm.

Eine Weile bleibt der Abstand sich gleich. Allmählich aber flaut der Wind hier auf der offenen See ab, während zugleich der Seegang immer stärker wird. Manchmal, wenn eine große Welle das Tveholmer Boot hoch hinaufhebt und durch einen Riß in dem blaugrauen Oktoberhimmel ein wenig Helle auf die Wasserfläche fällt, sieht es aus, als sei eine dunkle Gestalt mit dem Segel beschäftigt und versuche, die Fock mit einem Riemen auszubaumen. Gut ausgedacht, aber eine Maschine ist eben doch eine Maschine. Der Lotsenkutter verringert langsam, aber sicher den Abstand.

Noch liegt eine Schäre vor ihnen. Sie streichen dicht an der »Morgengabe« vorbei, das Boot vom Tveholm zuerst und der Lotsenkutter von Ankarö schaumwerfend hinterher. Der Pfarrer erhebt sich, breitbeinig steht er auf dem schwankenden Deck und starrt nach der Schäre hinüber. Die Bake ragt zum Himmel empor wie ein drohend erhobener schwarzer Arm, eine zum Fluch geballte Faust.

Er denkt: »Dort hat alles Böse seinen Anfang genommen. Auf das nächste Glied sprang es über, und jetzt jagt ein Fluch den andern. Kann denn die schwarze Kette nicht zerrissen werden?«

Alle im Lotsenkutter schauen nach der Insel hinüber und dann auf den Pfarrer. Er hat den Südwester losgebunden, seine grauen Haarsträhnen flattern ihm um den Kopf, und sein Mund murmelt etwas. Das kann nichts anderes sein als ein Gebet.

Jetzt fängt der Kutter im Ernst aufzuholen an und kommt dem Fischerboot mit jeder Minute Meter um Meter näher. Bei den Brotthällen wird er es erreicht haben, das ist sicher.

Die Brotthällen, das sind die berüchtigten »Leichensteine« dicht unter dem Wasser. Wie hoch es heute um sie brandet! Und das Feuerschiff dort drüben mit seiner Laterne und seinem schwarzen Mars – wäre es nicht am besten, die jungen Leute vorerst dorthin zu bringen? So denkt der Amtsvorsteher. Und er ruft in den brausenden Wind hinein:

»Sagt, liebe Leute, was sollen wir tun, wenn wir heran sind?«

»Oh, da gibt's verschiedene Möglichkeiten«, meint der Leuchtturmwächter unglücklich und windet sich auf der Steuerbank. Aber bei dem heulenden Wind wird er nicht verstanden.

»Zuerst schieß ich ihnen das Segel entzwei!« ruft der Junker und deutet mit seiner Schrotflinte hinaus. »Dann sind sie hilflos.«

»Nein«, donnert der Pfarrer, »keinen Schuß mehr!«

Aber der Junker brüllt weiter: »Bin ich nicht selbst angeschossen worden? Und ich hinke noch.«

Jetzt erhebt der Leuchtturmwächter seine Stimme: »Lüg nicht! Du hast zuerst geschossen.«

»Ach so«, sagt der Pfarrer und sieht den jungen Mann mit seinen bleigrauen Augen durchdringend an. »Das ändert die Sache bedeutend. Sehr bedeutend.«

»Aber, Herr Pfarrer, ist er denn nicht bei Ihnen eingebrochen?«

»Ach, dummes Zeug! Das hab ich ihm verziehen. Die beiden sind ja wie gehetztes Wild ... Seht, seht, ach, Gott im Himmel! Seht ...«

Er wendet sich um und schreit dem Leuchtturmwächter, der die Ruderpinne festhält, zu:

»Augenblicklich kehrtgemacht! Sofort die Maschine abgestellt!«

Der Leuchtturmwächter gehorcht.

Seine Hände zittern wie in einem Krampf; aber es gelingt ihm, das Boot zu wenden, und er stellt die Maschine ab.

 

Im Fischerboot hatte sich Valle jeden Augenblick nach den Verfolgern umgesehen. Wohl eine halbe Stunde lang ging es gut, dann schlechter, und schließlich war jede Hoffnung zu Ende. Nur noch ein paar Kabellängen, und sie waren eingeholt!

Da schäumt an Steuerbord vor dem Steven die weiße Brandung der Brotthällen auf. Wie schneebedeckte Bäume erheben sich die wilden Brecher; sie breiten sich zu mächtigen Kronen aus, überschlagen und überstürzen sich, aber sofort steigen in rasender Wut neue schäumende, brüllende Sturzseen zum Himmel auf. Ein ganzer Wald ist es von Schaum und Kälte und Tod. Wenn er da hineinsteuert ...

Er reißt die Pinne nach Backbord, holt die Schot ein und hält geradeswegs auf den schäumenden Kirchhof zu. Tuva sieht es, sie schaudert und klammert sich an ihn fest.

»Willst du?« fragt er an ihrem Ohr. »Wagst du's?«

Sie gibt keine Antwort, sie nickt nur stumm und preßt ihre Wange auf die Hand, mit der er die Pinne umklammert. Einen Arm hat sie um ihn geschlungen, sie will nicht, daß sie getrennt werden, wenn das Vorschiff birst und sie durch die Trümmer hinausgeschleudert werden und sterben. Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Kommt es nicht bald? ...

Aber statt dessen fühlt sie, wie die Hand unter ihrer Wange heftig zusammenzuckt und die Pinne mit einem Ruck auf die andere Seite gedrückt wird. Sie schaut auf und sieht in zwei Augen, so leuchtend, wie sie ihr von ihren glücklichsten Stunden in Erinnerung sind. Und seine Stimme jubelt ihr ins Ohr: »Wir dürfen leben! Sie haben die Verfolgung aufgegeben, du, mein Weib, wir dürfen leben!«

Ein paar Minuten lang herrschte atemlose Spannung an Bord des Lotsenkutters, als er jetzt mit gestoppter Maschine in den breiten Wellen rollte. Alle andern streckten keuchend die Hälse, der Leuchtturmwächter aber war nicht imstande, aufrecht zu stehen. Zusammengesunken lag er an Deck und preßte beide Hände fest über die Augen.

Das Fischerboot hatte den Kurs geändert; vom Seitenwind gejagt, steuerte es gerade auf die Brotthällen zu. Schon war es fast in dem schäumenden Kirchhof. Aber gerade, als das Furchtbare geschehen sollte, sah man, wie Valfrid sich noch einmal umschaute, einen Augenblick zweifelte und dann kräftig nach Süden abfiel.

»Auf mit dir!« kommandiert der Pfarrer und läßt seine große Hand schwer auf die Schulter des Leuchtturmwächters fallen. »Die Kinder sind nicht ertrunken, sondern nach Schweden gefahren. Und, zum Kuckuck, ich werde mich dafür einsetzen, daß sie anständig zurückkommen! Aber eine weitere Verfolgung gibt's nicht mehr, hörst du!« Wieder nimmt er den Südwester vom Kopf und hält in dem schwankenden Boot stehenden Fußes eine kurze Ansprache, während ihm der Wind die grauen Haarsträhnen um die Stirn weht: »Jetzt ist der Fluch ausgelöscht. Danket Gott alle miteinander, und du auch, Junker! Seht, so groß war ihre Liebe, daß sie, um sie unverletzt zu erhalten, den Leib drangeben und in den Tod gehen wollten! Bei einer so lodernden Flamme gibt es in unserer lauen Welt nur ein Wort: Dank und Glückauf!« Er winkt mit dem Südwester dem enteilenden Boot nach. Und mit seinem einst so gewaltigen Baß stimmt er an: »Die Jugend ist selig, ja selig ist sie ...«

 


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