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Wenn das Glück des irdischen Paradieses zur Nachtzeit blüht, und zwar auf so unsicherem Boden, daß es bei jedem neuen Tagesanbruch zerbrechen kann, so war es für einige Spätsommerstunden in eine verfallene Scheune auf Hasselöra eingezogen. Das verstohlene Glück der beiden war vollkommen; aber sie wußten selbst, daß es nur kurz sein würde.
Der Halbmond hatte sich schon gerundet und war voll geworden. Wie ein gewaltiges gelbes Tierauge, seelenlos und doch zauberhaft, ging er irgendwo über den Waldwiesen auf, von dem dunklen Geäst wie von Adern durchzogen, bis er sich von all dem freimachte, Silberfarbe bekam und in einem Bogen über den Infjord hinzog. An manchem Abend war der Waldsee dicht von Nebel umhüllt, schwoll zu einem ganzen Meer an und dampfte wie ein riesengroßer Kessel mit Entengeschnatter auf dem Grund, während das weiße Licht durch all die wogenden, wallenden Dünste hindurch unbeweglich herunterstrahlte. An anderen Abenden dagegen war der Wasserspiegel klar, einige Sterne stachen sich gleichsam in die Oberfläche hinein und funkelten da wie zitternde silberne Nagelköpfe.
Aber dunkle Mitternachtswolken beschatteten dieses Paradies. Vor allem wühlte die Frage in beider Brust: Wie lange wird dies währen, und was kommt nachher?
Jeden Morgen mußten sie schon beim ersten Tagesgrauen aufwachen. Um sich in reinem Wasser zu waschen, watete Tuva in die Bucht hinaus, bis dahin, wo der Schlick entlang dem Strand aufhörte und man Kies unter den Füßen hatte. Valle betrachtete sie: unter den aufgeschürzten Röcken schnitten ihre braunen Beine in den Wasserspiegel wie eine Schere in von der Morgenröte rosenrot angemaltes Papier hinein. Dann hatten sie es sehr eilig, auf den verborgensten Viehpfaden in die Nähe des Außenbezirks von Askvik zu kommen, ehe die anderen Mäher und Mäherinnen unterwegs waren. Tuva mußte unbemerkt durch das niedere Kammerfenster ihrer Tante kriechen und das Bett so herrichten, wie wenn sie die Nacht über darin gelegen hätte und erst jetzt aufgestanden wäre, um sich an die Arbeitsstätte zu begeben. Für Valle war die Sache einfacher. Die Großmutter wußte alles, und sie gab ihm ihren vollen Segen zu allem, was er tat.
Als er einmal in der Morgendämmerung zurückkehrte, nachdem er zwei Tage und Nächte weg gewesen, war die Großmutter nicht daheim. Tiefe Wagengleise vor dem Hauseingang zeugten davon, daß sie gestern Pferd und Wagen gemietet hatte und weggefahren war. Und als sie am Nachmittag wieder heimkam und mit ihrem gichtbrüchigen Körper mühsam aus dem Gefährt stieg, sah sie aus wie jemand, der seine Reise mehrfach bezahlt hat.
»Jung«, sagte sie kurzatmig in der Stube, »jetzt bin ich beim Pfarrer gewesen. Du mein Herr und Gott, was ist das für ein Prachtkerl! Meinst du, er hätte das Gesetz hervorgeholt und etwa die Rute? O nein, du, im Gegenteil! Ich sagte, die Liebe muß ihr Recht haben, sie ist das einzige, was etwas Befriedigung in dieses Leben bringt. Und was meinst du, daß er geantwortet hat? ›Ja‹, sagte er, ›da hat Sie recht, meine Gute, obgleich die Sache ja bedauerlich ist, denn, sieht Sie, Zucht und Ordnung muß auch in den Gefühlen sein.‹ Und dann las er die Worte des Paulus aus der Heiligen Schrift vor: ›Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.‹ Nun, du weißt ja ... Und dann sagte er: ›es hat keinen Sinn, Elfrida allzu sehr zu betrauern, denn sie hat es wahrhaftig mehr als schlimm gehabt, ehe sie davonging, und jetzt wird sie vielleicht noch ein richtiger Mensch. Solche bedenkliche Sachen tut man niemals des Vergnügens wegen‹, sagte er. Ich alter Waschlappen war wahrhaftig fast zu Tränen gerührt; aber nun kam Kaffee herein, und da wurde mir natürlich wieder leichter ums Herz. Ach, du lieber Gott, so ein Mann! Vergiß nicht, den haben wir auf unserer Seite, du!«
Valle hörte schweigend zu, ganz bestürzt darüber, daß die Großmutter, wie angekündigt, den Pfarrer aufgesucht hatte. Er war der Meinung gewesen, die Alte hätte nur so ins Blaue hineingeredet. Und zugleich fühlte er, wie sich ihm vor lauter Widerwillen und Ärger der Hals zusammenschnürte. Die Großmutter war der einzige Mensch, dem er alle seine Geheimnisse anvertraute, aber trotz all ihrem Wohlwollen zeigte es sich nun, daß sie dieses Vertrauens nicht wert war. Von nun an würde sie auch kein Wort mehr zu hören bekommen. Jetzt war die Sache jedenfalls verraten. Einerlei, ob es sich um den Ehrenmann Rosius handelte, einerlei, ob sie vielleicht von ihm irgendwelche Hilfe bekommen konnten – jedenfalls war etwas Geheimes und Heiliges zerbrochen. Die Scheune am Infjord würde hiernach nicht mehr dieselbe sein wie früher.
Als an diesem Abend die Zeit dazu gekommen war, machte sich Valle wie gewöhnlich auf den Weg. Aber Tuva war nicht da, und sie kam auch am nächsten Abend nicht. Höchst beunruhigt wälzte er sich in der Scheune auf dem Heu; beim geringsten Laut fuhr er heftig zusammen, naß vor Angstschweiß. Was war geschehen? War es nun für immer aus mit ihren Zusammenkünften, würde er sie nicht wenigstens ein letztes Mal treffen können? Übermorgen war er auf dem Weg nach der Stadt, wie ausgemacht war, um sich anheuern zu lassen. Die Bark Penelope lichtete am 3. September den Anker.
Endlich in der letzten Nacht kam Tuva keuchend und aufgeregt daher. Wortlos küßten sie sich müde; aber erst nachdem er sie lange fragend angesehen hatte, öffnete sie die kindlich weichen Lippen zu einer Erklärung, die wie eine Entschuldigung klang. »Ich glaube, meine Tante hat Verdacht geschöpft, denn ich wurde nach Ankarö heimbefohlen. Vater nahm mich hinauf in die Kammer unter der Leuchtturmlaterne; das tut er immer, wenn es sich um etwas recht Schweres handelt. ›Tuva‹, sagte er, ›sieh mir in die Augen!‹ Das tat ich, und mir war dabei, als ständest du neben mir. Dann fragte er mich, ob ich mich dir hingegeben hätte, und ich antwortete: ›Ja, das hab ich getan!‹ Er forschte nicht weiter und atmete nur eine ganze Weile schwer.
Siehst du, auf meinen Vetter ist Vater nicht gut zu sprechen, er meint, der ist nicht viel wert und wird nie ein richtiger Mann. Aber, aber, Valle ... Auch du bist nicht mehr derselbe für ihn, der du warst, als er mit der Medaille nach dem Tveholm kam. Da hatte er die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Warum hast du sie nicht ergriffen, weder du, noch ...«
»Ich war nicht schuld daran. Es waren andere da, die ...«
»Aber Vater brachte häßliche Anklagen gegen dich vor. Er behauptet, jetzt endlich weiß er, wer damals seine beiden Gewehre unbrauchbar gemacht hat. Das ist der Dank gewesen, sagt er. Ach, wie um Himmels willen können wir ihn milder stimmen?«
Valle erwidert nichts, er zieht sie in die Scheune hinein zwischen das Heu und die gemähten Wiesenblumen.
»Aber, aber«, sagte sie zögernd, »wenn du nun ein Jahr auf großer Fahrt bist, was wird dann aus mir? Früher wollte ja Vater Aug in Auge mit dir reden, aber es ist nie etwas daraus geworden. Und jetzt ist es zu spät.«
Zum erstenmal sieht Valle, daß das mutige Feuer in ihren Augen erloschen ist. Wie mager und schmal ihre Wangen geworden sind!
Ein paar fortziehende Würgervögel lärmen und lachen im Hainbuchengehölz draußen. Es klingt, als ob jemand eine Feldknarre drehte.
Valle wird es bei diesen widerwärtigen Tönen noch beklommener zumut. Ja, gerade so muß es tönen, da ist die Wahrheit. Gleichen sie denn nicht feigem gejagtem Wild, das sich in sein Versteck drückt? Und er ist schuld daran. Schleichwege, betrügerische krumme Pfade ist er die ganze Zeit gegangen. Allerdings, er war dazu gezwungen, ist gleichzeitig von zwei Seiten her gedrängt worden; aber darum wurden die Wege nicht gerader. Beim Himmel, in was hat er Tuva hineingeschleppt! Wenn er sich nur hätte rächen wollen, dann könnte er jetzt stolz und befriedigt sein, dann könnte Janne im Frieden in seinem Grabe ruhen. Aber diese Sache war längst von etwas Stärkerem durchkreuzt worden, deshalb fühlte er sich so unselig und voll stechender Gewissensqual, als hätte er eine Tonne Nägel verschluckt. »Tuva«, sagte er gequält, »du weißt, ich habe deinem Vater alles Böse, was er uns angetan hat, verziehen, Deinetwegen, siehst du ... Und wenn du willst, geh ich morgen früh zu ihm und rede mit ihm. Ich kann vor der Abreise schon noch nach Ankarö kommen.«
»Nein, laß das!« flüstert Tuva erschrocken. »Das macht es nur noch schlimmer.«
Er drückt ihren zerzausten Kopf schützend an seine Schulter, aber mit einem trostlosen Gefühl der Ohnmacht. »Du darfst nicht zuviel von mir verlangen, Tuva. Wie ein Mühlrad dreht sich mir die ganze Geschichte im Kopf herum. Und gute Ratschläge hab ich bekommen, aber was helfen die! Zuletzt sogar noch von der alten Hexe Ira. Vorgestern war ich im Dorf drüben, und da begegnete sie mir auf der Landstraße. Weißt du, was sie sagte? ›Ha‹, sagte sie und glotzte mich dabei an wie eine Ratte, ›ich hab gehört, daß du verliebt bist. Gefährliches Spiel, mein Jung. Aber wenn du sie nicht verlieren willst, dann steck zwei Äpfel auf die Borste eines Ebers und gib ihr die zu essen. Dann kannst du sicher sein‹.«
Da müssen beide lächeln.
»Aber wie kann das widerliche alte Weib es wissen, Valle?«
»Es wird wohl im Dorf bekanntgeworden sein.«
»Gewiß nicht! Hat uns vielleicht jemand hier gesehen?«
»Nein, aber es gibt andere Wege. Ich weiß nicht, wo sie anfangen und wie sie sich verzweigen.«
Eine Weile herrscht Schweigen zwischen ihnen. Dann flüstert sie ihm ganz leise zu; das klingt wieder überaus zuversichtlich, denn ihr Arm umschlingt seinen Hals: »Liebster, verlier den Mut nicht! Was sollte uns denn noch trennen können?«
Grillen zirpen in der Scheune und in dem schwach raschelnden Laub draußen. Alles atmet eine friedevolle Güte, und mit schweren Augenlidern versinken die beiden in diese sichere Ruhe.
Sie sind eben Arm in Arm eingeschlafen, als irgendwo in der Nähe zwei leise Stimmen vernehmlich werden. Sie fahren zusammen. Valle springt auf und legt das Auge an den Türspalt. Diese Stimmen kennen sie nur zu gut. Über die nächste Lichtung hat der Mondschein eine breite Decke wie von neugefallenem Schnee gelegt, und auf dieser weißen Fläche nähern sich zwei dunkle Gestalten, die eine mit einer Heugabel über der Schulter. Ach so, der Junker ist heimgekommen ...
Wortlos wühlt Valle eine tiefe Grube in das Heu, zieht Tuva hastig mit sich hinein und häuft über beide noch einige dicke Bündel.
Vorsichtig, als gelte es, eine Pulverkammer zu öffnen, drücken die draußen das Scheunentor zuerst einen kleinen Spalt weit auf, ehe sie es richtig aufreißen. Eine elektrische Taschenlampe knackt, der scharfe Lichtkreis spielt von einer Wand zur anderen über die schwellenden Hügel aus dürrem Gras und Blumen hin und dringt stechend zwischen die Halme hinein. Aber Valle und Tuva liegen genügend tief vergraben, und sie halten den Atem an, damit die Decke über ihnen sich ja nicht bewegt.
»Auch hier leer«, sagt der Leuchtturmwächter. »Da soll doch der Teufel ...«
»Oder sollen wir die Heugabel nehmen, wie der Däne einst gegen Gustav Wasa, hick, hick?« grinst der Junker.
»Unsinn, du Quasselfritze!« fährt ihm Stark über den Mund und macht die Tür wieder zu. Es klingt, als jucke es ihn, dem Neffen einen Fußtritt zu geben.
Die Schritte draußen verschwinden langsam auf die Baumwiesen zu.
Valle gräbt Tuva und sich selbst aus dem Heu heraus.
»Jetzt hast du doch deinen Vater betrogen«, flüstert er und küßt sie.
Rauh und mit Pollenmehl bestreut wippt ihre Nasenspitze an seiner Wange auf und ab, während sie antwortet: »Betrogen, ja ... Aber was blieb mir anderes übrig? Hätte ich vielleicht aufstehen und dich verraten sollen? Auf der ganzen Welt kommst du zuerst für mich, und alles andere erst nachher.«
Der Mond hat seine leuchtende Bahn vollendet, die Grillen sind verstummt. Und wieder ertönt ihre Stimme etwas ängstlich aus der Dunkelheit: »Aber was soll aus mir werden, wenn du jetzt Heuer nimmst und mindestens ein Jahr lang fortbleibst? Ohne dich bin ich gar nichts.«
»Daran ist nichts zu ändern, Tuva. Du weißt, daß das für uns beide am besten ist.« Er hat ihr dieses beschützend und mit vielen Liebkosungen zugeflüstert; aber plötzlich wird er von einer wilden Angst erfaßt. Betrogen ... Dies Wort, auf das er selbst verfallen ist, jetzt brennt es in ihm wie eine nagende Ungewißheit, fast wie eine Vorbedeutung. Auch Tuva könnte ihn betrügen ...
Hastig reißt er sie an sich und schreit beinah: »Länger als ein Jahr bleib ich fort, ja vielleicht zwei. Nun schwör mir, schwör mir bei allem, was dir heilig ist, schwör mir bei dem Kinde, das wir einmal zusammen haben werden, daß du dich nie einem anderen Mann hingibst! Ich meine: deinem Vetter, dem Satan!«
Sie sperrt die Augen weit auf. »Wie kannst du so etwas denken? Ich gehöre ja dir.«
»Verzeih«, stöhnt er, »ich bin verrückt.«
Bekräftigend streckt Tuva trotzdem drei schlanke Finger in die Höhe. Sie sind in der Dunkelheit kaum zu sehen, und alles miteinander ist ja eine Auswirkung der kindlichen, überhitzten Einbildung der beiden.
Dann sagt sie leise und eifersüchtig: »Aber du selbst? Ein Jahr oder vielleicht zwei ... Alle die Häfen, und all die Verlockungen für die Seeleute ...«
Er drückt sie fast tot aus Widerspruch. »O du Närrchen, meinst du, es gibt auf der weiten Welt irgendeine andere für mich als dich?«
Es ist ihnen unmöglich, noch einmal einzuschlafen. Sie setzen sich in den wilden Rosmarin am Strand; der betäubende Duft zieht über sie hin. Weit draußen vom Infjord her tönt der nächtliche Schrei des Meertauchers. Der Ton klingt klagend wie von einem neugeborenen Kind; er dringt aus dem Nebel heraus, bisweilen fast unhörbar, bisweilen so deutlich, als stünde man an einer Wiege.
Tuva schaudert zusammen; aber er merkt es nicht. Mit krampfhafter Heftigkeit klammern sich ihre zarten Glieder an ihn, und Valle beantwortet ihren Gefühlsausbruch mit Leib und Seele. Und zugleich sieht er vor sich die Viermastbark Penelope, die jetzt wohl Ballast einnimmt für die Seefahrt nach Westindien und Australien, wo sie mit Weizen für England beladen werden soll.
Seine Seekiste ist schon gepackt und wartet auf ihn. Morgen nachmittag muß er aufbrechen.