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Janne setzte sich, mager wie ein Notjahr, in seiner Schlafbank auf und streckte einen von Pfingsten und vom Branntwein schweren zerzausten Kopf in die Höhe. Zum Henker, wie das blies! Oder kam das ganze Unwesen von der andern Seite der Stube, wo des Bussars alte Kehle im Schlaf wie ein zersprungenes Orgelwerk krächzte? Nein, die Wände bebten ja von den Windstößen.
Er legte sich wieder nieder und kreuzte die Arme bequem auf der Brust. Laß es wehen, so viel es will!
In einer Hinsicht war es hier auf dem Tveholm besser geworden als früher. Mit dem Gepimpel und Gejammer war Schluß, man durfte den Bussar einladen, man durfte am Vorabend eines Festes trinken, so viel man wollte, und brauchte kein Wort darüber zu hören, wie sich feine Leute benehmen. Ja, Dank sei dir gesagt, Norweger, solange du mir nicht an die Ehre tastest, und das hast du beim Satan bis jetzt nicht getan! Eigentlich bist du eine prima Zugabe. Heut nacht hatten wir es richtig herrlich miteinander, wir zwei Alten und du. Elfrida dort hinten in der Kammer und du dort unten in Valles Kate, also keine Gefahr ... Aber jetzt stürmt es ja verteufelt ...
In diesem Augenblick springt die Flurtür auf, und Valle stürzt herein. Was, in Gottes Namen, ist mit dem Jungen los?
»Vater, wir müssen hinaus und bergen!« schreit er.
»Wo denn?« fragt Janne gemächlich. Er ist langsamer mit Worten als mit Gedanken und bleibt unter seiner gewürfelten Decke gleichgültig liegen.
»Auf der ›Morgengabe‹! Aber sofort! Lebensgefahr ...«
»Hoho, von dieser verfluchten Schäre wird niemand weggespült! Dort soll ja auch allerlei in der Bake vorrätig sein – jetzt, jawohl. Nein, Jung, auf der ›Morgengabe‹ hab ich nichts verloren.«
»Aber es ist nicht auf der Schäre selbst, sondern im Osten auf dem Kalven! Wir müssen, Vater, eil dich!«
Valle stampft mit beiden Füßen auf den Boden. Was, in Gottes Namen, ist denn mit dem Jungen los?
Unter der halbgeöffneten Kammertür steht Elfrida schlotternd im bloßen Nachthemd, blaß vor Schrecken. Sogar der Bussar ist von dem Lärm aufgewacht. Wie zwei borstige braune geteerte Trossenenden hängen seine Beine über die Bettkante herunter, als er sich aufsetzt. Ein mörderlicher Anfall von Morgenhusten hindert ihn, sofort einzugreifen. Erst als der Husten vorüber ist, glotzt er den aufgeregten Jungen mit weit aufgerissenen Augen an und öffnet den Mund:
»Hä-hähähuihuuii! ... toff-poff ...«
Dieses Gelächter macht Valle nur noch verrückter als zuvor. Janne aber fragt:
»Ist es ein Vollschiff?«
»Nein, nein ... aber schnell, schnell!«
»Einer, glaube ich. Aber es können mehr gewesen sein.«
»Was, nur einer? Um den Kerl kann sich Ankarö annehmen, in ihrem eigenen Gewässer. Weißt du gewiß, Valle, daß es nicht einer von ihnen selbst ist?«
Valfrid gibt keine Antwort, sondern fuchtelt nur mit einem Arm in der Luft herum.
»Dann fahr ich allein!« schreit er und läuft nach der Tür.
»Gott im Himmel, er wird ertrinken!« jammert Elfrida. Sie hat einen Mantel umgenommen und stürzt ihm nach.
»Ja, wir müssen wohl nachsehen, was eigentlich los ist«, sagt Janne.
Er fährt in seine hohen Wasserstiefel, zieht einen Lederrock an und eilt hinaus. Das sonderbare Benehmen des Jungen hat ihn mit einer trüben Ahnung erfüllt, es könnte wirklich nicht alles in Ordnung sein, und er müßte es am Ende bereuen, wenn er nicht sofort in See ginge.
Der alte Bussar zögert ein wenig. Nach seiner Gewohnheit hat er sich vollständig angekleidet zu Bett gelegt, diesmal in seinem dünnen und fadenscheinigen Sonntagsanzug. Irgendeinen wasserdichten Rock holt er sich nicht aus dem Kämmerchen im Flur, denn er hat noch niemals zugegeben, daß ihn je einmal frieren könnte. Zur Winterszeit und im Frühjahr beim Fischfang im Eis, wenn andere sich in Pelze hüllen, weigert er sich hartnäckig, etwas anderes anzuziehen als seine unveränderliche Jahresmontur, bestehend aus einem wergleinenen Hemd, einem Rock und Barchenthosen. Man trinkt Seewasser, damit hält man sich frisch, toff, poff ... Da kam es allerdings öfters vor, daß er in ein gefährliches Zittern geriet, das seine lange Gestalt in einen verfilzten Knäuel von Armen und Beinen verwandelte; aber frieren, nein, ihn fror nicht – bei all den liebestollen Mädchen in der Türkei, nein, ihn fror kein bißchen! Und nachdem er eine Weile gezittert und mit den Zähnen geklappert hatte, wurde ihm so warm von diesem nützlichen Sport, daß ihm die Schweißperlen im Gesicht standen – da seht ihr, Kinder, wer will behaupten, daß es den Bussar friere?
Aber jetzt, anstatt etwas weiteres anzuziehen, stöbert er im Wandschrank die letzte halbgeleerte Branntweinflasche auf, und in dem Gedanken, was ihm alles bevorstehen könnte, gießt er den ganzen Inhalt in sich hinein. Denn eigentlich fürchtet sich der alte Bussar vor der See. Nicht auf dem Deck eines richtigen Fahrzeuges, da niemals, aber in Booten, wo man das Wasser zwei Schuh weit vor der Nase hat. Wie ein durchtriebener böser Geist sitzt ihm der Schrecken noch in seiner innersten Herzkammer seit jenem Tag vor bald einem Menschenalter im ersten Jahr seiner Ehe, wo er gestrandet war und – pfui Teufel! – mit einem Tau um den Leib wie ein Strömling quer durch die Sturzseen und in Glads Boot hineingezogen und so gerettet worden war. Ein ganz junger Dachs war der Glad damals gewesen, er, der es dann bis zum Netzkönig gebracht hatte und im letzten Jahr gestorben war. Damals hatte er gerade erst zwei Taschen in den Hosen, aber trotzdem rettete er des Bussars Frau noch dazu – ob zwar zu irgend jemandes Freude, das haben sich viele gefragt ... Kurzum, die See war die unglückliche Liebe des alten Bussar, sie zog ihn an, sie behexte ihn, und er fand, wie er sich ausdrückte, das Klima hier an Land drinnen in dem allen Winden preisgegebenen Küstenort ungesund. Und trotzdem fürchtete er sich vor jedem schlimmeren Wetter auf See, obgleich er seine Angst niemals zeigte. Im Gegenteil, in den gefährlichsten Augenblicken an Bord riß er unweigerlich stets den Mund auf und schrie wie ein Papagei: »Morgen, Jungens, jetzt fahren wir fein!« – damit stärkte er sich selbst und andere. Nur wer ihn am besten kannte, wußte, daß sein übriger Sprechmechanismus dann verstummt war, und daß er so steif wurde wie ein getrockneter Fisch, beim Manövrieren nicht helfen konnte und nur als toter Ballast dasaß und Unsinn schwatzte. Zu denen, die ihn längst durchschaut hatten, gehörte selbstverständlich Janne.
Kluck – kluck – gluck – jetzt ist die Flasche leer! Der alte Bussar setzt die Mütze auf und zappelt sich ab, um durch den Wind an den Nordstrand zu gelangen. Dort unten in Lee merkt er, daß Leute hinter dem großen viereckigen Steinsarg liegen und durchs Fernrohr schauen. Weiter draußen ist die See eine einzige brausende Hölle.
»Siehst du etwas?« fragt er Janne.
Dieser aber schüttelt nur ärgerlich den Kopf. Seine Augen sind zu alt geworden. Und weshalb hat Valle sein eigenes Fernrohr weggeschmuggelt, das schärfer ist als dieses verrauchte Ofenrohr?
Der Bussar selbst macht gar keinen Versuch. Der Norweger ist auch da, Elfridas Mantel flattert ihm um die Wange, wenn er sich niederlegt und das Auge an das Fernrohr drückt.
»Ich glaub ... hol mich der und jener, ist das nicht ein ...«
Der Rest geht im Sturmgebraus über den Bussar weg, er hört nur Janne sagen:
»Hä, du siehst Gespenster!«
»Im Gegenteil, ich mein, ich hab Augen im Kopf – verstehst du vielleicht kein Schwedisch?«
Durch das Heulen des Sturmes hindurch dringt wie ein Büchsenschuß das Knarren von Holz und das Klatschen eines Segels. Valle hat ein Großboot aus dem Schuppen geholt, darin den Mast aufgestellt und in Lee von der Wand ein ganz gerefftes Segel gehißt. Sie hasten zum Landungssteg, und Janne ergreift die Fangleine des Bootes.
»Stopp. Ich fahr nirgends hin, und du auch nicht!«
»Dann fahr ich mit Verlaub«, erklärt der Norweger gelassen und schreitet den Steg entlang.
Janne dreht sich um und mustert zuerst ihn und dann Elfrida. Ihr eines Auge ist voll Verzweiflung, ihr anderes voll jubelnden Stolzes. Er wird wütend. Hätte sie noch ein drittes Auge, so wäre es sicherlich voller Hohn und Verachtung für ihn, ihren angetrauten Mann. Das sieht er jetzt. Und im gleichen Augenblick plumpst etwas Schweres ins Boot hinunter. Das ist der wasserscheue Bussar, der ohne ein Wort, aber mit dem Aussehen eines Schlachtopfers seinen ihm zukommenden Platz einnimmt.
Oho, meinte vielleicht einer, der Tveholm-Janne sei feig? Meinte einer, es gebe unter den Jungen und Alten einen, der mutiger wäre als er? Er springt ins Boot.
»Alles klar?« fragt er Valle mit vor Wut zitternder Stimme. »Leinen – wieviel? Wenigstens dreißig Faden müssen es sein. Netzschwimmer sind da, seh ich. Hast du Sandbeutel und geteerte Leinen dazu? Aber eine Persenning zum Schleppen ... Rasch, hol eine!«
»Rein ins Boot!« brüllt er dem Norweger zu, der einen Augenblick verschwunden ist. »Jetzt bin ich Kapitän und du fährst mit! Eingestiegen!« Und mit der Ruderpinne unter dem Arm kommandiert er: »Loswerfen!«
Bei stürmischem Mitwind und dichtgerefftem Großsegel geht es zur Bucht hinaus. Aber nach dem Landungssteg sieht sich Janne nicht um. Von dort aus wird gewinkt. – Ja, winkt nur! Ich bin Kapitän an Bord, und alle Völker der Erde sind nur Ballast, und wenn auch Senegalesen an Bord kämen ...
Die See ist eine einzige Schaumwehe, einen Augenblick grünlichweiß, den nächsten glitzernd von Sonne. Die Wolken jagen am Himmel wie langhalsige Gespenstervögel, die im Dahinsausen heulen. Je weiter sie ins offene Wasser hinauskommen, desto stärker wird der Schwall unter dem Kiel, und desto wütender zerren die Böen an dem kleinen Lappen von Segel. Der Schaum wird von den Wogenkämmen weggefegt; die spritzen von hinten ins Boot und treffen auch das Segel, die Sturzseen ringeln sich wie schaumbedeckte Schlangen damit um die Wette und sausen weiter. Janne hat eine Persenning als Schlepp ausgebracht, um die Achterseen, die hereinzustürzen drohen, niederzuhalten, und es war wahrlich nicht zu früh gewesen.
»Hurra!« schreit der Bussar. »Ein verdammt seetüchtiges Boot hast du!«
Aber weiter sagt er nichts mehr.
Bei diesem pfeifenden Mitwind ist der Weg zur »Morgengabe« nur ein Katzensprung im Vergleich zu dem, was er in der vergangenen Nacht gewesen war, als Valfrid gegen die Strömung rudern mußte; aber er kommt ihm unendlich lang vor. Er windet sich auf der Bank beim Segel, nahe daran, vor verzweifelt bösem Gewissen in Krämpfe zu verfallen. Die von hinten heranrollenden Wogen, der wimmernde Mast und die wie Geigensaiten gespannten Stage, die Sturzseen, die hereinschlagen und ihm den Nacken peitschen – alles das ist für ihn gar nicht vorhanden. Zwei Gefühle pressen ihm die Brust zusammen, Angst und fressende Scham. Was um Himmels willen hat er angestellt? Hätte er ahnen können ... Aber das Fernrohr log nicht, es hatte gesagt, was es gesagt hatte. Ein und dasselbe Gesicht sieht er immerfort vor sich: ein hilfloses junges Mädchen, das sich gegen die wild daherstürzende Brandung am Felsen festklammert. Wahrlich, das war weit entfernt von dem, was er erwartet hatte! Nicht eine Notzeichen gebende Gesellschaft, die sich auf die »Morgengabe« gerettet hatte und von ihm aus gerne da sitzenbleiben und sich fragen durfte, warum das Boot gesunken und zerschellt sei. Nein, nicht das, sondern Tuva allein auf dem Kalven, in Lebensgefahr! Kein Leuchtturmwächter dabei, nicht einmal der Junker. Oder waren die vielleicht ertrunken? Wir müssen beizeiten hinkommen, wir müssen!
Und dann noch ein anderes Gesicht. Ach, pfui Teufel, wenn er nur über die Reling speien könnte! Als er, gerade bevor sie loswarfen, in den Schuppen lief, um die Persenning zu holen ... Hinter der Tür seine Mutter mit dem Norweger; sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und sich an seinem Mund festgesaugt wie eine Ertrinkende, ja, sie ließ nicht einmal los, obgleich ihr eigener Sohn vorbeilief. Nun war also auch diese Sache am Tage ...
Das Netzboot ächzt weiter, langsamer, wenn es die schäumenden Kämme hinaufgeht, wo die langen Wogen sich nach einem Ausbruch gleichsam bedenken, ehe sie einen neuen Sprung machen und ihren Spielball mit verdoppelter Wut in die nächste Wogenschaukel hineintreiben. Es zerrt an dem kleinen gerefften Segellappen, allein der ist aus prima heimgewebtem Tuch und hält viel aus. Janne sitzt ganz still und hält die Ruderpinne unter den rechten Arm gepreßt; er muß darauf achten, daß bei einer Bö der Großbaum nicht nach der anderen Seite übergeht, denn dann ist es aus mit Takelung und Segeln. Aber wie soll man auf die Leeseite kommen bei dieser Sakerments-Pfingstfahrt? Im Steven der Bussar, dieser Nichtsnutz, hier neben ihm der Norweger, der ... Weiß der Teufel, was dieser Judas vorhatte ... und dann Valle, sein herrlicher Junge.
Aber dieser Junge war heute ganz verrückt. Und Janne blinzelt ärgerlich nach der »Morgengabe« hin, die in dem hohen Seegang mit der tanzenden Bake obendrauf immer näher taumelt.
Seine Augen ziehen sich plötzlich zu zwei stechenden gelben Raubtierschlitzen zusammen. Nicht er allein sieht es, auch die andern strecken den Hals. Hinter den rollenden Wogen taucht von Zeit zu Zeit ein manövrierendes Motorboot auf, ein breiter Lotsenkutter mit zwei Mann an Bord. Die Ankaröer! – Er kennt das Gelichter, den Stark und seinen Neffen. Und dort auf dem Kalven liegt sie und klammert sich an einen Felsblock, so oft die Brandung über sie hinstürzt ... Wie, im Namen des Herrn, ist sie dorthin gekommen? Aber mag Ankarö für sich selbst sorgen. Er ist in eine Falle gegangen, das da ist Schwindel und Betrug ...
»Klar zum Wenden!« brüllt Janne und preßt die Ruderpinne nach Backbord. Aber schon fällt Valfrid über ihn her. Zum Henker, was ist der Junge stark!
»Laß das Teufelsbalg versaufen! Oder sie sollen sie selbst retten!«
Valle hält Jannes Arme wie in einem Schraubstock fest und die Ruderpinne gerade. Und der Norweger ruft in seinem halben Schwedisch:
»Schweinehund, es ist doch ein Mensch! Ein Weib!«
Sogar der Bussar im Steven hat etwas zu sagen. Er hat kaum die Kraft, den Mund zu öffnen, aber er nickt und preßt hervor: »Nein, Janne, nicht so! Wir sind feine Leute. Als ich in der Türkei war ...«
Durch den sprühenden Schaum starrt Janne in Valfrids Augen, die er dicht vor sich hat. Beinah Wahnsinn liegt in dem Blick, der ihn trifft; er sieht, daß der Junge zu allem bereit ist. Plötzlich wird ihm angst, denn er begreift nichts davon. Zum erstenmal in seinem Leben beugt er sich einer Übermacht; er fühlt, daß er keine Wahl mehr hat, wenn sich nicht noch Schlimmeres ereignen soll.
»Dann steuer ich also hin!« knurrt er durch die Zähne. »Aber weg da!«
Valle löst den harten Griff, mit dem er seinen Stiefvater gepackt hat. Als er vorhin das Motorboot mit dem Leuchtturmwächter und dem Junker entdeckt hatte, da schrie in seinem Innern etwas wie Befreiung laut auf. Sonderbar ... Er gönnte den beiden alles Böse, hätte ihnen gegönnt, wie Ungeheuer zu ersaufen – nur nicht gerade jetzt. Es war schon genug Entsetzliches da. Aber der Tveholm mußte Tuva retten, so mußte es sein. Er fühlt sich unmäßig stark, bereit zu jeglichem Wagnis, wenn er nur ungeschehen machen kann, was er getan hat.
Brausend fährt das Netzboot auf sein Ziel los. Der Leuchtturmwächter und der Junker sind verschwunden, sicherlich versuchen sie, an der Leeseite der »Morgengabe« zu landen und von dort eine Leine zum Kalven hinüberzuwerfen. Aber das geht nicht, heute gibt es keine Leeseite auf der runden Schäre; wie in einem Teufelskessel wogt und kocht es überall, rundherum. Dort im Norden ist die Brandung noch höher, denn da ist flacheres Wasser, so daß sie sich von beiden Seiten her auftürmt.
Als sie nach dem Kalven hinkommen, ist das Lotsenboot vor ihnen. Die Ankaröer fuchteln mit den Armen und rufen ihnen etwas zu; aber es ist nicht zu verstehen. Der Leuchtturmwächter sitzt am Steuer und bedient die Maschine, der Neffe wirft einmal ums andere ein großes Korkstück mit einer geteerten Leine und zieht es verzweifelt wieder ein. Denn es kommt nicht weit genug, die zurückschlagende See saugt es wieder mit sich hinaus. Dort drüben liegt Tuva und klammert sich an einen Felsblock; sie ist so durchnäßt, daß die zerrissenen Kleider an ihrem Körper kleben, und um ihre Beine schäumt das Wasser. Nach jeder Sturzsee rennt sie, ehe die nächste kommt, bis zur Steinkante vor, um die Rettungsleine zu erhaschen. Aber sie reicht nicht bis zu ihr hin, läuft zurück und klammert sich wieder an den Felsblock. Eine kleine Strecke von ihr entfernt tanzt ein Haufe von Trümmern in der schlimmsten Brandung hin und her; aus den Splittern ragt ein wippender Mast auf, der den Takt schlägt zu den Hebungen der See. Das sind Reste eines Bootes.
Der Lotsenkutter von Ankarö wird im Fahrwasser hin und her geworfen, wo die Wellen von der Gegenströmung getroffen werden und sich hoch aufbäumen. Ach, die dort haben scheint's nicht so viel Grütze im Kopf, noch einige Klafter näher zu fahren, die Dummköpfe!
In einem sausenden Bogen fährt Janne an ihnen vorbei bis dicht zum Kalven hin und luvt auf. Es knallt wie eine Gewehrsalve in dem Segeltuch. Eine Welle schlägt über die Reling herein und gurgelt auf den Boden des Bootes nieder. Aber jetzt haben wir wenigstens gewendet, wenn wir auch noch ein wenig mehr Ballast eingenommen haben.
»Fock hissen!« ruft er. »Wir kreuzen!«
Im Augenblick hat Valle den kleinen Klüver gesetzt, und in der nächsten Sekunde wirft er einen Korkschwimmer an einer Leine aus. Aber es geht ihm nicht besser als dem Junker, obwohl er näher heran ist. Tuva rennt zwischen zwei Wellen herzu, wird von einer dritten überschüttet und beinahe mitgerissen. Aber bis zu dem Kork kann sie nicht gelangen. Valle versucht es mit einem Sandbeutel, schleudert ihn einmal ums andere hinaus, daß ihm fast die Arme brechen – einige Klafter vom Strand entfernt klatscht er nieder! Der Abstand ist noch zu groß, und näher hin getraut sich Janne nicht; da kämen sie in die Brandung und wären verloren.
Einige Zeit vergeht mit diesen nutzlosen Rettungsversuchen von beiden Booten. Die See wird immer schlimmer und es sieht aus, als sei Tuva am Ende ihrer Kraft. Sie läuft nicht mehr nach dem Kork oder dem Sandsack, sondern bleibt bei ihrem Felsblock und wird vor Kälte und Ermattung immer steifer.
Da bemerkte Valle etwas. Der Junker im Lotsenboot zieht die Stiefel und den Lederrock aus. Oho, das darf nicht sein, er muß ihm zuvorkommen! Im Nu ist er aus den schwersten Kleidern heraus und bindet sich die leichte Wurfleine um den Leib.
»Junge, was, um Gottes willen!« schreit Janne. Allein schon springt Valfrid über Bord.
»Du kannst mich ja immer wieder einholen, Vater!«
Wie gelähmt sitzt Janne in dem stampfenden Netzboot und sieht zu, wie die Leine über die Reling abläuft. In seinem einfachen Kopf dreht sich alles im Kreis, so etwas hätte er sich niemals träumen lassen. Der Junge verschwindet einmal unter dem Wasser, taucht wie ein Rasender schwimmend wieder auf und wird von einer langen Woge nach dem Kalven hingetrieben, aber sofort wieder mit hinausgezogen, als sie zurückrollt. Die nächste Brandung aber spült ihn hinauf bis zu den Klippen; plötzlich hat er Boden unter den Füßen und kriecht auf allen Vieren durch den sprudelnden Schaum, bis er sich an demselben Felsblock festhält wie Tuva. Da knüpft er die Leine um sie und das Ende um sich selbst. Er faßt sie unter den Armen, um im richtigen Augenblick mit ihr abzuspringen. Nun gilt es für die im Boot, sie einzuholen.
Aber im gleichen Augenblick geschieht etwas. Die Reefbändsel in dem gerefften Großsegel reißen eins nach dem andern, als schneide sie der Sturm mit einer Schere durch, das Segel schwillt zu einem Sack an und zerplatzt mit einem Knall. An Bord entsteht Aufregung. Aus ist's mit Kreuzen und Steuern, die einzige Rettung ist, nach den Riemen zu greifen, den Steven zu wenden und mit dem kleinen Notklüver und dem Wind von achtern um die wilde Brandung herum an die Ostseite des Kalvens zu segeln.
»Hurra, das geht fein!« schreit der Bussar gerade in dem Augenblick, wo es am ungewissesten ist, ob es gelingt, um die äußerste Spitze des Riffs herumzukommen, oder ob man dagegenschmettern und ertrinken wird.
Janne manövriert nicht gut, es ist reine Gnade von den Wellen, daß es trotzdem gelingt. Seine Augen sind voll Angst; es ist nicht die Angst vor dem, was er vor Augen sieht, sondern vor dem, was sie hinter sich gelassen haben. Er sieht immer nur rückwärts und steht beinah auf. Jetzt ist auch Valfrid auf dem Kalven geblieben!
Währenddessen hat niemand im Boot darauf achtgegeben, daß die ganze Linie abgerollt und über Bord gegangen ist. Aber Valle holt sie ein, dreißig Faden, während er sich mit der linken Hand am gleichen Felsblock festklammert wie Tuva. Er löst die Wurfleine um ihren Körper nicht, macht nur sich selbst frei und nimmt noch einen doppelten Schlag um einen spitzen Stein – jetzt wird sie wenigstens nicht weggespült. Dann beginnt er sich mit dem anderen Ende der Trosse auf der schaumbedeckten Unterwasserbrücke zur »Morgengabe« hinüberzuarbeiten. Ein paarmal verliert er den Boden unter den Füßen und fällt in einer über ihn herwogenden Sturzsee hin; aber sofort steht er wieder auf, faßt von neuem festen Fuß, gerät jedoch abermals ins Unsichere und stößt so hart gegen die Klippen, daß er fast das Bewußtsein verliert, bis er schließlich doch mit der Leine in der Hand den Uferrand erreicht.
»Komm!« winkt er mit dem Leinenende in der Hand. »Ich zieh dich herüber!«
Tuva löst die Leine von dem Stein und macht sich, stolpernd und sich an den wellenüberspülten Klippen fast wundstoßend, auf den Weg. Aber die Leine ist fest um ihren Leib gebunden, und Valle zieht sie zu sich her wie einen gefangenen großen Fisch. Von den Brechern umgeworfen, beinah ertrunken, kommt sie an Land und hinauf zwischen das Riedgras am Ufer, wohin die Wellen nicht mehr gelangen. Er wirft sich über sie, kappt die einschneidende Leine und wälzt sie auf den Bauch, damit ihr das Wasser aus dem Munde laufe.
»Ich bin's, Tuva, ich! Siehst du es nicht?«
Sie stützt sich auf den Ellbogen und hustet einige kalte Wasserschlucke aus der Lunge. Dann taumelt sie den Hügel hinauf, von seinem Arm umklammert, der sich hart um ihre Brust unter der festgeklebten Bluse legt. Aber er merkt das nicht. Er weiß nur, daß er sie gerettet hat, jetzt ist alles wunderbar groß und neu.
Rasch fort zu der Bake, dort soll wieder Leben in sie kommen!
Auf dem Fußboden, neben der Feuerstelle aus Backsteinen, steht ein ganzer Stapel von getrocknetem, feingespaltenem Treibholz, und in der Kiste mit dem Blechdeckel sind Zündhölzer. In wenigen Augenblicken hat er ein Feuer gemacht, so groß er es zu machen wagt in der zwar weiträumigen, aber sturmumbrausten Bake, wo die Funken an die Holzwände fliegen. Tuva liegt auf der Luvseite des Feuers in ihren triefenden und zerrissenen Kleidern; aber allmählich kommt immer mehr Leben in ihre braunen Augen, bis sie sie wieder schließt und ganz leise murmelt:
»Ich dank dir, Valfrid.«
Und sie schläft ein, rasch, wie man ein Licht ausbläst. Ihre Worte schneiden ihm ins Herz wie ein aus Reue und bösem Gewissen geschmiedetes Messer, obgleich die Wunde auch vor Seligkeit blutet.
Nachdem Janne um den Kalven herumgekommen ist und gesehen hat, daß es Valfrid gelang, sich selbst und das Mädchen zu retten, bleibt ihm keine andere Wahl, als mit dem kleinen Lappen von Klüver südwärts zu halten. Wohin sollte er sich jetzt wenden? Auf dieser Seite gab es nur einen einzigen Hafen: Ankarö. Und gleich darauf fuhr, sie in dem wilden Seegang beinahe streifend, das Lotsenboot an ihnen vorbei; die zwei an Bord fuchtelten mit den Armen und deuteten einladend auf ihre Heimstätte. Mit einem Herzen voll von Flüchen fügte sich Janne in das Unvermeidliche.
Der Leuchtturmwächter hatte vor der »Morgengabe« gezögert, bis er sah, daß die Bake auf der Leeseite durch die dünnen Wände rauchte wie eine Badstube. Da erkannte er, daß die Gefahr vorüber war. Wenn nur der Sturm nicht lange anhielt ... Auf jeden Fall war jetzt nichts anderes zu machen, als heimwärts zu steuern.
Als das Boot vom Tveholm mit zerrissenem Segel und zur Hälfte voll Wasser in den Hafen von Ankarö einfuhr, kam ihm der Leuchtturmwächter mit einem silbernen Pokal in der einen Hand und einer Flasche in der anderen auf der Landungsbrücke entgegen. Er begrüßte die Insassen als Ehrenmänner und Helden. Der alte Bussar erlag sofort der Versuchung, und im nächsten Augenblick kam wieder Leben in seinen eingeschlafenen Körper. Auch der Norweger stieg bereitwillig an Land, aß und trank dem Pfingstfest zu Ehren mit allen Mannsleuten auf der Insel, kletterte auch im Leuchtturm auf und ab unter fleißigem Umherschauen und herzlicher Zwiesprache. Wie der Bussar auch, ging er am Abend rein wie ein Fürst in der Lotsenwohnung zu Bett.
Aber wer allen Vorstellungen zum Trotz nicht an Land ging, das war Janne. Er pumpte das Boot aus, als wäre es seine eigene Wut, die er mit dem weißen Gischt, den die Holzrinne über die Reling spuckte, aus sich herausleere. Dann blieb er während der zwei vollen Tage, die der Aufenthalt auf Ankarö dauerte, halsstarrig an Bord, schlief in seinen triefenden Kleidern unter der Fock und fastete trotz der vielen ihm angebotenen leckeren Gerichte. Das einzige, was er annahm, waren ein halber Laib Brot und einige Scheiben geräucherter Speck, und selbst diese Kost aß er nur widerwillig. Und als der Leuchtturmwächter dann noch zum fünftenmal zu ihm herunter kam und etwas verlegen sagte: »Hier hast du meine Hand! Und du weißt, daß es jetzt keine Wassergrenzen mehr gibt zwischen dir und mir«, da antwortete er trocken: »Ich hoffe, ich hab künftig in deinem Wasser nichts mehr verloren!«
Erst am dritten Tag, als der Sturm nachließ und der Norweger droben in der Lotsenwohnung das Großsegel notdürftig zusammengeflickt hatte, konnte das Boot der Tveholmer loswerfen und unter zeitweise starken Böen heimsegeln. Jetzt war auch Valle an Bord, ebenso stumm wie die drei anderen. Nicht einmal der Bussar fand es angezeigt, den Mund aufzutun; ernüchtert und beschämt wie ein geprügelter Hund saß er vorn im Boot und grübelte über die menschliche Unzulänglichkeit nach, die einen dahinbringen kann, seinen besten Freund zu verkaufen, wenn auch nicht um dreißig Silberlinge, so doch um einen randvollen Becher. Ob Janne wohl furchtbar wütend auf ihn war? Dann mußte er den Kameraden eben besänftigen, und alles würde wieder gut werden; es geschah ja nicht zum erstenmal ...
Alle vier schauten einander mit fragendem Unbehagen an; es war eine ungewöhnlich verdrossene Heimfahrt. Das Anerbieten, sich von Starks Motorboot schleppen zu lassen, hatte Janne glatt abgeschlagen.
Auf der »Morgengabe« aber hatte sich allerlei begeben.