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10

Janne dreht sich um und schlägt mit seinem kranken Fuß im Seehundschlappen aus. In demselben Augenblick erwachen alle drei. Ist nicht irgendwo in der Nähe Motorgeräusch zu hören?

Dem Bussar ist alles wurst; er liegt gut und brummt etwas davon, die Sonne sei ja noch nicht aufgegangen. Aber die beiden anderen nehmen die Fernrohre in die Hand und knien sich im ersten Tagesgrauen auf.

»Gehorsamer Diener!« zischt Janne, »das Leben ist beim Satan so verrückt geworden, daß man auf alles gefaßt sein muß. Der Stark von Ankarö und sein Mädel, glaub ich ... Aber nicht der Junker, der Spitzkopf. Sie steuern hierher.«

Er richtet sich zu seiner ganzen Länge auf, daß er wie ein Seezeichen gegen die Luft dasteht, und dies bedeutet, daß der Platz besetzt und weitere Gesellschaft nicht erwünscht sei.

»Hoho, zum Teufel, der Stark begnügt sich nicht mit seinen eigenen schönen Gewässern, er will auch noch die allgemeinen Fischgründe besteuern, obgleich er schon alle Hosentaschen voll Geld hat und Sparbücher und alles. Ja, du sperrst dein Maul weit auf, Geierschlund, sieh zu, ob du auch schlucken kannst, was du hineinschlingst!« So ausführlich hat Janne schon lange nicht mehr gesprochen; vielleicht war er vom Trinken noch ein wenig benommen.

Der Bussar aber bleibt ganz gleichmütig. Als er seinen Morgenhusten herausgestoßen hat, stimmt er, noch immer behaglich auf dem Boden liegend und sein leuchtendes Riechhorn zum Himmel erhoben, an:

»Nach einem großen Erwerber
Kommt gewöhnlich ein Erber,
Der wird ein großer Verderber!«

Valles Herz hämmert krankhaft hart. Er sieht, wie das Ankaröboot eine scharfe Biegung macht und dann Kurs auf den Inneren Sattel zu nimmt. Es ist nicht der Lotsenkutter, sondern das kleine Motorboot des Leuchtturmwächters. Tuva ist darin, das sieht er deutlich, Tuva und ihr Vater. Vielleicht war Stark schon gestern hier gewesen und hatte die drei entdeckt und wollte jetzt hier einen Versuch machen, die Schützengesellschaft zu bilden, von der er gesprochen hatte, als er mit der Erinnerungsmedaille daherkam, die dann ins Meer geflogen war. Aber Janne stand im Wege, natürlich. Valle schielt nach dem Stiefvater hin, der hoch aufragt wie ein Signal, auf dem geschrieben steht: »Pack dich!« Er hat die größte Lust, dem Alten einen Fußtritt zu geben, daß die mageren Beine einknicken und er hinfällt.

Das Ankaröboot steuert glatt auf den Inneren Sattel zu und verschwindet in dem tiefen Hafenrund zwischen den Klippen. Gleich nachher ertönen Lockrufe von der Schäre her, deren holperige Steinplatten mit Vogelmist von den widerwärtigen Kormoranen übersät zu sein pflegen. Mit bloßem Auge kann man den Leuchtturmwächter dort auf der Westseite in einer verborgenen Felsenspalte sehen, und Tuva neben ihm. Sonderbar, daß sie bei allen seinen Seefahrten mit dabei sein muß! Aber der Junker ist ja jetzt im Sommer wegen der Vermessungen nicht zu Hause, und die Lotsen und die Feuerwärter haben wohl Urlaub, solange die Feuer während der hellsten Nächte gelöscht sind.

Allerdings weht es etwas, und es ist nicht gerade günstiges Wetter für den Inneren Sattel; aber eine ganze Karawane von Seehunden scheint jedenfalls dahin zu treiben, Kopf an Kopf. Gleich darauf schießt der Leuchtturmwächter, einmal und nach ein paar Minuten noch einmal, aber immer daneben. Kein Boot wird ausgesetzt, eine Beute zu bergen. Jannes Augen leuchten zustimmend. Ja, du sperrst das Maul auf, du Geierschlund ... Und als ein dritter Schuß vom Inneren Sattel her dröhnt, kippt er einen tüchtigen Morgenschnaps, der das Gegenteil von einem Schlachttrunk ist und noch zehnmal angenehmer.

Aber es dauert nicht lange, bis sie um ihre eigene Schäre her Seehunde haben. Janne liegt in Schießstellung, und er schießt auf kürzesten Abstand vorbei – der Bussar verstand die Kunst, den Seehund so nah herbeizulocken, daß es schien, als wolle er sich an den Klippen festkrallen. Hier kann aber weder ein Sonnenstreifen noch etwas anderes schuld sein.

»Der Schuß zum Teufel«, verkündet der Bussar bedauernd. »Ja, entweder bist du noch benebelt, oder es hat jemand droben an Land ... Vielleicht die Hexe, pfui Kuckuck ...«

Janne richtet sich nach dem Schuß auf, er sieht furchtbar aus. Wild faßt er seine schwere Flinte mit beiden Händen und haut damit wie mit einem Hammer auf die Felsen. Holzsplitter fliegen vom Kolben und Vorderschaft, das Schloß sprüht Funken auf dem Stein und wird zu zermahlenem Schrott, selbst der lange Lauf biegt sich, und dann schleudert Janne das mißhandelte Skelett seines getreuen Dieners ins Meer hinaus. »Teufel«, röchelt er heiser, »jetzt weiß ich, wie's zugegangen ist!«

Valle klettert zu ihm hin und faßt ihn behutsam am Rockärmel. »Es hat keinen Sinn, so heftig zu sein, Vater«, sagt er ruhig. »Du hast doch gehört, daß der Leuchtturmwächter dreimal daneben geschossen hat. Und weißt du, warum? Dafür hab ich gesorgt ...«

Der Stiefvater starrt ihn erst mißtrauisch, doch allmählich immer freundlicher an. »Gott segne dich, Junge! Und jetzt holen wir die Beute herein.«

Sie fahren mit dem Kahn hinaus und suchen nach Valles Seehund von gestern abend; nach einer Weile entdecken sie auch das Tier in der von der Sonne immer heller durchleuchteten Tiefe und lassen den Draggen hinunter. Da, wo der Seehund, ungefähr vier Klafter tief, im Wasser liegt, ganz ruhig und ohne Blutspuren, sieht er aus wie ein Strömling; aber oben in der Luft bekommt er einen ganz anderen Umfang und ein anderes Gewicht.

»Hä-hä-huii!« grunzt der Bussar, als sie den toten Seehund in den inneren Hafen bis zu einer Strandklippe hinbugsieren. Da legen sie ihn ins Kielwasser neben die zwei anderen aufgedunsenen und schon stinkenden Körper; der erste ist gewaltig groß, der zweite klein, aber kugelrund wie ein Mehlsack, und der letzte an Größe ungefähr mittendrin. »Dies sieht ja, potz Türkensäbel, aus wie ein Kapitalfang! Wenn wir eine Woche so weitermachen ... Was meinst du, wie viele der aufgeblasene Stark an Land hat? Den Rauch von drei Fehlschüssen, Junge, aber nicht ein einziges Härchen. Ich meine, wir haben uns jetzt einen Kaffeeschnaps verdient.«

Gerade in diesem Augenblick knallt es vom Inneren Sattel her zum viertenmal; aber kein Kahn wird ausgesetzt, um etwas hereinzuholen. Jannes Augen beleben sich aufs neue und funkeln schadenfroh. Na ja, wenn er auch seine eigene Flinte kaput geschlagen hat, dann gibt's ja schönere und neuere Gewehre, die, scheint's, auch nicht mehr Glück haben. Valle, Valle, Gott segne dich!

Der Bussar gießt einen ordentlichen Schwall Branntwein in Jannes Humpen mit einem Rest von kaltem Kaffee; aber gerade in diesem festlichen Augenblick sieht er, daß mit seinem Gefährten etwas nicht in Ordnung ist.

»Du zitterst ja mit der Hand, daß der Branntwein überschwappt«, sagt er bekümmert.

»Ach was«, erwidert Janne, »ich war nur ein wenig wütend.«

Aber es ist kein Zittern, das ohne weiteres vorübergeht. Jannes magerer Körper wird von einem Schüttelfrost nach dem anderen gerüttelt. Er trinkt unmäßig viel Branntwein; aber die Wärme will nicht in seinen Körper zurückkehren, obgleich die Steinplatten unter ihm schon lau werden.

»Du hast Fieber und bist nah daran, irrezureden«, stellt der krankheitskundige Bussar fest. »Aber von deinem Fuß kommt das nicht her, niemalen nicht, Junge, den hab ich selbst zugepflastert.«

Janne wird immer unklarer und verwirrter; es ist deutlich, daß er von hier fortgeschafft und ins Bett gesteckt werden muß, und schließlich sieht er das selbst ein. »Jungens, setzt das Segel und lotst mich heim zu meiner Frau. Denn jetzt fall ich bald um!«

Wahrhaftig, das sieht ihm nicht gleich. Heim zu meiner Frau ... Bedeutet dies, daß wirklich Gefahr im Verzug ist?

Aber in einem Augenblick klaren Bewußtseins glotzt Janne mit seinen rot unterlaufenen Augen Valle befehlend an. »Du bleibst hier, Valle! Laß den Schurken von Ankarö nicht kommen, schieß auf ihn, wenn er sich zeigt! Der Bussar fährt mich heim. Du hast den Kahn und kannst rudern, aber er wird nicht viele Zoll über Wasser liegen, wenn du heimkommst. Denn du kannst schießen, Junge.«

In aller Eile schaffen sie ein Polster in das Netzboot und legen Janne darauf; fast alles andere wird bei Valle auf der Schäre zurückgelassen, auch die toten Seehunde.

»Ich bin wohl morgen schon wieder hier«, sagt der Bussar.

Seine borstigen Trossen von Armen fahren durch die Luft, als er den Mast aufrichtet und das Segel hißt, während Valle bis an die Brust ins Wasser watet und das Boot aus dem inneren Hafen holt.

Der Bussar läßt sein Gesicht in bekümmerten Falten hängen gleich einem alten Gerberfell; wortlos holt er die Schot ein, umfährt die Südspitze und nimmt bei der schwachen Brise Kurs zur Küste.

Wie langsam es geht! Valle verfolgt die Fahrt mit dem Fernrohr, das Netzboot macht seinen Weg gleichmäßig bei dem leichten Morgenwind. Eine einzige Gestalt ragt über den Bootrand auf, das ist des Bussar bekümmert nickender Kopf ganz hinten an der Ruderpinne, Janne mußte also vorn auf dem Polster liegengeblieben sein. Aber gerade als sie an dem Inneren Sattel vorbeistreichen, geschieht etwas Sonderbares. Das Boot dreht mit flatternden Segeln bei und fährt fast bis auf den Strand hinauf. Der Bussar richtet sich auf, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und ruft etwas. Auf den Steinplatten dort drüben wird es lebendig. Schon nach wenigen Minuten ist der Stark mit seinem Motorboot draußen, wirft eine Fangleine hinüber und nimmt das Netzboot in Schlepp. Er allein ... Tuva steht auf dem Holm und sieht ihnen nach.

Was hatte das zu bedeuten? War es mit Janne plötzlich schlimmer geworden, so daß Hilfe nötig wurde? Oder schlief er in seinem Rausch so fest, daß er nicht wußte, was sein Kamerad tat? Na, dann würde es wahrhaftig ein friedliches Erwachen geben ... Denn der Bussar war ja kein Todfeind des Leuchtturmwächters, der Alte war zu faul zum Rudern, und vor dem Steven hatte er bald einen schwer zu überwindenden Gürtel von Windstille. Aber daß er das wagte! Und daß Stark sofort bereit war, den beiden betrunkenen Alten zu helfen! Sonderbar alles miteinander ...

Die beiden Boote verschwinden langsam auf die Küste zu, das vordere aus dem Auspuff qualmend und das andere mit geborgenen Segeln, bis der Rumpf mit den niederen Klippen weiter draußen zusammenfließt und undeutlich wird. Aber das Stampfen der Maschine ist noch lange, lange zu hören.

Jetzt ist weder Motor- noch Segelboot mehr auf den Sätteln, nichts als zwei Kähne, auf jedem Sattel einer.

Valle sieht, daß Tuva wieder in dieselbe Felsspalte auf der Westseite wie zuvor hineinkriecht. Hat das Mädchen etwa die Absicht, zu schießen, wenn sich Seehunde zeigen? Er glaubt zu sehen, wie sie sich auszieht und nun im bloßen Hemd dasitzt, ein buntes Tuch um den Kopf, sicherlich als Schutz gegen die Sonne. Aber das ist keine passende Tracht, wenn ein Seehund in Schußweite kommen soll, so blind ist der doch nicht. Auch ist kein Lockruf zu hören.

Warum sitzt er eigentlich selbst hier auf der östlichen und schlechtesten Seite der Schäre, wo der sehr steinige Boden eine kleine Strecke vom Strand schon mehrere Faden tief jäh abfällt und sich das Schießen kaum verlohnt? Und er ruft nicht einmal, starrt nur geradeaus auf einen kleinen grellfarbigen Punkt, der sich eine halbe Seemeile entfernt aus einer Felsspalte abhebt. Sogar sein Fernrohr läßt er unberührt liegen, er begehrt gar nicht zu erfahren, wie Tuva dort drüben wirklich aussieht; nein, auf diese Weise ist es am besten und schönsten. Mit dem Fernrohr verbinden sich allzu trübe Erinnerungen; das macht alles so kalt, hart und unheimlich, aber ohne das Rohr kann er sehen, was er will. Eigentlich weiß er ja gar nicht, ob sie in einem dünnen feinen Hemd und mit einem seidenen Tuch um den Kopf dort drüben sitzt – aber irgendwie sitzt sie jedenfalls dort. Und aus dem dünnen weißen Zeug lugen ihre feingeäderten Brüste hervor, heben und senken sich wieder wie zwei rosenrote Quallen. In seinem Gedächtnis ist alles, was sich soeben zugetragen hat, wie ausgelöscht. Was gehen ihn zwei betrunkene alte Männer an, der eine krank und zum Platzen voll Haß, der andere gut Freund mit der ganzen Welt und schlapp wie ein Handschuh? Was geht ihn der Leuchtturmwächter an und die ewige Feindschaft? Was unbrauchbar gemachte Netze, unbrauchbar gemachte Boote und Gewehre oder die heutige sonderbare Schleppfahrt? Für ihn gibt es nur einen Menschen auf der weiten Welt, Tuva, und sie sitzt in einem Felsspalt dort drüben, nur eine halbe Seemeile von ihm. Woran denkt sie wohl in diesem Augenblick? Wenn er das doch wüßte ...

Heute tritt die Flaute früher ein. Es ist, wie wenn das Meer am Morgen einen großen, dunstigen blauen Atem über die Wasserfläche hingehaucht hätte, der ihr nachher helfen soll, mit unsichtbarer Hand ihren Spiegel blank zu reiben. Alles ringsum ist dann wieder eine unendliche sonnenerfüllte Wölbung, in der ein paar zerstreute Wolken schweben. Nicht die allergeringste Dünung plätschert gegen den Strand, jede Bewegung hat aufgehört, wie gleich nach der Erschaffung der Welt. Nur bisweilen werden in der Ferne Vogelstimmen laut; wo aber, ist nicht zu unterscheiden. Doch nirgends ein Dampfboot, das mit dem Ton einer dumpfen Trommel auf der großen Wasserstraße einherzieht, und auch kein Geknatter eines Motors zwischen den Schären. Von dem Leuchtturmwächter ist nichts zu sehen noch zu hören.

Valle versucht es mit einem Lockruf. Da merkt er, daß, wie man sagt, ein »Hall« in der Luft ist. Das Echo aus dem leeren Raum wirft den Ruf zurück, der gleichsam an unsichtbare Glaswände schlägt, einmal ums andere, erst näher und stärker, dann immer ferner und schwächer. Noch nicht oft hat Valle dieses zauberische Klingen hier draußen auf dem Meer erlebt, und seine Phantasie erblickt darin ein Zeichen, daß diese Stunde zu den auserwählten gehört, die nie wiederkehren.

Im gleichen Augenblick hat er den Lockruf vergessen, er hat ja nicht einmal seine Flinte zur Hand. Ein einziges Wort will ihn fast zersprengen, und wie im Taumel ruft er mit der ganzen Kraft seiner Lunge übers Wasser hin:

»Tuva! Tuuuva ...!«

Und tausendfältig wirft das Echo den Namen zurück: »Tuva! – Tuuva! – Tuuuva ...!«

Ohne zu wissen, wie lange er so gerufen hat, wacht er davon auf, daß ein Kahn aus dem Inneren Sattel herausschießt und mit mädchenhaft kurzen Ruderschlägen hierher hält.

Einen kaum bemerkbaren Strich, schwarz wie Kohle, ritzt er in den glänzenden Wasserspiegel. Als Valle den Kahn näher kommen sieht, weiß er nicht, was er lieber will, fluchen oder segnen. »Soll die Qual noch größer werden?« jagt ihm die Frage durch den Kopf. – »Sie kommt, sie kommt!« jubelt es gleichzeitig.

»Du hast mich gerufen«, sagt Tuva und zieht den Kahn an Land.

»Vielleicht ... Nein, ich glaub nicht«, antwortet er verwirrt.

»Doch, du hast gerufen! Eine gute Weile sogar.«

Sie ist gar nicht so angezogen, wie er sich gedacht hat; sondern in Bluse und Rock, zwar ohne Strümpfe, aber ihre Füße stecken in Schuhen, denn die Steinplatten werden allmählich empfindlich heiß. Um den Kopf aber hat sie wirklich ein buntseidenes Tuch.

»Sag doch, Tuva ... Warum hat denn dein Vater das Boot in Schlepp genommen? ... Was um Himmels willen war denn los?«

»Ach, sei ruhig! Der Bussars-Matte schrie, dein Stiefvater sei todkrank; aber wer weiß, ob nicht die beiden Alten eher betrunken waren. Zuerst wollte mein Vater mich mitnehmen, dann aber sagte er, es sähe in ihrem Boot zu gräßlich aus, voll Erbrochenem und so. Deshalb bat er mich zu warten, bis er wiederkommt. Mein Vater ist sehr gut, weißt du.«

»Ach so! Mein Alter war allerdings krank und nicht nur betrunken, wie du meinst.« Valle fühlt sich plötzlich gekränkt und erbittert; in seinem Inneren regt sich eine Spur des alten Familienhasses, und er fragt spöttisch: »Warum bemühst du dich eigentlich hierher? Das ist eine lange Ruderfahrt für ein kleines Mädel.«

Aber zugleich sieht er Tuva an. Sie schwingt eine Blechkanne sorglos in der rechten Hand, und ihre braungebrannte Nasenspitze wippt schalkhaft auf und ab, als sie antwortet: »Meinst du vielleicht, ich komm deinetwegen? Nein, meinetwegen kannst du rufen, solang du willst. Aber ich muß Trinkwasser haben, das ist das Ganze. Man verdurstet ja fast.«

Auf dem kleinen Inneren Sattel gibt's manchmal nichts als schmutziges Regenwasser in irgendeiner geschützten Felsspalte, aber bei der langen Trockenheit ist auch das verschwunden.

Hier jedoch auf der größeren Schäre findet sich droben auf dem Gipfel zwischen Moos und kriechendem Gewächs ein tiefes Loch, das einem schwarzen Auge mit langen grünen Wimpern gleicht. Die einen meinen, es sei eine Quelle, die mitten im Meere aufgetaucht sei, andere behaupten, es seien ganz einfach Niederschläge, die sich dort durch Rinnen und Erdschichten hindurch sammeln. Kühl und gut ist dieses Wasser jedenfalls; es versiegt nie, und jetzt läuft Tuva wie eine Bachstelze hinauf und füllt ihre Kanne. Valle bleibt unten beim Kahn stehen und schaut ihr nach – lieber Gott, wie sein Blick auf ihrem zarten Nacken brennt!

»So, jetzt troll ich mich wieder«, sagt sie etwas scherzhaft und wehmütig zugleich, als sie mit der gefüllten Blechkanne zurückkommt. Sie macht einen Schritt auf den Kahn zu.

»Nein«, stöhnt Valle, »nein, bleib da!«

Plötzlich wirft sie die Kanne in die Steine hinein, daß das Wasser überschwappt, schlingt ihre Arme heftig um seinen Hals und gibt ihm einen schallenden Kuß. »Ich wußte es«, flüstert sie mit den Lippen an seinem Ohr. Und in der nächsten Sekunde ist sie verschwunden.

Ganz wirr im Kopf, bleibt Valle wie angewurzelt stehen. Jetzt weiß nicht nur sie, sondern auch er ... Oder was soll er glauben?

Sie hatte ihn geküßt, aber nicht auf den Mund, sondern auf die rote, etwas runzlige Narbe über seinem linken Auge, die er im Krieg davongetragen hat, als er ganz einfach auf dem Eis stolperte und auf das Schloß einer Kugelspritze fiel. Hält sie ihn vielleicht noch immer für eine Art Helden, trotz allem, was sie von seinem Frevel bei der »Morgengabe« weiß? Und nach allem, was nachher geschah, während sie zusammen in der Bake waren? Hatte ihr denn der Junker nicht erzählt, wer ihn bewußtlos aus der Schußlinie herausgeschleppt und sich dann sofort selbst hinter die Kugelspritze gelegt hatte? Das sähe ihm nicht gleich, dem Hund ... Oder ... war Tuva blind ... so wie man werden soll, wenn ...?

Aber wohin ist sie denn? Der Kahn liegt ja immer noch da?

Auf der Nordseite der kleinen Felseninsel findet er sie auf einem flachen Felsen dicht am Wasser.

»Wollen wir jetzt nicht Seehunde jagen?« fragt sie ganz unbefangen. »Ich sehe, du hast deine Flinte mit.« Und sie fängt auf eigene Faust ganz geschickt zu locken an. Er stimmt in ihren Ruf ein; aber hauptsächlich betrachtet er ihren kleinen Mund, der, sich lustig rundend, ruft: »Buuiioooo!«

Sonst sprechen sie kein Wort.

Nach einer Weile taucht plötzlich ein runder, dunkler Schädel auf, eine Schwarzrobbe. Die macht sich gar nichts aus ihren Künsten. Sie dreht und wendet sich, taucht da und dort unter, hält aber ihre Nüstern immer nur gerade über Wasser, kaum zwei Zoll hoch, also ein kleines Ziel. Aber mit seinem leicht beweglichen Gewehr kann Valle sie schließlich aufs Korn nehmen, und er erzielt auch einen Volltreffer. Tuvas Augen leuchten in heller Bewunderung. Sie fahren im Tveholmer Kahn hinaus und bergen die Robbe. Sie ist nicht gerade ein Prachtstück, aber sie hat ein schönes Fell.

»Diese Robbe gehört dir!« sagt Valle, als sie das Beutestück an Land bugsieren und zu den übrigen drei im Hafen legen.

»Danke«, antwortet Tuva und streicht mit ihrer sonnenheißen Hand leicht über seine. Aber dieses Wort ertönt so verspätet, als hätte sie unterdessen an andere Dinge gedacht. Denn sie sitzen aufs neue nebeneinander auf der Felsplatte, gleich still alle beide. Und so vergeht wohl eine Stunde.

Schließlich fragt Valle: »Hast du keine Angst vor deinem Vater? Wenn er dich hier findet? ... Allerdings hört man den Motor bei diesem Wetter schon fast vom Tveholm herüber. Aber du mußt doch auch ein gutes Stück zurückrudern.«

Fast empört sieht sie ihm gerade in die Augen. »Ich bleibe hier, bis er kommt. Meinst du, ich tu etwas hinter seinem Rücken? O nein, du kennst ihn nicht. Ich hab ihm gesagt, wie gut du gegen mich auf der ›Morgengabe‹ warst.« Sie senkt die Stimme: »Aber von dem andern, wo du auch häßlich gewesen bist, hab ich nichts gesagt.«

»Und hast du ihm gesagt, warum dein Boot gesunken ist?«

»Nein.«

»Deshalb ist alles auf einer Lüge aufgebaut, nur weil er nichts weiß.«

»Einerlei. Siehst du, diese Geschichte versteht außer dir und mir niemand. Deshalb ist es schon recht, wie er es sich denkt. Und dann will ich dir noch etwas sagen. Vater ist auf den Junker gar nicht mehr besonders gut zu sprechen; er merkt, daß er mich quält und alles verdreht mit seiner Eifersucht. Und das sag ich dir, die Medaille damals, die kam von Vaters eigener Brust.«

Valle denkt daran, wohin die Erinnerungsmedaille gekommen ist; aber Tuva fährt fort: »Wenn du dich also auf ein Jahr nach Australien anheuern läßt und nachher auf die Navigationsschule gehst und das Steuermannsexamen machst ... dann bist du in meines Vaters Augen genau soviel wie mein Vetter.«

»Nein, nein, du träumst, Tuva«, unterbricht Valle sie bitter. »Steuermann werden, das kostet Geld.«

Aber Tuva sieht keine Hindernisse. Mit hellem Blick schaut sie ihm in die Augen und legt wieder ihre sonnenheiße Hand auf die seine. »Valle, merkst du denn nicht, daß die alte Feindschaft vorbei ist? Haben wir denn nicht schon angefangen, einander zu helfen? Vater ist ja eben dabei, und du schießt Seehunde für uns! Nein, nein, jetzt wird alles gut.«

Er wendet den Kopf weg und denkt an die unbrauchbar gemachten Gewehre. Aber heute will er sie damit nicht quälen.

Lange sitzen sie mäuschenstill, und die Steinplatten unter ihnen werden von der Sonne immer heißer. Ab und zu schaut er sie verstohlen an. Die Wasserreflexe spielen auf ihrem heißen Gesicht und in dem braunen Haargekräusel, das unter dem buntseidenen Kopftuch hervorquillt. Das Sonnengeglitzer auf der Meeresfläche dringt durch die langen verschleiernden Wimpern in ihre Augen und schießt wieder in zwei funkelnden Strahlen daraus hervor, wer weiß, wohin.

»Wollen wir nicht wieder locken?« fragt sie.

Ach freilich, das hatte er ganz vergessen. Und sie stimmen an. Tuva hoch und mit spröder Vogelstimme, wie die jungen Robben tun, er gröber und sicherer wie ein alter Seehund.

Mit zwei schlanken Fingern faßt sie die Haut ihrer Kehle unter dem Kinn und schüttelt sie, um den Ton richtig schallend herauszubringen.

Doch plötzlich hört sie auf und lauscht. Valle hat den Ton geändert, was in aller Welt schickt er denn da ins Weite? Ja, hat sie es nicht gedacht ...?

»Tuva!« ruft er. »Tuuva!« Es klingt, als müsse er vor Durst vergehen. Und das Echo kehrt mit dem Wort zurück, einmal ums andere: »Tuva – Tuuva – Tuuuva! ...«

Lachend legt sie ihm ihre heiße Hand auf den Mund: »Du bist verrückt. Ich bin doch kein Seehund, den du erschießen willst.«

Sacht schiebt er ihre Hand weg. »Ja, ich bin verrückt«, gibt er betrübt zu und sieht starr nach dem Berg hinüber.

Da wird sie plötzlich ernst, und er fühlt, wie sich ihr einer Arm tröstend um seinen Hals schmiegt. »Valle«, sagt sie leise, »du brauchst mich nicht mehr zu locken, du brauchst nicht mehr in die leere Luft hinaus nach mir zu rufen. Denn ich bin ja ganz von selbst gekommen und bin hier neben dir, hier hast du mich.«

»Aber was wird dadurch besser?« fragt er verzweifelt. »Du bist von Ankarö, und ich bin nur vom Tveholm. Und ... ja, du bist ihm doch schon geschenkt, deinem Vetter ...«

Tuva drückt ihren Arm fest um seinen Hals.

»Nein«, erklärt sie, und ihr Stiefelabsatz klopft bekräftigend auf den Boden, »ich bin nicht verschenkt, weder dem Teufel, noch dem Vetter, noch irgendeinem andern. Das bestimm' ich selbst. Dir gehör' ich, sonst keinem!«

Er fährt zusammen und beugt sich wie im Taumel über sie.

Leicht wie ein jagender Wolkenschatten zieht ein Schein von Angst über ihr Gesicht, und das spielende Sonnenlicht erlischt in den weit offenen Augen. Aber er sieht, daß es nur sein eigener toller Kopf ist, der den Schatten wirft. Gleich darauf leuchtet wieder ein Strahl in ihren Augen auf; aber jetzt kommt er aus ihrem eigenen Innern, hell und hingebend ohne Grenzen.

Und auf dem roten Felsen, mitten im flammenden Meer, wird sie sein.


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