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Mitten in der dunkelsten Nacht klopft es leise an das Fenster neben Großmutters Bett. Die Alte setzt sich auf und horcht. Hat sie falsch gehört? Nein, jetzt klopft es wieder, etwas lauter und ungeduldiger. Was um alles in der Welt kann das bedeuten? Sie ist doch keine junge Dirne mehr, zu der man sich um diese Zeit schleicht, und außerdem gibt es gar keine solchen in Askvik. Also irgendein Lumpenkerl, der sich in dem Fenster geirrt hat ... wohl kaum.
Jetzt klopft es von neuem.
Sie wagt nicht, hinter dem kurzen Fenstervorhang Licht zu machen, sondern tappt zum Fenster hin und neigt vorsichtig den Kopf vor.
»Bist du's, Großmutter?« flüstert eine Stimme draußen. »Ich bin's nur: Valle.«
»Herrgott, bist du's, Jung? Bist du zurück? Und kommst wie ein Dieb mitten in der Nacht daher?« Rasch wirft sich die Alte ein Tuch über und öffnet. Aber irgend etwas warnt sie davor, Licht anzuzünden, denn das könnte in der Nachbarschaft gesehen werden.
Auf sie zu tritt in der Dunkelheit eine große regendurchnäßte Gestalt, die sie um die gichtbrüchigen Schultern faßt und sie mit zwei harten Pratzen so heftig an sich drückt, daß sie vor Schmerzen laut stöhnt. Dann setzt sich Valle irgendwo in der Stube nieder, sie weiß nicht recht wo.
»Mach kein Licht, Großmutter«, sagt er.
»Willkommen daheim, liebes Kind!« Großmutter zieht sich an ihr Bett zurück und kriecht vor Kälte zitternd hinein. Was um Himmels willen soll sie sagen? Weiß der Junge schon etwas? Oder warum ist er auf diese Art heimgekommen?
Lange herrscht tiefe Stille zwischen den beiden, nur ihre Atemzüge kreuzen sich in der Dunkelheit, ihre vom Fettansatz des Alters pfeifenden, seine von Jugend und Verzweiflung leidenschaftlichen. Dann sagt sie ablenkend: »Aber, Junge, du bist gewiß hungrig. Ich will dir was zu essen holen.«
»Ist nicht nötig, liebe Großmutter.«
»Aber lieber Gott, wie kommst du so mitten in der Nacht heim?«
»Ich bin bei Nacht gewandert und hab mich bei Tag im Walde versteckt. Niemand hat mich gesehen.«
»Soso, soso? Und deine Seekiste?«
»Die hab ich an Bord gelassen.«
Die Stimme der Großmutter klingt unsicher, doch macht sie einen Versuch: »Aber, du Barmherziger, warum tust du das alles?«
Wieder herrscht eine Weile Schweigen; doch jetzt haben Valles Atemzüge die Übermacht bekommen, und er bricht los; aus dem Dunkel heraus ertönt es: »Gib dir keine Mühe, zu lügen, Großmutter! Ich weiß schon das meiste ...«
»Oho, was weißt du denn?«
Sie hört die Schritte des Enkels, der ganz nah zu ihr herankommt und beinah schreit: »Ich weiß, daß ich mit Tuva ein Kind hab! Und jetzt ist sie mit ihrem Vetter verlobt, und er gilt für den Vater, und alles ist verloren ...«
»Sachte, sachte, Valle! Willst du die volle Wahrheit hören? Das Mädchen ist lange vorher aufs Festland geschickt worden, ihr Vater hat das angeordnet und hat auch den Junker für ihren Verlobten und den am Unglück Schuldigen ausgegeben; aber eigentlich glaubt niemand an diese Geschichte. Jedenfalls wissen ich und der Pfarrer es besser. Dort in Åbo hat sie einen Jungen gekriegt, aber einen Monat zu früh, und er hat auch nur ein paar Tage gelebt. Begraben ist der Kleine hier auf dem Kirchhof, und ein richtiges Kreuz hat er. Gegen den Willen ihres Vaters hat Tuva die Leiche hergebracht. Sie hat mich mehrmals besucht und über alles mit mir geredet. Glaub mir, sie hat nur dich lieb und keinen andern!«
Die Alte schweigt. Neben ihr auf dem Bett liegt Valle und weint zum Herzbrechen. Mit ihren gichtgeschwollenen Händen tastet sie über sein Gesicht hin, und ihre Finger werden triefend naß von seinen Tränen, dann streicht sie weiter über seine Stirn und sein dichtes Haar. »Soso, mein Jung, soso ...«
Vor Kälte schlotternd sitzt sie im bloßen Hemde da, eine Stunde, zwei vielleicht. Das Tuch ist ihr von den Schultern geglitten; sie streichelt und liebkost die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn und die weiche Haarfülle; aber das angstvolle Weinen will nicht nachlassen. Sein Körper zuckt und bebt, als hätte er Schüttelfrost, die breiten Schulterblätter bewegen sich hilflos gleich zwei gestutzten Vogelflügeln. Sonderbar, wie heftig die Jugend jetzt alles nimmt ... Oder hatte sie es vielleicht auch einmal so gemacht und es nur mit den Jahren vergessen? Schließlich meint sie aber doch, jetzt sei es genug; sie drückt ein Gähnen heraus und sagt durch die Dunkelheit: »Sei nun ruhig, Jung! Ich werd's einrichten, daß ihr euch trefft und die Sache in Ordnung bringt.«
»Wo ist sie?« fragt Valle fast irrsinnig und setzt sich auf.
»Auf Ankarö natürlich.«
»Aber wann? Wann kann ich sie treffen?«
Jetzt lächelt die Großmutter beschützend und überlegen; aber das ist bei der Dunkelheit nicht zu sehen. »Jawohl, sie ist, wie gesagt, hundertmal hier bei mir gewesen. Es ist merkwürdig, wie oft sie in der letzten Zeit ihre Tante besucht hat. Unter diesem Vorwand ist's gegangen, ja. Und übermorgen, Freitag, kommt sie wieder, so ist's ausgemacht. Da werden wir es so einrichten, daß ... Hier bei mir könnt ihr euch aber nicht treffen, es sind Augen rundum. Aber auf Hasselöra gibt's ja andere Orte, ich werde das Mädel hinschicken.«
»Wenn sie nur auf Ankarö nicht wissen, daß die Penelope eingelaufen ist!«
»Kaum ... Es ist weit bis in die Stadt, und mit dem Telephonieren ist's nichts. Sei nur ruhig, Jung! Du kannst dich nicht zeigen und auch nicht mit dem Fernrohr vor deinem Auge warten, bis ihr Boot unterwegs ist; laß du nur mich machen! Von meinem nördlichen Fenster aus seh ich die Zauntür der Tante, und ich versichere dir hoch und heilig, ihr werdet euch treffen. Wie es weiter geht – dafür müßt ihr selber sorgen. Ich sage nur eins: zart mußt du mit dem Mädel umgehen, denn gut ist's ihr nicht gerade gegangen.«
Die Großmutter mußte den Jungen aufs neue trösten, denn er weinte zum Erbarmen.
In der nächsten Nacht rudert Valle ungesehen nach dem Tveholm, im Kahn hat er ein Bündel Eßwaren, auch allerlei Gerät für die See, das er im vorigen Jahr bei der Großmutter zurückgelassen hatte. Er hat das Gefühl, daß diese Vorbereitungen vielleicht von Nutzen sein könnten.
Beim Schein einer Sturmlaterne, die durch die rußigen, staubigen Gläser nur trübes Licht wirft, schiebt er das im Schuppen an seinen Taljen hängende Großboot ins Wasser. Es ist während seiner Abwesenheit ordentlich leck geworden. Aber er dichtet die Ritzen zwischen den Brettern mit einer dicken Schmiere aus Teer und Mennige; dann ist das Boot in ein paar Tagen wieder brauchbar. Er ahnt, daß er wohl bald gezwungen sein wird, die Segel zu setzen.
Droben im Haupthaus ist alles unberührt. Es ist kalt, leer und öde, so wie es nur an einem Ort sein kann, von dem das Unglück alle Menschen verjagt hat. Einen Augenblick zögert er auf der Schwelle seiner eigenen Kate am Nordstrand. Aber er hat nicht den Mut, aufzuschließen und hineinzugehen. Und was soll er eigentlich da? Fast alles ist fortgeschafft, die Gewehre und das Fernrohr liegen bei der Großmutter. Nur eine Spieldose steht drinnen mitten auf dem Tisch, rostig und fast tonlos, aber, aber ... Er dreht sich jäh auf dem Absatz um und läuft mit der Sturmlaterne in der Hand schaudernd davon.
Vor Tagesanbruch ist er wieder in Askvik, schlüpft bei der Großmutter in die Kammer, wirft sein einläufiges Schrotgewehr über die Schulter und steckt etwas Mundvorrat in die Taschen. Den Kahn hat er in einem Wasserlauf in der Nähe des Fischerdörfchens versteckt. Er liegt an den Strand gezogen ganz unsichtbar in einem stachligen Sanddorngestrüpp, das jetzt im Herbst mit gelbroten Beeren wie übersät ist.
Es ist Freitag. Vorgebeugt legt er sich in ein dichtes Haselwäldchen neben dem alten Fahrweg von Askvik und wartet. So hat er es mit der Großmutter ausgemacht. Aber würde Tuva ihr gehorchen, wollte sie überhaupt mit ihm zusammenkommen? Wagte sie das? Das Herz hämmert ihm in der Brust, beruhigt sich dazwischen und beginnt dann wieder zu hämmern. Stunde um Stunde schleicht langsam dahin. Jetzt ist es bald Mittag. Einige Leute sind schon vorübergegangen, nur sie nicht. Der Schweiß tropft ihm von der Stirn.
Aber dann plötzlich ist sie da; in einer grauen Bluse und einem braunen Rock, fast wie in Sack und Asche gekleidet, kein buntseidenes Tuch mehr um Kopf und Schulter. Und abgemagert ist sie, daß es einem fast ins Herz schneidet. Aber sie ist es doch, es ist ihr leichter Gang und ihre verflixte kleine Nasenspitze, die auf und ab wippt, wenn sie spricht oder auch nur den Mund bewegt. Sie lugt ängstlich umher, trotz der Sommerbräune blaß im Gesicht.
Er taucht aus seinem Versteck auf und vertritt ihr den Weg. Sie bleibt wie angewurzelt stumm stehen, fährt nicht erschrocken zurück, hält aber den unbedeckten zerzausten Kopf gesenkt. So stehen sie eine Sekunde einander gegenüber, dann umklammert er drei Finger ihrer rechten Hand und zerdrückt sie fast. Sie begreift nicht, was das bedeutet, aber er weiß es desto bester.
Ohne ein Wort läßt sie sich wie eine Gefangene durch die Waldwiesen nach ihrer alten Scheune am Infjord führen. Er dreht den Haken um und macht die Tür auf; aber in diesem Jahr ist kein Heu drin, der nackte Boden aus ungehobelten Balken gähnt ihnen ungastlich entgegen. Und nun endlich sagt Tuva leise und ergeben: »Hier können wir nicht bleiben. Mein Vater und der andere kennen den Ort.«
Es sieht aus, als habe sie sich ihm ausgeliefert, habe sich blindlings von Ankarö und der Tante in Askvik losgelöst, wenigstens für diesen Tag. Seine Leidenschaft, sein unvernünftiges Begehren nach Rechtfertigung und alle die unbeantworteten Fragen – alles drängt sich heftig in ihm zusammen. Und er sagt kurz: »Dann weiß ich einen anderen Ort.«
Es ist nicht weit bis zu dem verfallenen Sommerhäuschen des Pfarrers, dem Eulennest, an dem niemand ohne eine gewisse Ehrfurcht vorübergeht. Valle bricht die Tür der Bude auf und schiebt Tuva mit hartem Griff hinein. Um die rußige und seit vielen Jahren kalte Feuerstelle zieht sich eine Bank. Tuva taumelt beinah darauf zu. Er setzt sich neben sie, drohend geduckt wie ein Tiger. Und wieder ergreift er die drei Finger ihrer rechten Hand, hebt sie auf und klagt schweigend an.
Jetzt versteht sie, schüttelt aber verneinend den Kopf. »Nein, Valle«, flüstert sie kaum vernehmlich und doch ruhig. »Ich hab den Eid nicht gebrochen. Glaub mir, wenn du willst, oder glaub mir nicht, aber jetzt schwör ich dir bei unserem toten Kind, daß kein anderer als dessen Vater mir je nahegekommen ist. Kein anderer als du. Glaubst du es?«
Sie sieht ihm gerade in die Augen; aber sein Blick weicht ihr aus. »Schön gepredigt, Tuva, aber das mit dem Junker ... Du hast ja selbst geschrieben, daß ...«
»Mein Vater hatte ihn zu meinem Beschützer gemacht. Und in der schweren Zeit war er sehr gut gegen mich, grenzenlos gut, obgleich er alles wußte.«
»Ja, so gut, daß er jetzt allgemein für deinen Verlobten und als Vater unseres Kindes gilt. Dieser Wurm, der sich zum Herrn des Leuchtturms von Ankarö aufschwingen möchte, der Hund, der sich heranmacht und einer Frau die Füße leckt, die einem andern gehört! Begreifst du denn nicht, daß es sich verlohnt, gut zu sein, wenn man so viel davon hat?« Valle ist am Ersticken vor lauter Empörung. Er keucht eine Weile schwer, dann fährt er dumpf fort: »Und das bist doch du gewesen, Tuva! Weißt du, was ich gestern nacht hab tun wollen? Ich wollte ans Grab unseres Kindes gehen und die Schrift auf dem Kreuz ändern. So sollte darauf stehen: ›Ich starb, weil meine Mutter treulos war und ihren Eid gebrochen hat. Mein Fluch folgt ihr in die Ewigkeit.‹ Ja, das hätte ich tun sollen.«
Er erwartet wohl, daß sie aufschreiend zusammensinken und ihrem ganzen Elend in Tränen Luft machen werde. Aber statt dessen ist es, als bekomme sie plötzlich neue Kraft. Sie richtet sich auf und schaut ihm freimütig in die Augen. »Armer Valle!« sagt sie, »für dich ist es noch schlimmer als für mich, denn du hast so schwarze Gedanken. Glaub, was du willst! Ich werde dich so weit bringen, daß du die Wahrheit einsiehst. Du mußt wissen, daß ich jetzt von Ankarö durchgegangen bin, und ich habe nicht im Sinn, mich dahin zurückbringen zu lassen. Sie wissen dort, wann die Penelope eingelaufen ist, und verstehen also, zu wem ich geflohen bin. Wohin wir uns wenden – ja, das weiß ich nicht. Aber ich geh mit dir.«
Da wirft er sich vor ihr nieder und preßt sein von Angst und Freudentränen nasses Gesicht an ihre Wange.