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Er steht neben ihr und sieht sie an, die ausgestreckt auf dem Bretterboden ganz nahe bei dem Ziegelherd mit dem lodernden Feuer liegt. In ihrer Ermattung schläft sie so ruhig, als hätte er sie auf Eiderdaunen gebettet. Kein Schimmer von Unruhe zeigt sich in den kindlichen Zügen, die umgeben sind von einem Wirrwarr gekräuselter nasser Haare. Das weckt seltsame Erinnerungen, die er längst begraben gewähnt hat! Ihre durchnäßten Kleider dampfen in der Hitze. Und sofort erscheint vor ihm wie in einer leichten Glorie ein halberwachsenes Mädchen, von jenem Dunst umgeben, der im Netzboot an dem Morgen um sie stand, wo er sie am Handspill gepeinigt hatte. Und wenn er in die Glut starrt, die in der fensterlosen, dämmerigen Bake ihren flackernden Schein auf Tuvas Gesicht wirft – sofort erinnert er sich an den Tanz um das Johannisfeuer auf dem Hof von Storgrinda in jener Nacht, wo alles für ihn zerbrochen war und er gemeint hatte, sie würden in diesem Leben niemals mehr etwas gemeinsam haben. Und nun liegt sie hier, und ich stehe neben ihr, und um uns her ist nichts als ein brüllendes Meer! Und das ereignet sich gerade auf der »Morgengabe«! Herrgott im Himmel, wie sonderbar ist das Leben! ...
Aber wie anders ist jetzt alles als damals! Zuerst hätte er sie aus Irrtum beinah ertränkt. Warum? Dann hatte er sie gerettet. Warum? Er weiß es selbst nicht, alle seine Gefühle und Gedanken sind wie von einer Axt in zwei Hälften gespalten. Er begreift nur, daß es dieselbe Macht ist, die den Stiel der Axt beim Zuschlagen festgehalten hat, obgleich die eine Hälfte sehr rachgierig war, die andere etwas weich und ... ja, Gott weiß, was.
Könnte es vielleicht sein, daß ...? Er merkt, daß seine Blicke unablässig von einer an ihrer linken Seite offenstehenden Stelle ihres Kleides angezogen werden. Da sind Bluse und Hemd zerrissen, und aus dem Riß quillt ihr eine Brust hervor. Langsam hebt und senkt sie sich, zart und feingeädert wie die schönen Quallen, die er in irgendeiner kleinen Bucht, den Kopf dicht über dem Wasserspiegel, so oft betrachtet hat; geradeso pflegt die blumenähnliche Qualle zu atmen und sich in dem sanften Wellengang zu bewegen, schillernd wie hellrote Seide gegen das grüne Meergras darunter. Tuva hatte eine grüne Bluse an ... Und ein kleiner blasser Riß zog sich über die feine Haut hin; ein einziger Blutstropfen war herausgesickert und heruntergerollt, rot wie eine Vogelbeere im Schnee. Sicherlich hatte sie sich an einem spitzen Stein geritzt.
Unaufhörlich fühlt er seine Blicke zu diesem Punkt hingezogen, so sehr er sich auch müht, wegzusehen. Könnte es sein, daß ...? Aber nein, hier ist von so etwas gar keine Rede!
Etwas hastig kniet er neben ihr nieder und deckt die verführerische Stelle mit einem Zipfel ihrer Jacke zu. Von der Berührung wacht sie auf. Zuerst irren ihre Blicke verständnislos in dem verräucherten Schlund des Turmes umher, der sich ächzend und die brummenden Stahlstage draußen anspannend in den Windstößen biegt. Dann kommt etwas wie Erinnerung in ihren Blick, und ohne den Kopf zu drehen, kehrt sie ihm die Augen zu und lächelt.
»Sag, Tuva, sag ... wie um Himmels willen bist du hierhergekommen?«
»Das weißt du wohl, du hast mich doch gerettet.«
»Aber hierher? Allein im Boot?«
»Ich wollte Pfingsten ein wenig allein feiern. Es war nicht zum erstenmal.«
»Ach so ...«
Sie erhebt ihre Stimme, um in all dem Lärm vom Strand und von der stöhnenden Bake her verstanden zu werden. »Beim schönsten Wetter hab' ich hier draußen vor der ›Morgengabe‹ im Boot unter dem Zelt geschlafen. Dann hat es angefangen zu wehen, aber ich schlief zu fest. Erst lange nach Tagesanbruch wache ich davon auf, daß ich in der Nässe liege, das Boot ist leck und beinahe ganz voll Wasser. Kannst du begreifen, wie das zugegangen ist?«
»Nein«, antwortet Valle und sieht zur Seite.
»Und es war ein Hundewetter. Ich kappe die Ankerleine und fasse die Riemen; aber es war, als ginge es einen Berg hinauf, ich kam nicht vom Fleck. Die Strömung trieb mich auf den Kalven zu, da ließ ich das Boot stranden und kletterte zu den Felsblöcken hinauf. Du hast ja gesehen, wie es mir dort ging.«
»Gewiß, Tuva.«
»Aber wie konntest du wissen, daß du kommen mußtest? Mein Vater und mein Vetter wußten ja, wo ich war. Aber du? Wie konntest du mich vom Tveholm aus sehen?«
»Ich weiß nicht recht. Es war wohl ... ich glaube, da war jemand, der ... Wir haben ein gutes Fernglas.«
»Ach so! Sonderbar war es aber doch.«
»Ja, sonderbar war es ...«
Einige Augenblicke herrscht unheimliche Stille. Valle meint, selbst der Sturm draußen halte den Atem an. Ahnt Tuva etwas? Er starrt hartnäckig auf seine zerfetzten Strümpfe hinunter und merkt, daß er in einer ganzen Wasserpfütze herumtritt, die aus seinen Kleidern getropft ist. Etwas Blut ist auch darin von irgendeiner Wunde an seinen Füßen. Dann sagt er: »Du hast wohl gesehen, daß dein Bräutigam auch ins Wasser springen wollte?«
»Meinst du den Junker? Der ist nicht mein Bräutigam und wird es nie werden.«
»Ach so. Ich glaubte ...«
»Das glauben viele, aber es ist nicht wahr.«
»Aber du hättest ebensogut von ihm gerettet werden können.«
»Das ist durchaus nicht sicher, Valle.«
Nein, er kann es nicht mehr aushalten, hierzubleiben und immer verwirrter zu werden von all dem, was er zu hören bekommt. Und etwas Vernünftiges mußte er doch tun. Tuva ist ebenso triefend naß wie er selbst und sicherlich noch viel hungriger.
»Kannst du dich aufsetzen, Tuva?«
Ja, das kann sie, und sie kann sogar noch mehr. Sie stellt sich auf die Beine, wohl etwas schwankend, aber ohne daß er nötig hätte, sie zu stützen.
»Dann ziehst du jetzt deine nassen Kleider aus, wringst sie tüchtig und trocknest sie dicht beim Feuer. Hier ist eine Stange, an der du sie aufhängen kannst. Aber wärm dich selbst auch gehörig. Ich geh so lange hinaus auf Eiersuche. In der Kiste ist nur Salz und schimmliges Brot. Mach die Tür von innen fest. Du brauchst keine Angst zu haben, ich komme nicht eher, als bis du aufmachst.«
»Und du guckst auch nicht durch eine Ritze?« scherzt Tuva und streckt eine kleine Zungenspitze heraus. Plötzlich fühlt sie sich von dem Abenteuer und der komischen Lage ganz aufgemuntert.
»Du kannst ganz ruhig sein«, antwortet er beinah unwirsch.
»Aber du bist ja fast ebenso naß.«
»Ach was!« bricht er ab und macht die Tür mit beiden Händen auf, damit kein Windstoß sie ihm aus der Hand und aus den Angeln reißen kann.
In Lee der Bake entkleidet er sich schlotternd, ringt die sehr mitgenommenen Kleidungsstücke, Wams, Flanellhemd und Hosen, kräftig aus, versucht, sich die Haut mit einer Handvoll Sand warm zu reiben, und zieht die Lumpen wieder an.
Wie sonderbar! ... Wollte allein ein wenig Pfingsten feiern ... Nicht mein Bräutigam und wird es auch nie werden ...
In dem starken Wind, der Heidekraut und Wacholderbüsche zu einem gefrierenden, dicht anliegenden Fell über dem Boden zusammenfegt, kann man kaum aufrecht gehen. Dort unten am Vogelsumpf stehen die Erlen wie gespannte Bogen; sooft der Sturm für eine Sekunde nachläßt, richten sie sich mit einem Ruck auf – piuuu –, als schössen sie unsichtbare Pfeile auf ihren Bedrücker ab. Alles umher liegt unter einem ebenso wechselnden Licht wie die Bilder im Buch der Offenbarung; es flammt hier auf und wird dort finster, Himmel und Hölle durcheinander. An der Sonne, die bald zu einem rußigen Teller geschwärzt erscheint, bald strahlend wieder durchbricht, kann man sehen, daß es jetzt ungefähr Mittag ist.
Zuerst plündert er das Eiderentennest, an das er sich von seinem nächtlichen Kriechen her erinnert. Die Ente fliegt heute nicht auf; erst als er ihr beinah über den Rücken streicht, wackelt sie im Zickzack in die Büsche hinein, vergißt aber nicht, vorher ihre Eier mit ihrem stinkenden Firnis zu überschütten. Er nimmt sie alle, hier gelten die gewöhnlichen Gesetze nicht mehr. Am Vogelsumpf plündert er einige Nester der Braunente und der Reiherente, und droben auf den Felsenspitzen, wo er vor der Gewalt des Sturmes beinahe kriechen muß, macht er, einen schreienden und verzweifelt flatternden Schwarm von Flügeln über sich, einen guten Fang von Möweneiern. Unter einer Felskuppe niederhockend, prüft er die Eßbarkeit seiner Beute in einem mit Wasser gefüllten Loch. Mehr als die Hälfte der Eier sinken unter – frisch also. Die schon länger gelegten läßt er schwimmen, wo sie sind; ja, er kann sogar die verschmähen, die sich dazwischen halten, mit der Spitze gerade an der Oberfläche. Jetzt will er noch zu den Alken, deren Eier die besten Leckerbissen sind. Er weiß, daß sie sich drüben auf der Nordseite in der tiefen und langen Felsspalte aufhalten. Dort hinunter reicht man nicht mit den Armen, aber das gewöhnliche Werkzeug, das andere Eiersucher liegengelassen haben, wird vorhanden sein, nämlich eine lange Stange mit zwei rechtwinklig eingeschlagenen Nägeln an dem einen Ende. Seine ganze übrige Beute muß er aus dem Hemd abladen, ehe er sich auf den Bauch legt und anfängt, den dunklen Spalt zu untersuchen, der, wie mit einem Riesenmesser eingeschnitten, quer über die Felswand läuft. Tief unten auf dem Grunde laufen vier Alkhühner ängstlich hin und her; jetzt entdeckt er – sie gleichen kleinen hellen Rollsteinen – die getüpfelten Eier, zwei auf jedem kleinen Absatz, und fischt sie mit der Stange zu sich herauf.
Um die Mitte rund wie eine Tonne, setzt er sich vor der Tür nieder und wartet; aber er schlottert so, daß das ganze Mittagmahl in Gefahr ist, zu zerbrechen. Was tut Tuva jetzt? Sicherlich sitzt sie nackt am Feuer, und ihr zarter Körper ist heiß und duftet nach Rauch.
Aber in diesem Augenblick macht sie die Tür halb auf und läßt ihn ein. Sie ist vollständig angezogen und hat auch die schlimmsten Risse in ihren Kleidern auf irgendeine schlaue Weise ausgebessert, vielleicht mit einem Stückchen Draht als Nadel und einem Endchen Bindfaden, das sie gefunden hat. Als sie den Wulst an ihm bemerkt, bricht sie in ein helles Gelächter aus, und er denkt, das hätte sie sich für einen weniger ernsten Tag aufsparen können.
»Du siehst ja aus wie eine Leghenne! Und ich hab' auf dich gewartet und gewartet, denn ich wußte nicht, daß du draußen warst. Du hättest klopfen sollen. Aber nun ist die Reihe an dir. Ich geh' hinaus, bis du trocken bist.«
»Unnötig! Hier ist es ja so warm, daß die Kleider dampfen. Jetzt essen wir Mittag.«
Er lädt die Eier in einem Haufen auf dem Fußboden ab. Nach wenigen Minuten kochen sie in einem rostigen eisernen Topf, den er in einer Ecke der Bake gefunden und mit Wasser gefüllt hat.
Tuva lehnt an der Leiter, die zur Dachluke hinaufführt, und schaut ins Feuer. Ihre Augen glänzen immer heller.
»Erinnerst du dich noch«, beginnt sie zögernd, »erinnerst du dich noch an den Tag ums Johannisfeuer, wo ich meine Kleider naßgemacht hatte, damit sie nicht versengt wurden? Jetzt sind wir beide gleichnaß und ...« Sie streckt ihm plötzlich die Hände entgegen: »Komm, wir tanzen ums Feuer!«
Ist das Mädchen nicht bei Trost? Tanzen! ... Erinnert sie sich denn gar nicht mehr daran, was einst hier in dieser Bake geschehen ist? Oder hat ihr das noch kein Mensch erzählt?
»Nein«, erwidert er schroff. »Ich hab' Schmerzen im Fuß. Und wir wollen jetzt essen.«
Enttäuscht beugt sich Tuva über die blechbeschlagene Kiste und sucht Salz daraus hervor, während er das siedende Wasser abgießt. Sie setzen sich jedes auf eine Seite des Kochtopfes und des Salzfasses und essen die kräftigen Seevogeleier. Ihre Zähne kauen hungrig das bläuliche, etwas gummizähe Weiß und das rötliche Gelb, und vor ihnen sammelt sich ein Haufe von ungleich gefärbten Schalen an. Die Alkeneier verschlingen sie mit besonderer Begier und hören nicht auf zu essen, bis der Topf leer ist.
»Auf Eieressen verstehst du dich nicht schlecht, Tuva!« nickt Valle und gähnt übersatt. »Na ja, meinetwegen darf es jetzt noch einen ganzen Tag stürmen.«
Valfrid nickt in der Wärme einmal ein, und die Lider werden ihm schwer wie Kupfermünzen. Wann hat er denn zuletzt geschlafen? Ja, und seitdem hat sich allerlei ereignet.
Aber ist dies nicht ein fremder Laut, der jetzt aus dem Sturmgeheul herausgurgelt? Motorgeknatter!
Hastig eilt er hinaus.
An der Luvseite erblickt er den Lotsenkutter mit Tuvas Vater, dem Junker und einem dritten Mann an Bord, wohl einem der Angestellten des Leuchtturms. Die See geht noch höher als heute morgen; kein Gedanke daran, zu landen. Er macht ihnen einmal ums andere Zeichen, daß alles wohlstehe, und deutet zur Bake hinauf, wo sich Tuva unter der Tür zeigt und heftig tausend Grüße winkt. Können sie etwas unterscheiden, während sie da in dem spritzenden Schaum tanzen? Kecke Burschen jedenfalls, heut schon zum zweitenmal draußen. Aber es gilt auch nicht dem nächsten besten. Und jetzt erkennt er, worum es sich handelt. Aus dem Boot wird ein großer wasserdichter Öltuchsack mit Korkschwimmern ringsherum gehoben, sicherlich sind Filzdecken und derartiges darin. Aber er wird zurückgesaugt, tanzt noch in der Brandung und reitet dann rund um die Schäre herum. Jetzt wird noch ein glänzendes Ding herausgeschoben, und damit geht es besser. Eine Sturzsee schleudert es auf den Strand. Valfrid ist schon da und schnappt es weg, bevor die nächste schäumende Woge bei der Hand ist. Es ist eine Blechdose mit verlötetem Verschluß, ein Riesending von der Art, wie sie mit Zuckerwaren gefüllt in den Läden auf den Borten stehen.
Noch ehe er die Verlötung mit seinem Messer aufgebrochen hat, ist der Lotsenkutter wieder heimwärts verschwunden. Die Blechdose ist so vollgepfropft mit Eßwaren, wie überhaupt angeht, damit noch Luft drin bleibt und sie schwimmen kann. Zuoberst liegt ein Papierzettel, und die linke Hand schützend darum haltend, liest er im Sturmwind:
»Geliebte Tuva, nimm dich vor dem Werwolf in acht! Ich verlasse mich auf dich. Heiße Küsse!«
Die Handschrift kennt er nicht, aber es ist ja klar, daß es die des Junkers, des Bräutigams, ist. Heiße Küsse ... Wer sonst dürfte so schreiben?
Valles Stimmung schlägt plötzlich wieder auf dieselbe Seite um wie gestern, als er seine Freveltat ausführte. Der Plan war ja nicht genau so ausgefallen, wie er von ihm erdacht war; aber dann hatte er sich nachher doch viel zu große Gewissensbisse gemacht. Der Henker kann sich gar zu leicht in den Beschützer verwandeln. Unnötig, unnötig ... Alle Weibsleute lügen, lügen schamlos und verschlagen, das weiß er jetzt. Die Mutter lügt, Tuva lügt, sie lügen alle, alle! Wie Hündinnen müßten sie behandelt werden, mehr sind sie nicht wert. Heiße Küsse ...
Droben in der Bake reicht er ihr die Dose mit den Worten: »Bitte, da hast du dein gewohntes Nachtessen!«
Sie nimmt den Deckel ab, ergreift den Zettel und liest ihn, über das Feuer gebeugt. Eine Blutwelle steigt ihr bis in die Ohren und die Nasenspitze, während sie den Zettel zusammenballt und in den Flammen verschwinden läßt. Sie sieht sehr unangenehm berührt aus, das zu bemerken kann er nicht umhin, und er wird wieder ein wenig weicher. Aber zu einem Gespräch kommt es heute nicht mehr, es fallen nur noch einzelne Worte.
Dann wird es Abend. Valle hat noch mehr Treibholz hereingetragen und neben der Feuerstelle ein Lager aus Heidekraut, Rauschbeerreisern und vorjährigem Riedheu bereitet. Zweige des neuausgeschlagenen Erlengebüsches wagt er nicht zu verwenden, darin könnten schon Zecken sitzen.
»Jetzt gehst du in die Koje!« befiehlt er und häuft dicke Klötze aufs Feuer.
Sie bohren sich eine gute Armlänge voneinander entfernt in das stechende Reisig hinein und decken sich mit Büscheln von Riedheu zu. Aber in den dünnen und noch feuchten Kleidern ist das keine beneidenswerte Schlummerstätte; zu der lockeren Reisigunterlage bläst es aus den Spalten im Fußboden und durch die nächste Wand kalt herein, nur die dem Feuer zugewendete Seite ist übermäßig heiß.
»Gut Nacht, Valle!«
»Aber vergiß nicht, dir was zu wünschen!« fügt er scherzend hinzu. »Heut ist ja Pfingstnacht, und da soll man Glück haben.«
Er sieht im Feuerschein, daß ihre Augenspiegel feucht und dunkel werden; aber sie blinzelt nicht, und ihr Gesicht bleibt ruhig, es ist nur, wie wenn zwei dunkle Waldquellen leicht überlaufen. Und sie antwortet tonlos:
»Ich hab' nichts zu wünschen. Du denkst wohl, ich bekomme alles, was ich haben will. Aber was ich am allermeisten haben möchte, darauf muß ich verzichten.«
»Ach, das ist ja traurig. Na, gut Nacht!« Er will nicht unnötigerweise weiche Gefühle über sich Herr werden lassen. Aber es hilft nichts, seine Neugier ist geweckt, und nach einer Weile fragt er wieder: »Du willst doch nicht behaupten, daß du mit deinem Spitzkopf von Junker unzufrieden bist?«
»Er hat mir niemals etwas zuleid getan. Der Fehler ist nur der, daß ich ihn nicht mag.«
»Ha, sein Brief lautet ein wenig anders. Heiße Küsse ... Und was er über mich schrieb, war ja fein – ›Werwolf‹!«
»Was ihm an mich zu schreiben einfällt, dafür kann ich nichts. Und warum hast du es gelesen?«
»Beim Satan, konnte ich denn wissen, daß der Papierfetzen ein Liebesbrief war! Na, was hast du dann gegen ihn?«
»Er ist schuld, daß ich es daheim nicht mehr aushalten kann. Immer bewacht er mich wie ein Hofhund.«
»Und dein Vater hilft noch zu diesem Liebeshandel, und er zwingt dich wohl?«
»Oh, da kennst du meinen Vater schlecht! Er zwingt mich nie zu etwas, sondern will nur mein Bestes. Aber, siehst du ... Manchmal überkommt mich eine unwiderstehliche Lust, auf und davon zu gehen und ein wenig allein zu sein. Das hab' ich nun gestern getan, und dann ist es so gegangen.«
Natürlich lügt Tuva, wenigstens zum Teil. Oh, sie soll sich nur nicht einbilden, ihm was vormachen zu können! Er weiß, was er weiß. Die Weiber haben glatte Zungen, sind aber falsch wie die Katzen; eben noch miauten und jammerten sie, dann wollen sie plötzlich tanzen, und mitten im Tanz fahren sie einem mit den Krallen ins Gesicht und laufen zu einem andern.
Er liegt auf dem Rücken und starrt zu den Rauchwolken hinauf, die sich über seinem Kopf im Turmhals umherwälzen. Der Sturm heult ärger als je in dem Holzwerk und spannt, bald zischend, bald brummend, die draußen in den Felsen verankerten Stahlstage. Das Feuer auf dem Backsteinherd flackert in der Zugluft wild hin und her. Wahrhaftig, das ist ein ganz gottloses Pfingstwetter geworden! Oder vielleicht johlt der Südwind jetzt eben in seinem letzten, wütendsten Anlauf, und wir haben dann morgen nur noch leichten Seegang. Dann gilt es, rasch einen Besuch auf Ankarö zu machen und sich als großartigen Retter aufzuspielen ... Seine boshafte Phantasie freut sich schon im voraus auf die Rolle; sie ist gewagt, aber großartig. Wie wird der Junker aussehen, der Judas, wenn er seine Braut als Geschenk aus der Hand eines andern Mannes zurückbekommt? Hier hast du dein Zuckerpüppchen, he! Ich hab' mich tüchtig um das Mädchen bemüht, aber ihr Boot hab' ich nicht retten können ...
Über ihm kreist die Rauchwolke, scharf und brenzlig riechend wie angebrannte Säcke. Seine entzündeten Augen sehen in all diesem wogenden Grau Gesichte. Die ganze alte Schuld zieht vorbei, Bild um Bild, alle gleich anklagend und düster ... Jener Tag auf seines Vaters Grab, als er durch einen Zufall die Wahrheit erfuhr und auf einmal anders wurde als alle andern Kinder ... Der Tanz ums Johannisfeuer auf dem Hofe von Storgrinda, der widerwärtige Auftritt hernach mit allem, was er an geflüstertem Klatsch und Verleumdung im Gefolge hatte ... Tuva, wie sie Arm in Arm mit dem Junker heimwanderte, die blühende Fliederdolde, mit der sie ihn streichelte, nur um zu zeigen, wen sie gewählt hatte ... Die Konfirmation mit ihrer neuen Qual ... die folgende Nacht, als er das Erbe seines Vaters übernahm und alle die unheimlichen Einzelheiten darüber zu wissen bekam, wer die Schuld trug ... Die ewig verweinten Augen der Mutter und die vergrämte Schweigsamkeit des Stiefvaters, außer wenn er sich mit dem Bussar betrunken hatte ... Ja, das waren also die Freuden seiner Kindheit gewesen! Und später, nach dem Krieg ... Der an den Haaren herbeigezogene Kniff mit der neuen Wassergrenze, die ganze Teufelei mit wegbugsierten, zerschnittenen Fischnetzen ... Der völlig ungleiche Kampf, der den Tveholm immer ärmer und elender machte ... Jannes Augen immer wilder vor ohnmächtigem Haß, die Mutter noch willenloser und kläglicher ... Bis ihr widerliches falsches Spiel mit dem Norweger losging, an dessen Mund sie sich heute morgen hinter Jannes Rücken festgesogen hatte ...
Eine einzige Kette von Unrecht, Elend und Lüge war es. Und hier, gerade hier in der Bake hatte der ganze Fluch einst seinen Anfang genommen. Dort in der Ecke, da hatte der erfrorene Vater gesessen, mit der angenagten Pelzjacke und der kleinen Spieldose zwischen den Knien. Warum? Weil sich dieser Stark nicht aufmachen wollte, ihn zu retten oder den andern auf Ankarö Nachricht zu geben. Deshalb, weil ihm nichts wichtig war als das Neugeborene, als sie, die jetzt neben ihm auf dem Reisig lag.
Aus seinem Gedächtnis ist weggewischt, was er selbst und der Stiefvater Böses getan oder zu tun versucht haben; aber die Schuld des Feindes legt er bis auf den letzten herübergeworfenen Stein in die Wagschale. Er denkt nicht einmal mehr an seine eigene Freveltat in der letzten Nacht. Es ist der Brief des Junkers, der durch seine beschämte Reue einen Strich gemacht hat, obgleich er das selber nicht weiß.
Lange starrt er grübelnd und mit dem Kopf in der Hand nach der dunkeln Ecke drüben. Dort ist es also gewesen, da hat er gesessen ...
Schließlich wird er auf der rechten Seite steif vor Kälte und wendet sich zum Feuer, um wieder warm zu werden.
Da merkt er, daß Tuva mit den Zähnen klappert. Sie sieht ihn flehend an. »Kannst du nicht näher kommen? Ich frier so.«
Was meint das Mädel? Kann es ein schlauer Versuch sein? Er steht auf und wirft noch mehr Holz aufs Feuer. Dann kriecht er gleichgültig wieder ins Reisig, nur wenig näher zu ihr hin.
Sie sieht ihn noch flehender an und streckt einen Arm aus. »So komm doch, komm richtig her zu mir! Nicht nur, weil's mich friert, ich hab' auch so schrecklich Angst. Hörst du nicht, es heult wie die bösen Geister! Aber wenn ich dich neben mir hab', dann ...«
Unmöglich, sich zu täuschen. Das Mädchen meint, was es sagt. Ach so, es hat Angst, aber nicht vor ihm. Und im gleichen Augenblick wird er von einer schwarzen Eingebung erfaßt. Der Werwolf ... Er erinnert sich plötzlich daran, daß ihm seine Mutter einmal erklärt hat, was das Wort bedeutet: der Geist eines Abgeschiedenen ist's, der in Wolfsgestalt Rache an den Lebenden nimmt. Hatte er nicht gefühlt, wie an dem Konfirmationstag, als er das Erbe seines Vaters antrat, der Geist des Toten gleichsam in ihn einzog? Und war nun nicht der Augenblick für eine wirkliche Rache da, nicht nur so ein paar zerstörte Netze oder ein zertrümmertes Boot? Der Werwolf ... Der Junker sollte recht behalten! Wie ein Wolf wollte er sich auf das stürzen, was Ankarö das Teuerste war, wollte sie kränken, ihre Zärtlichkeit oder ihr leichtsinniges Blut – was es auch sein mochte – kalt verhöhnen und ihr nachher wie einem zertrampelten Fetzen einen Fußtritt geben ... Bitte, Herr Leuchtturmwächter und Herr Bräutigam, hier kriegt ihr zurück, was ich nicht mehr haben will! Ich hab' mir das Meinige genommen, nehmt ihr vorlieb mit dem Rest ...
Das Herz hämmert ihm in der Brust, als er zu ihr hinkriecht und heftig ihren zarten Körper umschlingt, der von der Wärme des Feuers vorn warm, aber im Rücken eiskalt und feucht ist. Sie sieht ihn etwas erschrocken und verwundert an. Als er aber dann seinen harten Griff lockert, schlingt sie ihren einen Arm um seinen Nacken und lehnt ihren Kopf an seine Schulter.
Eine Weile bleiben sie so regungslos, während sie aneinander warm werden; er weiß, daß er wohlüberlegt und vorsichtig handeln muß. Aber je länger er da neben ihr liegt und fühlt, wie ihre eine Brust, die er am Morgen gesehen hat, sich unter dem Kleiderstoff sacht hebt und senkt, da wird ihm immer klarer, daß es sich nicht einfach um eine kalte, überlegte Rache handeln kann. Noch etwas anderes ist mit im Spiel, etwas für ihn selbst Quälendes und Gefährliches. Vielleicht Begierde. Oder vielleicht ... vielleicht eine törichte Zärtlichkeit oder ... ja, weiß Gott, wie man es nennen soll!
Er versucht alle Gefühlsduselei abzuschütteln und wieder der Wolf zu sein, der er zu sein beschlossen hat, da ist ihm plötzlich, als höre er ein Flüstern. Aber nicht Tuva ist's, die flüstert, nein, es kommt aus der dunklen Ecke dort auf der andern Seite. Obgleich sie ja keine Stimme hat, dringt dieses Flüstern durch den Lärm bis zu ihm!
»Schäm dich, Valle! So will ich dich nicht haben.«
Er zuckt zusammen. Was um des Himmels willen will er denn tun? Hat er vergessen, wo er sich befindet, oder will er den Ort, wo sein Vater starb, besudeln?
Aber bald nimmt die Leidenschaft wieder überhand. Er schwankt zwischen Begierde und Scham hin und her, während der Sturm draußen steigt und sinkt. Zuletzt ist er am Unterliegen; er hört kein Flüstern mehr, weiß nicht mehr, warum es geschehen oder nicht geschehen soll, weiß nur noch, daß er sie haben muß, jetzt, gerade jetzt. Er preßt ihren warmen, weiblich duftenden Körper immer enger an sich.
Da merkt er etwas, was mit einem Schlag jede schwarze Absicht entwaffnet. Tuva ist mit dem Kopf an seiner Schulter eingeschlafen, ruhig und vertrauensvoll wie ein Kind.
Am nächsten Tag ist der Lotsenkutter wieder da. Landen aber kann er nicht, obgleich der rasende Südwind am Morgen den Geist aufgegeben hat. Die Wellen wälzen sich noch himmelhoch, der neue leichte Nordwest kann sie nicht dämpfen, sondern sie höchstens noch ein wenig höher aufschäumen lassen. Aus dem Boot kommen zwei kleinere Öltuchsäcke dahergeflogen; sie sind mit beschwerten Leinen versehen, damit sie nicht so leicht zurückgesaugt werden und dann um die Schäre herumtreiben. Einer von ihnen gelangt ans Ufer. Er enthält eine zusammengerollte Filzdecke, ein Paket mit Nahrungsmitteln und einen vollgeschriebenen Bogen Papier, den Tuva freilich nur ansieht und dann sofort zerrissen ins Meer hinauswirft. Für Valle aber bedeutet dieser ungelesene Brief mehr, als sie ahnt. Den ganzen Tag ist er freundlich und fürsorglich, denn jetzt ist er sich darüber klar geworden: er kann sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie kommt nie wieder. Und ob es auch auf der »Morgengabe« sei, der Vergeltung muß ihr Recht werden. Sonst bekommen der Leuchtturmwächter und der widerliche Junker sie zurück, wie wenn nichts geschehen wäre, und alles bleibt beim alten – Wohlstand und Verlobung auf Ankarö, Armut und Lüge auf dem Tveholm. Was hat ein zertrümmertes Netzboot zu sagen? Wieviel wiegt es gegen all das Unrecht, das den Tod eines prächtigen Mannes verschuldet und seitdem drei weitere Leben auf eine schiefe Ebene gebracht hat.
Obgleich für Tuva jetzt mehr als genug zu essen da ist, geht er wieder auf die Eiersuche und ißt selbst nur sparsam von ihren Leckerbissen. Besorgt ist er, weil er kein Treibholz mehr am Strand entdecken kann. Die saftgeschwellten Zweige der Erlenbüsche, der Heidekrautbüschel und Rauschbeerensträucher geben mehr Rauch als Wärme.
»Aber wir haben ja die Filzdecke für die Nacht«, erklärt Tuva unbekümmert.
Und als es Abend wird, kriecht er ohne Zögern zu ihr und hüllt sie beide in die warme Decke. Aber Tuva schläft sofort ein, den Kopf an seiner Brust, und noch deutlicher hört er jetzt das Flüstern von der andern Seite her aus der dunklen Ecke, wo sein Vater einst starb. Er weiß, das Mädchen ist jetzt ganz in seiner Gewalt; er kann mit ihr tun, was er will; aber sonderbar – der Tote, den er ja vor allem rächen will, gerade er steht jetzt wie ein drohender Schatten zwischen Valle und dieser Rache. Dann ist er also auf falschem Weg, aber wo kann er den richtigen finden? Er fühlt nur, daß er ihr nicht auf diese Art Böses antun kann. Sie schläft ja, als liege sie an der Brust eines Schutzengels.
Na ja, aber etwas soll sie doch von diesem Abenteuer erfahren. Etwas, das sie aus ihrer Arglosigkeit herausreißen und ihr zeigen wird, wer er ist! Er schüttelt sie heftig. »Sag, Tuva, warum ist denn dein Boot gesunken?«
»Das weiß ich ja nicht.«
»Aber ich weiß es. Denn ich hab' es versenkt. Du darfst das ruhig deinem Vater und dem Junker mitteilen, das tut nichts. Ich sitze, ohne zu mucksen, ein paar Monate im Gefängnis. Und die Ankaröer werden aus dieser Geschichte keine Seide spinnen, nur auslachen wird man sie.«
Tuva setzt sich auf und starrt ihn mit weitaufgerissenen Augen an.
»Du lügst!« keucht sie mißtrauisch.
»O nein, ich bin nicht der feine Retter, für den du mich hältst.«
»Ja, schwatz nur! Wenn du lügst, was kümmert's mich! Und sagst du die Wahrheit, so denkst du doch wohl nicht, daß ich klatschen werde, nach all der Hilfe, die du mir geleistet hast?«
Kalt und sachlich fängt er es ihr zu erklären an. Ihre aufgerissenen Augen werden immer größer. Als er fertig ist, erwartet er, sie werde aufspringen, wütend ihre kleinen Fäuste ballen und mit ohnmächtigen Mädchenflüchen, gerade solchen, wie er sie begehrlich erhofft, auf ihn losfahren. Aber nichts davon geschieht. Seine Worte haben eine ganz andere Wirkung, als er denkt. Die Spannung in ihren Zügen läßt nach, ihr Gesicht leuchtet auf, es strahlt beinah.
»Du Ärmster! Wenn es so ist, wie du sagst, dann hast du mich ja sehr, sehr lieb.«
Er prallt stöhnend von ihr zurück und vergräbt seinen Kopf in dem stechenden Reisig. Wie von einem Keulenschlag getroffen, weiß er plötzlich, daß sie recht hat. Jetzt ist er der Schwächere, der Ohnmächtige, der sich niemals rächen kann. Aber er reißt sich zusammen und ruft: »Nein, es ist nicht wahr! Ich hab' dich nicht lieb!«
»Jawohl hast du mich lieb«, erwidert Tuva gelassen.