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9

»Schade um alle Mistfinken von Bauern!« sagte der Bussar und gähnte vergnügt der Sonne entgegen. »Wenn es Sonntag ist und sie Zeit hätten, können sie nicht hinaus zum Jagen und Fischen, denn keiner darf ja an dem Tag etwas heimholen vom Acker des Herrn. Und wenn es dann wieder Werktag geworden ist, wie eben jetzt, dann haben die Ärmsten keine Zeit wegen all ihrer Schweinearbeit! Nein, wir können Gott danken, Kameraden, wir sind freie Barone, und uns geht's recht gut!«

Bei leichter nördlicher Brise und mit einem schaukelnden Kahn im Schlepptau ist das Tveholmer Kleinboot vom heimatlichen Strand abgefahren. Sie nehmen Kurs westlich auf zwei von den äußersten Schären im offenen Meer. Diese heißen »die Sättel«, und jedenfalls gehen sie den Stark auf Ankarö gar nichts an. Im übrigen hat man an Bord keine Eile, man hofft, gar nicht rudern zu müssen, sondern hinzukommen, bevor die Brise sich gelegt hat, denn so ein leichter Sommernordwind geht früher oder später immer zur Ruhe. Sonst ist es ihnen einerlei, wann sie ankommen.

Obgleich es Jannes kleineres Fischerboot ist, gleicht das Fahrzeug doch einer tiefen, breit ausladenden Badewanne von ansehnlichem Ausmaß. Das ganze weite Vorschiff ist mit allerhand Notwendigem beladen: Polstern und Schafpelzjacken für die Nacht, Eßkobern, Sauermilchtönnchen, Fernrohrfutteralen, Seehunddraggen, einem Kaffeetopf und zwei schön geschnitzten altmodischen hölzernen Zielböcken für die Flinten. Aus diesem Berg von Gerätschaften strecken drei Flinten ihre Hälse hervor, die sich feierlich an die nächste Bank lehnen. Aber die Schießgewehre sind sehr verschieden voneinander. Eines von ihnen ist Valfrids feinkalibriges schwedisches Mausergewehr, das er als gute Prise nebst Halbmantelpatronen aus dem Krieg mitgebracht hat; die andern beiden sehen eher wie Handkanonen aus mit ihrem gewaltigen Kaliber, ihrer rostroten eisernen Brechstange von Lauf und einem richtigen Dampfhammer von Hahn. Und doch haben sie von hundert glücklichen Jagden her eine vielfach längere Schußliste auf dem Gewissen als der schlanke Neuling, der erst seit zwei Jahren mittut.

»Ei, ei, was du für ein gutes Boot hast!« fährt der Bussar fort; er will Janne, der für einen Augenblick die Ruderpinne sich selbst überlassen hat, Honig ums Maul schmieren. »Der Kahn, ja, der ist mit Verstand gebaut! Weder luvgierig noch leegierig. Steuert sich ja geradezu selbst – seht nur!«

Langsam schaukeln sie durch das helle Vormittagsglitzern über die leichtgekräuselte Dünung, die aber hier außen höher ist, als sie erwartet hatten. Die Küste versinkt immer mehr, die Höfe weit drüben in Bredby vereinigen sich zu einem einzigen langgestreckten Familienhof, die roten Ziegeldächer gleiten ineinander, die Windmühlenflügel verschwimmen in der Luft, der drahtdünne Streifen der Mittsommerstange hoch über dem Ganzen wird von dem Licht aufgesogen. Noch ist der Tveholm mit einem rauchenden Schornstein genau zu erkennen, bis auch er undeutlich wird.

»Leb wohl, all du Ungeziefer drüben an Land! Wir kommen erst wieder, wenn es Wind und Wetter gefällt!«

Alles, was sich um sie her zuträgt, wird aufmerksam beobachtet und besprochen. Da sind die Großmöwen, die Straßenräuber des Meeres, die das Boot außer Schußweite begleiten und sich fragen, ob da unten nicht bald die Eßkober geöffnet und gute Dinge über Bord geworfen würden; friedlich schaukelnde Eiderentenscharen und flinke kleine Alke, die beim Untertauchen mit ihren Schnäbeln gleichsam Löcher in die Wellen picken; dann erscheint ein einzelner Seehund, der für einen Augenblick seinen dunklen walzenförmigen Kopf über die hellere Meeresfläche herausstreckt und wieder verschwindet. Oder es ist eine dahinsegelnde Wolke, die nicht die richtige Gutwetterfarbe hat, oder der Rauch von Dampfern, oder es sind die zur Hälfte unter den Horizont hinabgesunkenen Masten draußen auf dem großen Schiffahrtsweg vom Bottnischen Meerbusen hinunter zur Ostsee. Kurz vor Mittag frischt der Wind ein bißchen auf, wie das hier oft vorkommt, ehe er sich entschließt, heimzugehen oder sich auf die andere Seite zu legen.

Sie fahren an der Slätschäre vorbei, einem flachen, grasbewachsenen Stück Land, wo die Graugans nistet. Ein Seeadler kreist königlich und für unverletzlich erklärt über der Schäre – nehmt euch in acht, ihr kleinen Gössel!

Jetzt hebt sich allmählich das niedrige Steinbett des Inneren Sattels aus dem Wasser, und die drei im Boot sehen Seehundköpfe, die dort auf den Strandklippen nicken und sich kurz danach von der die Felseninsel umgebenden Meeresfläche abheben. Aber da können sie nicht halten; es muß unbedingt windstill sein, wenn der Schuß auf eine so kleine Klippe gelingen soll; beim geringsten Luftzug geht jeder ankommende Seehund in Lee von ihr, bekommt Witterung von den Jägern und ist verschwunden. Trotz allen Anzeichen sieht es nicht so aus, als ob heute Windstille eintreten würde; sie müssen also eine größere Schäre aufsuchen, und mit guter Fahrt segeln sie nach dem hochgelegenen Äußeren Sattel, der eine halbe Seemeile weiter liegt. Dort scheinen noch keine anderen Schützen zu sein.

Bei der Ankunft aber wird ihnen eine Überraschung zuteil. Sie fahren um die südliche Landspitze herum und kreuzen auf der westlichen Seite der Schäre in einen natürlichen Hafen hinein. Gerade als sie auf die Hafenmündung zusteuern und das Segel wegfieren, entdecken sie, daß ein Seehund auf den flachen Klippen an der Pforte der Felsinsel schläft. Es ist eine kleine Schwarzrobbe. Von dem Segelflattern erwacht sie sofort und plumpst ins Wasser. Aber anstatt nach außen gegen die Jäger zu unterzutauchen, verleitet sie der Schrecken, sich in den Hafen hinein zu wenden. Ihr Kopf ist einen Augenblick drinnen über dem Wasser zu erkennen, taucht aber gleich wieder unter. Rasch wird nun das Boot in dem engen Sund quergelegt, so daß es die schmale Fahrbahn vollständig absperrt, und mit dem einen Riemen läßt Janne überdies das Wasser unter dem Kiel aufschäumen.

»Auf und schieß, Valle, du kannst's ja aus freier Hand!« kommandiert er.

»Ja, jetzt haben wir den Selbstmörder, schlauer ist er nicht gewesen«, nickt der Bussar und sperrt verdutzt das Maul auf. Auf all seinen unzähligen Jagden hat er selten etwas Behenderes gesehen.

Valle ergreift rasch sein Gewehr und klettert nach vorn. Der Mord ist nicht gerade ehrenvoll, er gleicht eher einem Abschlachten im Pferch, aber immerhin ist es keine ganz leichte Sache. Hier gilt es, sich rasch zu drehen und zu wenden. In dem Hafenrund taucht der Seehund unter; man sieht den langgestreckten Körper wie einen dunklen Schatten nach dem helleren algenbewachsenen Meeresboden hinschießen. Er schwimmt von einem Strand zum andern; nur für einen Augenblick streckt das Tier an irgendeiner unvermuteten Stelle die Nase heraus und füllt sich die Lungen mit einem einzigen Schnaufen – man kommt nicht zum Zielen. Ein Schuß geht ins leere Wasser; der Seehund ist schon wieder drunten, als die Kugel an der Stelle, wo der Kopf soeben sichtbar gewesen war, das Wasser aufspritzen läßt. Aber jetzt – kommt er nicht wieder an die Oberfläche? Valle steht mit dem Gewehr am Auge und verfolgt das Dahingleiten des dunkeln Streifens dort unten; dieser kommt höher herauf, wird deutlicher, und in dem Augenblick, wo der Wasserspiegel von der ersten Ahnung von Schwärze zerbrochen wird, schießt er. Dem Seehund wird der Schädel durchbohrt, mausetot dreht er den helleren Bauch nach oben und geht wieder langsam unter.

Der Bussar bricht in sein herzliches schallendes Gelächter aus und zieht einen Draggen hervor.

»Herrlicher Anfang, holt ihn! poff – toff ... fünfzig Mark Schießprämie und ein prächtig gezeichnetes Fell!«

Nach diesem unbeabsichtigten Vorspiel wird das Netzboot in das Hafenrund hineingezogen, wo es hinter den Felsklippen verborgen liegt; der Mast wird umgelegt, damit er sich nicht gegen die Luft abhebt. Nur der Kahn muß zur Hand sein und wird in einer tiefen Felsspalte im Sund versteckt.

Sie klettern an Land, um ihr eigentliches Vorhaben ins Werk zu setzen. Auf der nördlichen Luvspitze der kahlen Schäre lassen sie sich nieder, die beiden Alten mit ihren Handkanonen, die auf den Felsplatten in den geschnitzten Flintenböcken liegen, und Valle mit seinem leichten Mausergewehr über den Knien. Dann recken sie die Hälse und stimmen in einem miauenden Dreiklang an: »Buuiioo! ... Buuiiooo! ...«

Der Lockruf des alten Bussar erinnert an eine ausgediente Sirene, die langgezogen darüber klagt, daß sie keine Stimme mehr hat. Übrigens kommt es nicht so sehr darauf an, wie man ruft; der Seehund hat selbst so viele Töne, daß alles, was auch der Hals hervorbringt, fast immer einem von ihnen gleicht, und er ist ja überdies von allen Tieren eines der neugierigsten. Viel schwieriger ist er in geringer Entfernung zu behandeln, wenn er glücklich da ist. Aber nur die Graurobbe horcht wirklich auf die Lockrufe; ihr kleiner Vetter, die Schwarzrobbe, kümmert sich wenig darum.

»Buuiioo! ... Buuiiiooooo! ...«

Sie haben einen ziemlich hohen Felsen im Rücken, so daß sie, von See her betrachtet, mit dem Berg verschmelzen, sonst aber sind sie ganz ohne Deckung. Der Seehund, der große Fischräuber, hat Wasseraugen. In der Luft kann er sich nicht auf sie verlassen, und er muß außerdem bedenklich farbenblind sein; anscheinend ist ihm seine ganze Umgebung ein unklares Schattenspiel. Am wichtigsten für den Jäger ist es, sich wie eine Bildsäule vollkommen ruhig zu verhalten, solange der Seehund den Kopf über dem Wasser hat, und rasch die Stellung zu ändern, während er untertaucht; das schlimmste ist, wenn man sich so bewegt, daß sich das Gewehr oder der Hut oder ein Arm gegen die helle Luft abzeichnet – da sind des Seehunds Augen gut genug, den Menschen zu ahnen, und wie der Blitz ist er dann verschwunden.

»Buuiioooooo! ...«

Der Ruf dringt heute nicht weit hinaus, es weht zu stark am Strand, und der Wind treibt den Ton in verkehrter Richtung zwischen die Schären hinein statt hinaus aufs Meer. Weit, weit draußen sehen sie manchmal einen Seehundkopf wie einen dunkeln Punkt auf der Wasserfläche, und dann wieder einen, aber alle ziehen stolz vorbei; sie hören die Rufe nicht, oder kümmern sich nicht darum. Es ist jetzt bald ein Uhr, die Zeit des Tages, wo ein sanfter Nordwest schon wieder schwächer geworden zu sein pflegt; aber heute scheint er keine Lust zu haben, sich zu legen. Irgendwo an der schwedischen Küste drüben befindet sich ein Loch, aus dem die Böen hervorkommen, um sich wie eine Trichteröffnung auszudehnen, die weiter und immer weiter wird. Die drei warten und warten und lassen die Fernrohre nach allen Seiten spielen. Nein, es sieht nicht aus, als ob sich der Wind legen wollte, die Wasserfläche ist überall gekräuselt, stellenweise stärker und streifiger, stellenweise weicher und bläulicher schimmernd.

Dann entdecken Jannes fernsichtige Späheraugen etwas, und er deutet darauf hin. »Ja, jetzt wird's jedenfalls windstill – seht dorthin!«

Drüben beim Leuchtturm von Ljungarn auf der schwedischen Seite bewegt sich ein Dampfer. Eben fährt der qualmende Schornstein an dem weißen Leuchtturm vorbei, der wie eine dünne Kerze direkt aus dem Meer steigt. Aber die Rauchfahne liegt nicht über dem Wasser, sondern steigt kerzengerade auf und breitet sich langsam aus, wie der Wipfel einer schwarzen Palme. Also ist dort drüben im Nordwesten luvwärts vollkommene Windstille. »Gut, dann haben wir sie nach einer Weile auch hier.«

Und die Windstille tritt ein.

Die Brisen fangen an, miteinander zu streiten und von allen Seiten zu wehen. Bald wehen sie auf die Sonne zu, bald sind sie sanfter und haben die Sonne im Rücken. Glänzende Streifen fressen sich in den blauen Teppich des Meeres hinein, sie bilden eine Schlinge um das Feuerschiff der Brotthällen herum, dessen dicker Mast wie ein dunkles Insekt dort im Lichte schwebt; sie legen eine riesengroße silberne Platte unter den Ziegelturm des Galten und heben dieses einer Festung ähnliche Spielzeug ein Stück empor, sie breiten sich aus in ölige Gürtel, fließen ineinander zu runden schlafenden Inseln und fressen sich weiter auf dem Antlitz des Meeres wie eine wuchernde Hautkrankheit. Aber das Meer leuchtet und lacht nur über die Krankheit und schlägt sein gewaltiges Auge der Sonne entgegen immer größer auf. Die letzten Brisen verziehen sich nach den Schären zu und legen sich als schwarzblaue Streifen da und dort unter Land; aber rings um den Sattel her wird alles zu einer spiegelnden Unendlichkeit von Luft und Wasser. Irgendwo mitten in dem glühenden, schwankenden Ungewissen schweben zwei blendendweiße Sommerwolken. Man weiß nicht recht, wo, denn sie liegen ebenso klar hier unten wie dort oben. Die Augen verlieren sich in diesem Abgrund von Sonne, das einzige Feste ist die rote von Strahlen übergossene Felsinsel mit ihren glühendheißen Steinblöcken. Einige Einsiedler von Maikäfern surren den Schützen um die Köpfe, das ist alles, was geschieht. Und unter der spiegelglatten Oberfläche atmet das Meer mit gleichmäßigen Zügen; die Strandlinie vor ihren Füßen weicht zurück und rollt in einer von Schaum eingefaßten Dünung hinaus.

Irgendwie erscheint es immer verkehrt und unrichtig, wenn in einem Zweikampf der Naturmächte die Windstille, das reine Nichtstun, die Schlacht gewinnt. Das ganze Dasein und der Mensch selbst sind so sehr auf Gegensätze eingestellt. Auch die drei dort auf der Landspitze sitzen eine Weile grübelnd still und schicken nur ab und zu ihren flehenden Lockruf in die Weite. Nicht einmal der Bussar rückt mit irgendeiner Behauptung heraus; er faltet nur seine Hände auf dem Leib und nickt andächtig. »Jetzt, Kameraden, jetzt haben wir die Flaute.«

Dann kommt er plötzlich daher, der alte graue Seehund in eigener Person. Niemand hat ihn vorher bemerkt; plötzlich aber streckt er nur zwei Kabellängen entfernt seinen schnaubenden großen Hundekopf heraus. Und nun beginnt das Spiel.

Die Reihe, zu schießen, ist am Bussar, das geht dem Alter nach. Janne soll die Köterlaute machen und das Versteckspiel weiterführen. Valfrid hat nur regungslos dazuliegen und zuzusehen. Solange der spähende Kopf dort drüben verschwunden ist, bleiben alle drei still wie Bildsäulen. Auch der Lockruf wird augenblicklich eingestellt – auf so kurze Entfernung kann ein erfahrener alter Seehund allzuleicht hören, daß ein falscher Ton in dem Pfeifen ist. Nur Janne, der geriebenste von ihnen, läßt ein ganz schwaches Wimmern durch die Nase hören, das in ein Mittelding zwischen einem Zischen und Schnarchen übergeht. Und der Bussar flüstert vor sich hin: »Ein gefährlicher Kerl, dieser alte Großvater!«

Aber beim ersten Untertauchen vollzieht sich eine rasche Veränderung. Auf seinem kranken Bein und mit seinem mageren Hinterteil in der Luft, kriecht Janne bis ans Wasser, wo er sich zusammenkauert und seinen Rock von hinten her über den Kopf zieht, während der Bussar sich vornüber auf einen flachen Stein wirft und seinen Körper in bequeme Schußstellung bringt, mit dem Flintenlauf noch immer auf dem Bock und dem Kolben an der Wange. Jetzt taucht der Seehund wieder auf, und zwar bedeutend näher; er bewegt die Nase und wittert. Nein, heute bekommt er keine Witterung von Menschen, nicht ein Lüftchen regt sich. Alle drei fauchen leise, so wie der männliche Seehund es zu tun pflegt, wenn Gesellschaft kommt. Und jetzt beginnt Janne sein Spiel. Aber trotz der Spannung muß Valle unwillkürlich an ein Bild denken, das er irgendwo einmal gesehen hat, und das einen betenden Mohammedaner auf seinem Teppich darstellte. Etwas murmelnd, was von fern einem Gebet gleicht, beginnt sein Stiefvater mit dem Kopf zu nicken, ein paar schweißtriefende Haarsträhnen hängen aus dem zusammengezogenen Rockkragen aufs Wasser hinunter, und jetzt wirft die Dünung über den grauen Haarschopf und den ganzen Oberkörper eine gewaltige Abspülung. Aber behend hustet Janne das Wasser aus dem Mund und setzt das Spiel mit einer anderen Bewegung fort: jetzt wiegt und krümmt er sich in seinem demütigen Gebet mit heraufgezogenen Schultern, die Arme um den Leib gepreßt, als ob sich sein ganzes elendes Innere vor Schmerzen bäumte. Und der erfahrene Seehund lauscht willig auf das Flehen, er möge doch so freundlich sein und sich erschießen lassen. Er nähert sich im Zickzack unter wiederholtem Untertauchen, und sooft er den Kopf wieder herausstreckt, hat der Bussar seinen Schießbock über die Steinplatte weitergeschoben und sein unhandliches Kanonenrohr auf einen Punkt gerichtet, der bis auf wenige Meter richtig berechnet ist. Der Seehund schaukelt auch nicht merklich in der Dünung, schwimmt überhaupt kaum oben auf dem Wasser; er streckt seinen Kopf hoch heraus, dreht ihn hin und her, schnaubt und glotzt. Er ist offenbar ganz arglos und ahnt keine Gefahr.

Jetzt ist er kaum noch fünfzig Meter vom Land entfernt, jetzt taucht er unter – da, jetzt ist er wieder oben, noch näher; wie eine Boje und mit dem ganzen breiten Hals sichtbar, steht er im Wasser. Gerade unter ihm ist seichtes Wasser und nicht sehr steiniger Grund – warum schießt der Bussar nicht? Ach nein, er will das Biest ganz dicht vor sich haben, er verläßt sich nicht auf seine trüben Augen. Valle richtet den Blick auf ihn, ohne den Hals zu drehen. Der Bussar liegt da und preßt unentwegt seine gedunsene Altmännerwange gegen den Gewehrkolben; auf seinem leuchtend roten Riechhorn sind zwei Adern wie blaue Regenwürmer hervorgetreten und legen Zeugnis ab, daß er aufs höchste gespannt ist. Das linke Auge hält er während des Zielens geschlossen, das rechte aber steht mit einem gehässigen Blick aus dem triefenden matten Spiegel weit offen; seine abgenützte Lampenbürste von Schnurrbart hängt zu beiden Seiten des Kolbens vom Hals herunter, und aus dem offenen Mund mit den tabakbraunen Zahnstumpen steigt ein zorniges Zischen. Komisch, wie sehr er selbst gerade jetzt so einem alten grauen Großvater von Seehund gleicht!

Als das Tier abermals untertaucht, schlägt der Bussar mit dem Zeigefinger der linken Hand hastig ein Kreuz über seinem Flintenlauf. Aber vielleicht hat sich der Seehund jetzt für immer verabschiedet – er bleibt gar so lange drunten ... Nein, eben steigt er wie ein Haublock wieder aus dem Wasser herauf, nur ein paar Armlängen vom Strand, man kann die Schnurrhaare um seine Nase zählen. Er glotzt geradezu nach dem Bussar hin, der den Gewehrlauf kaum merklich zur Seite rückt. Und endlich fällt der Dampfhammer, das Zündhütchen sprüht, und der Schuß knallt. Es ist ein Volltreffer; langsam sinkt der vom Schuß durchbohrte große Hundekopf unter, und rotschäumende Blasen steigen perlend herauf.

Trotz der kurzen Entfernung bleibt der Bussar nach allen Regeln der Kunst mit seinem Schießgewehr im Arm unbeweglich liegen, bis Janne den Kolben von beiden Seiten zwischen einigen Steinen fest verstaut hat; erst dann steht der Schütze auf. Der Flintenlauf in seinem Schießbock deutet wie ein Wegzeiger auf einen Punkt draußen im Wasser: dort ist der Seehund gesunken.

Sie fahren im Kahn hinaus, die Beute zu bergen. Sie brauchen nicht lange zu spähen und zu suchen, schon nach einigen Ruderschlägen ist die richtige Stelle gefunden, ohne daß sie sich nach dem Flintenlauf am Strand hätten umsehen müssen. Aus dem klaren, aber doch zwei Faden tiefen Wasser quillt es blutig herauf und breitet sich wie eine schwere Wolke über die Umgebung. Janne läßt seinen scharfen kleinen Draggen da, wo die Blutwolke am dichtesten ist, auf den Boden hinuntergleiten; mit einem Ruck hat er die Beute erfaßt und zieht sie ohne Schwierigkeit an die Oberfläche herauf. Aber in der Luft wird der gewaltige Körper schwer. Erst als Valle die mit Schwimmhäuten versehenen Füße fest gepackt hat, gelingt es ihnen mit vereinten Kräften, den Teufelskerl über den Bootrand hereinzuziehen.

»Nehmt euch vor den Seehundläusen in acht!« sagt der Bussar und betrachtet mit Sachkenntnis den struppigen, teilweise kahlen Pelz. Aber er entdeckt keines von den kleinen Tierchen, die feinem, rotem Sand gleichen und ein heftiges Brennen hervorrufen, auf der menschlichen Haut aber kaum länger als eine Stunde weiterleben.

»Hinauf an Land und den Kessel aufgesetzt!« poltert er. »Jetzt wollen wir uns einen Kaffeeschnaps genehmigen!«

Tatsächlich lohnt sich's vorderhand gar nicht, an einen weiteren Schuß zu denken, wenigstens nicht auf der äußeren und besseren Seite der Schäre. Um die Landspitze her, auf der sie saßen, hat sich die Farbe des Wassers in weitem Bogen verändert; es erinnert jetzt an das Rote Meer, so wie sich ein Kind dieses vorstellt. Kein Seehund mit einer gesunden Nase kann da herankommen, und so bleibt den Jägern nichts anderes übrig, als zu warten, bis die Strömung und die leichte Dünung alle Unreinlichkeit ins Meer hinausgeschwemmt haben. Deshalb kann für eine Weile auch ein starker Kaffeegeruch nichts schaden.

Es ist jetzt so unerträglich heiß zwischen dem glühenden und schattenlosen Gestein, daß Valle auf der anderen Seite der kleinen Felsinsel einmal ums andere in Hosen und Hemd ins Wasser watet. Selbst der dürre Janne schnauft und schwitzt, aber sein Kamerad weiß einen anderen Kniff. Er schlüpft in seinen Schafpelz und zieht sich eine dicke wollene Mütze über die Ohren. »Da kommt die Sonne nicht durch«, erklärt er sachlich.

Bisher haben sich die beiden alten Männer standhaft jedes starken Getränkes enthalten, denn sie haben oft die Erfahrung gemacht, wie es mit dem Schießen geht, wenn die Augen trüb werden und die Hand branntweinzittrig. Da scheint alles glatt zu gehen, wenn auch überall der Teufel los ist. Überdies hat der Bussar, der eingefleischte Trinker, sich schon seit heute früh im Zaum gehalten. Aber er hat schon seine Belohnung dafür bekommen, und so darf es mit der Nüchternheit jetzt Schluß sein. Als er den Kaffeetopf von dem kleinen Feuerloch in einer Felsenspalte weggenommen und drei gewaltige Blechhumpen vollgegossen hat, zaubert er bedeutungsvoll sein Tönnchen hervor.

Janne hat lange stumm und mürrisch dabeigesessen. Doch wie Bileams Esel bekommt er plötzlich eine Stimme; ob ihm aber ein Engel von oben seine Worte eingegeben hat, ist nicht sicher. »Eingegossen, eingegossen, daß es in der Bucht hier Wellen schlägt!« kommandiert er und streckt seinem Kameraden den Humpen hin.

Der Bussar ist nicht faul, dem Befehl zu gehorchen. Pul-pul-pul ... kluckert es aus dem Tönnchen, und auf der Oberfläche von Jannes breitem Trinkgefäß voll Kaffee schäumt und siedet der starke geschmuggelte Branntwein wie eine jäh aufgekommene Brise in einer dunkelbraunen Bucht.

Ein und zwei Kaffeehumpen voll werden es, ja, es werden viele. Valle, dem solche Sauferei gar nicht gefällt, wird ungeduldig und zieht sich allein auf die andere Seite der Schäre zurück. Die ganze abendliche Jagd droht in die Brüche zu gehen. Er sieht mehr als einen Seehund in Locknähe, und er gibt sich alle Mühe, zum Schuß zu kommen; aber der Lärm, den die beiden Alten vollführen, ist zu störend. Als er endlich zu ihnen hinüberklettert, um sie wieder zur Vernunft zu bringen, hört er, daß sich ihre Unterhaltung jetzt um seine Mutter dreht.

»Ach du Esel«, grölt der Bussar, »wegen des Norwegers, da kannst du ruhig sein! Meinst du, ein Mann in seinen besten Jahren kümmert sich um Elfrida? Blödsinn, Junge, Blödsinn! Selbst wenn ich dreißig Jahr jünger wär, würd sie mich nicht in Versuchung führen.«

Janne sieht erlöst aus und mischt sich einen neuen Humpen. »Ja, du bist ein Kenner in dieser Sache, mit all dem Wildhafer, den du gesät hast«, stimmt er zu.

»Bist du eifersüchtig?«

»Niemals! Und das muß ich sagen: als du endlich auf die Freite gingst, hast du keine Laterne mitgehabt. Sonst sähe dein Weib etwas anders aus.«

Der alte Bussar blickt plötzlich recht trübselig in seinen Kaffeeschnaps hinein, als ob darin die Wahrheit zu finden wäre. »Ja, das war wohl der Fehler«, sagt er wehmütig. »Da fällt mir eben ein Gleichnis ein. Als ich in der Türkei war ...«

»Halt's Maul, das weiß ich schon!«

»Vielleicht war es auch nur in England. Jedenfalls war es in einer fremden Hafenstadt, wo ich ein altes Wirtshausschild sah, auf dem mit großen Buchstaben geschrieben stand: ›Heute um Geld – morgen umsonst‹. Jawohl, aber siehst du, wann kommt das morgen, das nicht heute ist? Ich habe versucht, die Leute auf diese Weise hereinzulegen, daß ich einfach in der Kneipe sitzenblieb, bis sie in der Frühe die Wirtschaft wieder aufmachten, aber da haben sie mich hinausgeworfen. Und gerade so hat mir's mein Weib gemacht, und ich hab die ganze Zeit in fremden Häfen gelegen.« Wie alle Witzbolde hat auch der alte Bussar eine tieftraurige Ader in seinem Innern. Trotz dem glücklichen Schuß hat sich diese am heutigen Abend bei Jannes giftigen Worten geltend gemacht, und der Branntwein gräbt alle Rinnen noch tiefer, einerlei, wohin sie führen. Plötzlich aber rüttelt sich der Alte auf und sagt: »Ho ho, ich glaub, ich fang zu heulen an! Janne, kannst du mir sagen, wieviel Pfund Blei hier um den Äußern Sattel herum auf dem Grunde des Meeres liegen? Einige Kilo dazu hab auch ich von Kindesbeinen an beigetragen. Aber eins ist merkwürdig. Die ganze Welt wackelt jetzt. Als ich noch ein Kind war und zum erstenmal hier draußen stand, ging die Sonne um Johanni gerade hinter der Bergkuppe dort unter. Aber bald, bald wirst du sehen, daß sie ein gutes Stück weiter nordwärts verschwindet. Wie soll man das deuten? Die Erde torkelt aus ihrer alten Bahn, ja ja, glaub mir nur ...« Die frommen Hundeaugen des Bussar blinzeln verwundert nach der Meeresfläche hin, die in ihrem unendlichen Spiegel die erste Ahnung des Abendrots auffängt.

Jetzt hält Valfrid den Augenblick für gekommen, das Trinkgelage zu unterbrechen und die beiden Alten an die Jagd zu mahnen, weil es um diese Abendzeit meist die größte Ausbeute gibt. Die Männer fügen sich willig, obgleich sie ziemlich wacklig sind.

Aber kurz vor Sonnenuntergang schießt Janne daneben. Es handelt sich um ein etwa zweijähriges Tier, das sich von einer ganzen Schar klügerer Verwandten getrennt hat und aufs Geratewohl allein auf Abenteuer ausgegangen ist. Allerdings steht sein Kopf tief im Wasser und mitten in dem blendenden Sonnenstreifen; aber die Schußweite ist die beste, als der Schuß fällt.

»Das ging zum Teufel!« sagt der Bussar, während die Bleikugel über die leere Wasserfläche tanzt.

Janne hebt seinen schweren Vorderlader in die Höhe und fuchtelt zornig damit herum.

»Entweder bist du zu besoffen, oder jemand droben an Land hat dir die Flinte verhext«, meint der Bussar tröstend. »Vielleicht die Ira, das Lumpenmensch.«

Als Janne wieder lädt, macht er es wie sein Kamerad; er schlägt ein Kreuz über der Kugel, ehe er sie mit dem langen Ladestock durch den Gewehrlauf stößt. Aber er sagt mißtrauisch: »Wie merkwürdig es in der Mündung kratzt!«

Valle schweigt.

Und sie trinken noch mehr Branntwein, Trostbranntwein. Gerade bei sinkender Sonne schießt Valle auf der anderen Seite der Schäre einen ausgewachsenen weiblichen Seehund. Aber das Tier ist zu weit draußen gesunken, das Wasser ist dort seine vier Faden tief und der Boden steinig. Irgendeine Hilfe zum Suchen des Seehunds ist an diesem Abend nicht mehr aufzutreiben; die Beute muß also liegenbleiben, bis morgen die beiden Alten wieder nüchtern sind und es heller Tag ist.

Jetzt geht die Sonne unter. Glutrot und gewaltig plumpst die feurige Kugel ins Meer, man meint fast zu hören, wie das Wasser um den glühenden Ball her aufkocht. Jetzt leuchtet es nur noch wie der Widerschein einer Feuersbrunst unter dem Gesichtskreis und sendet zitternden Purpurstaub in die Luft. Ein leichter Schauer zieht über die Wasserfläche; es ist der nächtliche Nordwind; aber er stirbt rasch dahin.

Valle richtet unter freiem Himmel ein Nachtlager für die zwei älteren Männer, legt Polster auf den kahlen Boden und Schaffelle darüber. Es fängt plötzlich an, kühl zu werden. Die beiden Kameraden wanken heran, um ein paar Dämmerstunden zu verschlafen. Janne hat sich dick eingehüllt, der Bussar aber trotz der eintretenden Kühle die warmen Hüllen abgenommen. Er wirft sich sofort nieder, faltet die Hände über der Brust und flüstert zu dem blaßblauen Himmel hinauf: »Ja, ihr Leute, jetzt haben wir die Flaute.«

Dann vergeht eine kurze Nacht auf dem Äußeren Sattel. Nicht ein Lüftchen regt sich, der Tabakrauch steigt kerzengerade in die Höhe. Um sie her verschmelzen Himmel und Wasser ins Ungewisse. Nicht einmal die gewohnten Lichtstreifen von den Leuchttürmen her kreuzen sich auf der Wasserfläche in dieser hellsten Zeit des Jahres, weil die Feuer gelöscht sind. Nur von der schwedischen Seite herüber flammt der Ljungarn in der blauen Meeresnacht wie eine weiße Blume auf, viermal und wieder viermal; das sind Grüße aus Schweden. Und über der stillen Schäreninsel schwirren kleine Mücken in wirbelndem Tanz durch die Luft, während die leise atmende Dünung ab und zu einen murmelnden Schaumkranz um den Strand wirft.

»Gut Nacht! Jetzt schlafen wir ... Buuiiooooo! ...«


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