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In der mit weichen, silberglänzenden Eibenzweigen geschmückten Kirche saß Elfrida zwischen ihrer wohlbeleibten Mutter aus Askvik und einer mageren Bauernfrau. Lange vor allen andern hatte sie aus ihrer feierlichen Stimmung heraus zu weinen angefangen, aber nicht laut oder schluchzend; ihre Tränen rieselten ebenso still und regelmäßig in das zusammengeknautschte weiße Taschentuch hinunter, wie eine Dachtraufe im März auf die letzte Schneewehe rinnt. Von Zeit zu Zeit wurde Elfrida von ihrer Mutter vorsichtig mit dem Ellbogen angestoßen: »So, so, Dirn, faß dich nun ...« Aber der Tränenfluß war nicht zu hemmen; Elfrida fühlte ihr Herz ungewöhnlich schmerzlich bewegt, ob mehr aus Unglückseligkeit oder aus Stolz, wußte sie selber nicht. Gestern war Janne nüchterner als gewöhnlich heimgekommen, das mußte sie nach ihrer schlaflosen Nacht zugeben, aber finster und schweigsam war er mehr als gewöhnlich. Die Bootfahrt nach dem Dorf war auch zu guter Zeit vor sich gegangen und gut abgelaufen; aber kaum waren sie an Land, als sie auch schon hörte, wie davon geflüstert wurde, was Janne gestern in der Betrunkenheit angerichtet hatte. Ach, es war ein Elend zum Verrücktwerden! Aber mochte er – sie selber war es ja, die bis zu ihrer letzten Stunde beweinte, was in jener Weihnacht geschehen war. Warum aber mußte Janne auf so grobe und unwürdige Weise an eine heilige Sache rühren? Weshalb hatte er nicht ihre Übereinkunft gehalten und bis heut abend gewartet? Ach, daß doch wenigstens Valfrid, ihr Sohn, seinem richtigen Vater nachschlüge!
Vorn an den Altarschranken wanderte der Pfarrer ebenso gelassen auf und ab wie daheim auf seinem Bodenläufer und hielt eine kurze Prüfung mit seinen Konfirmanden in der ersten Bank ab. Er wußte freilich, was sie konnten, es war nur eine notwendige kleine Vorstellung, und er sprach: »Ja, ihr Kinder, wir haben nun schon gezeigt, daß wir beten und eine Anzahl prächtige Lieder singen können, angefangen mit denen von Vater Luther und dem großen Dichter Paul Gerhardt. Am besten für den heutigen Tag paßt aber wohl: Geh aus mein Herz und suche Freud', nicht wahr? Ebenso haben wir kundgetan, daß wir im Verhältnis zu unseren Kräften versucht haben, die höchste Klippe der Menschheit zu ersteigen, die Bibel genannt wird. Lasset uns darum übergehen zu ihrem kleinen Ableger, dem Eckstein, den eine Menschenhand aus dem gewaltigen Berg des Wortes Gottes herausgebrochen hat. Der ist nicht größer, als daß jedes von uns ihn zum Alltagsgebrauch in der Tasche tragen kann. Was glaubst du, was ich meine, Signe?«
»Den kleinen Katechismus!« antwortete eine bebende Mädchenstimme.
»Richtig. Und da die Konfirmation, die feierliche Taufbundserneuerung, nicht eine Sache ist, die nur Gott und euer junges Selbst angeht, sondern die ganze Kirchengemeinde und besonders die Sippe, in deren langer Kette jedes einzelne von euch das jüngste christliche Glied ist, ja so ist es nicht mehr als recht und billig, wenn wir mit dem vierten Gebot anfangen. Karl, sag es ganz auf mit der Erklärung und allem!«
Karl plapperte eine Weile, als ziehe er ein Ende von einer schnurrenden Drahtrolle zu seinem Hals heraus.
»Richtig. Ehre Vater und Mutter ... Aber auch hier sehen wir, daß die Botschaft nicht immer zu wörtlich genommen werden darf, daß sie sich gewissermaßen zu einer höheren Pflicht als dem, was sie direkt aussagt, erweitert. Wenn du zum Beispiel so übel daran bist, daß dein Vater nicht mehr lebt ...« Der Pfarrer unterbricht sich selbst und schluckt. Was im Namen Gottes schwatzte er da? Spukte vielleicht von gestern her etwas in seiner Erinnerung und verwirrte ihm die Zunge? Allein: gesagt bleibt gesagt. Etwas verwirrt schaut er seine Beichtkinder an. Die ganze Reihe sitzt da und starrt zu Boden, um ja nicht zur Beantwortung einer so kniffligen Frage aufgerufen zu werden. Nur einer in der Reihe sieht aus, als wäre er gründlich bereit dazu, und als gälte die Frage ihm allein. Ohne Aufforderung hat er sich schon beinah erhoben und den Mund aufgemacht, er kann unmöglich übergangen werden. Noch einmal schluckt der Pfarrer, nickt ihm dann zu und wiederholt: »Wenn du so übel daran bist, was tust du dann?«
Und so laut, daß es durch die ganze Kirche schallt, antwortet Valfrid vom Tveholm: »Ich ehre den Verstorbenen!«
Später, sogar während der Feier des Abendmahls, hatte der Pfarrer noch einmal allen Grund, auf Valfrid zu achten. Die anderen Beichtkinder knieten niedergebeugt da und preßten die Hände gegen den Samt der Altarschranken; aber über ihnen erhob sich nackensteif der kurzgeschorene Kopf des Tveholmjungen. Seine seltsam flammenden Blicke suchten quer über die Rundung des Altars hin eines von den weißgekleideten schluchzenden Mädchen. Das Sakrament nahm er entgegen wie die übrigen, aber es sah aus, als bedeute es für ihn alles andere als Sündenvergebung und Einweihung zu christlicher Liebe.