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Es war Bredbys jährliche höchste Festzeit, wenn die Mittsommerstange aufgerichtet wurde, die einige Wochen zuvor niedergelegt, von den traurigen Resten des vorjährigen Putzes befreit und frisch angemalt worden war und nun wieder neu geschmückt wurde. Auf seinen Böcken ruhte der achtzig Fuß lange Mastbaum in nackter Majestät oben auf dem Gipfel des Hügels und wartete auf den Schmuck, der kommen sollte. Aber dicht daneben, in der Getreidedarre von Storgrinda, ging es an den letzten Abenden sehr geschäftig zu. Unter dem schallenden Gesang von Mädchenstimmen wurden frisches Laub und rotgefärbte wollene Troddeln an endlose Schnüre gebunden, wurde dem »Säemann« ein blaugelber Überrock angemalt und die »Sonne« aufs großartigste vergoldet; da wurde der besaitete Bogen der »Harfe« geschmückt, da wurde der Toppwimpel zugeschnitten und beschrieben; da wurden die vier Schiffe auf den Kreuzarmen mit sturmsicher genähten Segeln und kleinen Ketten als Schoten getakelt, während eine Schar von barfüßigen Jungen noch einmal an den Infjord bei Hasselöra mußte, Schilf für die große laternenförmige Krone zu holen.
Das Aufrichten selbst am Johannisabend ging mit vereinten Kräften vor sich, und zwar auf zwei wesentlich verschiedene Arten, je nachdem, wie es mit dem Winde stand. Wehte es kräftig, dann gebot der große Windfang, den die Stange mit ihrem ganzen Schmuck darstellte, äußerste Vorsicht, und die Mannschaft fand sich früh am Abend und in guter Ordnung ein. Herrschte dagegen Windstille, so ging die Festlichkeit sehr häufig mit gewaltiger Verspätung, viel Branntwein und allgemeiner Heiterkeit vor sich.
Heuer war es ein windstiller Mittsommerabend, und die längst versammelten Frauen und Kinder hatten das Warten schon gründlich satt, als endlich das Mannsvolk sichtbar wurde und einige von ihnen mit unsicheren Schritten den Hügel heraufstiegen, bewaffnet mit Taljen, Trossen, Leitern und aus langen Stangen zusammengebundenen Scheren. Zu allerletzt kam der Stangenkapitän, Schiffer Andersson, zum Vorschein, und er sah rein beklagenswert aus; aber kommandieren konnte er wie sonst. Einige Frauen schlugen die Augen ergeben zum Himmel auf, kleine Kinder begannen einen Ringeltanz im Hofe von Storgrinda, dann krachten ein Dutzend Büchsenschüsse, und mit kurzen lauten Zurufen des Stangenkapitäns fing das große Manöver an.
Schon ist es nah an Mitternacht, aber noch immer hat der Mast in seiner steinernen Grube, die größer ist als ein geräumiger Brunnenschacht, nicht richtig Fuß gefaßt. Einer Riesenlanze gleich, mit Siegeszeichen behängt und von der gesamten Manneskraft des Dorfes gehandhabt, zeigt die Stange schief zum friedlichen Sommernachthimmel hinauf, bereit, dessen einzigen bleichen Stern aufzuspießen. Von der Mitte der Stange aus laufen drei steifgeholte Manilataue über den Kopf des Festkochs hin zu den nächsten standfesten Dingen, den alten Ahornstämmen von Storgrinda, und dort im Schatten der Laubkronen wird an den Taljen geholt, wieder losgelassen, abgestoppt und geschrien im Takt nach dem Kommando des Stangenkapitäns.
»Hol steif die Taljen! – Fier die östliche! – Einen Schlag auf die mittlere! – Stopp!«
Vorläufig wird aber doch die schwierigste Arbeit von der Mannschaft unterhalb des schiefstehenden aufgeputzten Riesen geleistet. Da schieben und stoßen die vier Scheren mit Hilfe von zwei Dachleitern, die als Sperren dienen. An jedem Ende der langen Scherenbeine hängen mehrere Männer wie Sklaven, spucken sich in die Hände und keuchen. Das ist nicht nur eine anstrengende, sondern auch eine verflucht peinliche Arbeit, wenigstens für benebelte Augen. Denn es gilt, im rechten Augenblick das schwere Gerät weiterzubewegen, ohne sich in der leichtverletzlichen Takelage um den Mast herum zu verfangen, nämlich in den eine gewaltig große Sanduhr bildenden Laubgewinden, die noch wie ein wallendes grünes Haargewoge herunterhängen.
»Hoch auf die Scheren! – Klemmt mit der mittelsten! – Hoch auf damit!«
»Hoch auf damit!« gellt es als Antwort zurück, und die Stange hebt sich langsam zwei Fuß hoch, aber schief und nur von der östlichen Seite her.
»Stopp, zum Henker, festgehalten die Leitern!« brüllt der Kapitän. »Alle Hagel, haben wir denn lauter Besoffene auf der Westseite? Hinüber ein paar nüchterne Kerle und ihnen geholfen!«
Er hat vollständig recht. Die östlichen Scherenbeine nach dem freien Feld zu bewegen sich sehr taktfest und kräftig, aber die westlichen ebenso ungleich und schlapp. Von einem magnetischen Gesetz angezogen, haben sich die Bezechtesten auf dieser Seite versammelt, und die Besatzung hier zeichnet sich durch häufiges Davonrennen vom Dienst aus. Einmal stehen dort zwanzig Mann, schwankend und berstend vor Lachen, dann nur ein Dutzend, und hauptsächlich junge Burschen. Die Erklärung liegt im Wäldchen nebenan. Vor der Nase von Frauen und Kindern den Flaschenboden hoch in die Luft zu heben, gilt für unanständig, aber dort drinnen zwischen den Bäumen liegt eine glänzende Buddel unter jedem wohlbelaubten Ast, und man macht mit ebenso durstigen Kumpanen fleißig Ausflüge dorthin. Auch der Mannschaft unter den Ahornbäumen leuchtet von der Feuerstelle auf Storgrinda her in der schwachen Dämmerung ein Flammenschein entgegen und meldet: »Hier, Mannsleute, gibt es Kaffee mit Branntwein!«
Auf den Befehl hin gibt es also eine Umgruppierung der Sturmtruppen: auf die Westseite hinüber wird Verstärkung geschickt.
Auf dieser Seite hat der Tveholmer Valfrid gestanden und sich so heftig an einem Scherenbein abgemüht, daß ihm zwei Knöpfe von seinem neuen Konfirmationsanzug abgesprungen sind. Zu Anfang sind es mehrere Männer gewesen, die mit ihm zusammen arbeiteten, aber dann standen plötzlich nur noch zwei da. In der Schar um das entsprechende Scherenbein auf der Ostseite hatte er schon lange den Junker und dessen Onkel mit der glänzenden Borte um die Uniformmütze wahrgenommen, und nun sieht er, daß der Leuchtturmwächter selbst herüberkommt, um hier zu helfen.
Zu dem bequemen, hauptsächlich sitzenden Leuchtturmwächterberuf gehört es, rasch Fett anzusetzen, wovon Starks dunkelblauer Uniformrock schon Zeugnis gibt. Er macht die großen Messingknöpfe des strammsitzenden Kleidungsstückes zu und legt seine ansehnlichen Fäuste an die Schere. Mit geheimem Unbehagen betrachtet er den Jungen neben sich, den er zwar von der Geschichte vor fünfzehn Jahren her nur zu genau kennt, aber nur selten so ganz in der Nähe gesehen hat. Dann sagt er in scherzendem Ton: »Holla, so, du hältst dich an diese Seite? Das kann ich mir denken, ihr Tveholmer gehört wohl auch hierher. Wo hast du deinen Alten? Im Wäldchen drinnen, ha?«
Hinter dem Scherz des Leuchtturmwächters liegt eine durch Jahre aufgespeicherte Bitterkeit, die ihre Ursache in untergrabenem Ansehen hat und in etwas, was er für planmäßige Verleumdung hält. Aber er ist sich dessen selbst kaum voll bewußt, und noch weniger ahnt Valle den Zusammenhang. Die Anrede ärgert ihn aber, und er wäre am liebsten fortgelaufen, bleibt aber doch halsstarrig da und schweigt. Welchen Grund hat Tuvas Vater, so von den Tveholmern zu reden? Nach der Schlägerei von neulich bei der Netzhütte war ihm schon so gewesen, als ob ... Hatte sie nichts gesagt, oder wurde bei ihr daheim der Junker am Ende sogar Tuva selber vorgezogen? Sie hatte ihm doch gedankt ...
Das Unglück will es, daß in diesem Augenblick ein Lachen losbricht, das dem ganzen Dorf bekannt ist; es dringt durch all den Mittsommerlärm hindurch wie ein fröhliches Hundegekläff durch den von hellem Vogelgezwitscher erfüllten Wald, bis es in einem sechzigjährigen Sumpf von Schwindsucht, Branntwein und Tabaksaft ertrinkt: toff, toff, poff! Aus dem Wäldchen heraus torkeln Arm in Arm zwei magere Gestalten. Janne ist der nüchternere von beiden und sieht im Gesicht ebenso vertrocknet wie gewöhnlich aus; die sehnigen Züge gleichen dem braunen Flechtwerk eines Binsenkorbs. Der alte Bussar ist schlimmer dran; wenn sein Kumpan den Zugriff lockert, fängt er an, mit seinen langen, baumelnden Armen in der Luft herumzufahren wie ein schwimmender Schimpanse. Sein verwüstetes Kindergesicht glänzt vor Wonne; aber mitten darin ragt ein rotes Horn von Nase heraus, auf dessen beiden Seiten sich der Schnurrbart spreizt wie eine abgenutzte Lampenbürste, die bereitsteht, dieses blanke Ding zu putzen.
Als die zwei zum Arbeitsplatz gelangt sind, merkt Janne, daß sein Platz an der Schere von einem eingenommen ist, dem er nur ungern in die Nähe kommt; er zieht sich zurück und packt die Sperrleine am Fuß der Stange. Aber der Bussar bleibt in verwirrter Begeisterung stehen, blickt erst einmal nach dem schlafenden Meer hin, wendet dann seine wässerigen Augen gegen den ebenso blaßblauen Himmel, wo die ganze Mittsommerherrlichkeit ihm zu Häupten schwankt. Und er nimmt andächtig den ausgefransten Strohhut ab und wackelt mit dem grauen Schädel: »Schön, verflixt schön! Ach, ach, da kann man gar nicht mehr!«
Für einen Augenblick wendet sich aber die allgemeine Aufmerksamkeit einer andern Seite zu. Lassas-Isak, der dickste Bauer des Dorfes, ist mitten zwischen den Leitern umgefallen. Wie ein Holzpferd steht er auf allen Vieren da und brüllt; aber es glückt ihm nicht, sich aufzurichten. Außerdem hat er den Eimer mit der frischen Vergoldung für die Sonne erwischt und sich den Hosenboden mit der königlichen Farbe angeschmiert, er will damit wahrscheinlich seine Hochachtung für diesen gewaltigen Körperteil bekunden.
»Grausig, grausig, man schämt sich ja zu Tode!« jammern einige gellende Frauenstimmen; und Lassas-Isak wird fortgeschafft unter furchtbarem Gebrüll, die vergoldete Hinterfront nach oben.
Jetzt hat die Mittsommerstange trotz allem den Grad von Schiefe erreicht, wo die Taljen richtig zu ziehen anfangen.
»Holt steif die mittlere! Die anderen mitholen! Festhalten da unten!« kommandiert Schiffer Andersson; und aufwärts geht es im Hui. Schon sind kleinere Steine in den Schacht geworfen worden, jetzt poltern größere Brocken um den Fuß der Stange hinunter. Eine Bockleiter wird herbeigetragen, der Bauer von Storgrinda klettert hinauf, um die drei Faden hohen Stützen um die Stange festzunageln. Aber der beinah viereckige Mann ist zu klein und wagt nicht, auf der wackligen Leiter hoch genug zu steigen. Als er ein gutes Stück über seinem Kopf mit der Rückseite der Axt zu hämmern anfängt, schlägt er immerzu daneben, so daß es um die Nägelköpfe knistert.
»Gebt ihm 'ne Bratpfanne, sonst trifft er doch nichts!« hetzt einer.
Unten steht der Schmied und hält die Leiter. Sonderbarerweise ist er der spindeldürrste Mann im Dorf, aber dafür mit einem haarscharfen Schwertmaul begabt, und da ihm eine Eigenheit des Bauern dort oben einfällt, läßt er nun sein geschmiertes Mundwerk laufen und ruft hinauf: »Ich glaub, du hast die Hosen voll und kannst darum nicht klettern!«
Der Storgrinder schaut auf ihn hinunter, wie etwa ein Eisenklotz eine Nähnadel betrachten könnte. »Nimm dich in acht, sonst kannst du heut abend deinen Kopf unter dem Arm heimtragen!« sagt er schließlich und hämmert weiter.
Aber der Schmied ist jetzt in Schwung gekommen. Erhitzt durch eine seit langer Zeit versteckte Wut, fuchtelt er mit der knochigen Faust in der Luft herum. »Nimm du dich selbst in acht, du Ochsenblase, oder willst du die da kennenlernen? Jedenfalls bin ich nicht der von uns zweien, der seine Knochen zusammenlesen muß!«
»Hört doch nur den verfluchten Schmied!« lacht der Stangenkapitän Andersson. »Gibt's einen von euch, Kinder, der nicht weiß, wie dieser dürre Stecken von einem Mannsbild auf die Welt gekommen ist? Als seine Mutter noch ledig war, ist sie einmal über einen Zaunpfahl gestolpert. Und von dem Unglück her schreibt sich der Schmied.«
»Kinder, Kinder, werdet nur nicht gar zu fein! Was ihr da von euch gebt, ist lauter Mist!« läßt sich der Netzkönig Glad vernehmen.
»Hä-hä-hui-hui!« lacht der Bussar aus vollem Halse, und die Derbheiten laufen weiter in munterem Ringeltanz. Aber mit heller Gutmütigkeit wird hier gegeben und empfangen. In der Johannisnacht ist das Wort frei, und wenn einer ernstlich böse wird, darf er es wenigstens nicht zeigen.
Jetzt steht die Stange völlig aufrecht, mit dem Lot von den verschiedenen Himmelsrichtungen aus geprüft. Um den Fuß her hat sie einen dichten Zaun von Pfählen, die mit zwei waagrechten Querhölzern als Sitz und Lehne beschlagen sind; das gibt wie immer die Schwatzecke für die kommenden Sommersonntage. Eben hat man Hurra gerufen und ein Dutzend feuerspeiende Büchsenmündungen in die Luft knallen lassen, als der Pfarrer langsam den Hügel heraufgewandelt kommt; da flaut der Lärm ein wenig ab.
Pfarrer Rosius ist kein engherziger Feind dieser Johannisfeier, obwohl er zugeben muß, daß sie oftmals einen bedenklichen Anstrich von heidnischen Gebräuchen aus der grauen Vorzeit hat, woher sie auch stammt. Aber liegt nicht auch etwas Schönes, ja fast Unbegreifliches in dieser Treue gegen eine alte Sitte? Geizige Bauern und arme Fischer, die sonst wahrhaftig die Pfennige mit allen zehn Fingern festhalten, opfern plötzlich Geld und Arbeitskraft für etwas, wovon sie nicht den mindesten Nutzen haben, für etwas so vollständig Unnötiges wie eine Mittsommerstange! Wozu? Nur aus Freude daran. Und die Freude soll ihr Recht haben, denkt der Pfarrer, da darf man nicht kleinlich am Anstand festhalten. Laßt nur die Männer sich einmal im Jahr Leib und Seele mit Branntwein spülen – vielleicht schwemmt er einen gärenden Bodensatz weg, der sonst liegenbliebe und Pestilenz verbreitete! Laßt die Hausmütter einmal je nach Lust und Laune lachen oder weinen, wenn sie ihren Mattsson oder Andersson nicht mehr wiedererkennen! Laßt die Kinder tanzen und die Jugend sich austoben, laßt das eine oder andere geschehen – aber geschieht es, daß jemand in wirkliche Not gerät, dann ist meine Stunde gekommen! In einer Welt ohne Beelzebub hat die Erlösung keinen Platz, und es muß erst richtig gesündigt werden, ehe die Gnade niedersteigen kann!
Immerhin kommt der Pfarrer gewöhnlich aus seinem friedlichen Kirchdorf hierhergewandert, sobald ihm eine Ahnung sagt, daß das heidnische Fest einen Punkt erreicht hat, wo ein christliches Einschreiten nichts schaden kann. Und heute hat er es getan im Gedanken sowohl an die heutige Windstille als auch an die morgige Konfirmation.
Pfarrer Rosius ist ein Mann, der mit beiden Füßen auf der Erde steht, und nach einigen Händedrücken nach rechts und links bleibt er stehen und betrachtet die Mittsommerstange. Jawohl, sie sieht aus wie immer, wie immer hebt sie ihren Schmuck da in die Sommernacht hinauf. Zuoberst auf seinem Stängchen der Säemann, das Sinnbild des alljährlichen Saatfeldes. Da drischt er, einen Flegel in beiden Händen, die blaue Luft. Unter ihm hängt der lange Wimpel, der sich gleich einer langen weißen Korkzieherlocke windet mit seiner Inschrift: Johannisfest 1914. Dann die Sonne, nach Osten gewendet mit den heuer wacker vergoldeten Strahlen, die schon in der Vorahnung des Morgen glänzen. Weiter die Kehrichtkiste; was sie bedeutet, weiß niemand mehr, aber sicherlich hat sie etwas mit Musik zu tun – ja, möge diese niemals im Dorf aussterben! Dazu scheint auch keine Gefahr zu sein – aus dem Dorf ertönen von Storgrinda her, wo der Ringeltanz im Gang ist, Geigen, Ziehharmoniken und Gesang in wildem Wetteifer; Gott segne die Jugend! Dann die Schiffe. Eben erhebt sich eine leichte Brise, die Segel dort oben werden lebendig, die Kettenschoten rasseln, und auf ihrem talggeschmierten Kreuzarm fangen die vier Fahrzeuge an, sich langsam im Kreis zu drehen und knarrend nach der Windrichtung zu wenden. Immer schneller surren sie im Kreis, wie sie sicherlich in Hunderten von Jahren um immer neue Mittsommerstangen surrten.
Aber der Pfarrer kommt mit seinem Betrachten nicht weiter auf den Boden herunter. Neben sich hört er einen Lärm, und da steht Ira und starrt mit boshaften Augen zum Himmel hinauf.
Die richtigen Vornamen der Dorfhexe lauten eigentlich Serafia Safira, aber sie wird allgemein nur Ira genannt, was, wie der Pfarrer sagt, ein treffender Name für sie ist, wenn man Latein versteht. In ihrer Jugend hat sie zweimal wegen Kindsmord im Zuchthaus gesessen, und sie ist auch der Schrecken für alle lebendigen Kinder. Sieht man sie von hinten, so erinnert sie an eine gewöhnliche kleine alte Frau mit einem Stock in der Hand. Aber von vorn gesehen kommt die Hexe zum Vorschein. Ihr Gesicht gleicht einer einzigen kribbelnden Schlangengrube, und aus dieser Anhäufung von Bosheit und Laster glimmen zwei haßfunkelnde schwarze Knöpfchen von Augen hervor. Heut ist sie wie gewöhnlich aus ihrem Nest gekrochen, um Gift in den Freudenbecher zu spucken.
»Jagt sie fort! Weg mit dem Pack!« rufen ein paar wütende Männerstimmen; aber niemand mag sich so recht mit ihr befassen.
Ira steht neben dem Pfarrer und starrt zu dem hellen Nachthimmel hinauf, als sähe sie dort anstatt einiger weißer Möwen eine Wolke von Fledermäusen und schwarzen Geistern. Unaufhörlich streckt sie ihre schmutzigen Klauen von Fingern in die Luft und zieht sie wieder an sich, als scharre sie Flüche über das Dorf herunter.
»Woran denkst du, Ira?« fragt der Pfarrer, den Mund nah an ihrem tauben Ohr.
»Ich denk' – ich denk' an all das, was heute nacht hier gesündigt wird«, zischt sie mit gelbem Schaum in den Mundwinkeln. »Völlerei, Unzucht, Sauferei ... Burschen und Mädel durcheinander in Haufen, hui, hui, und der Teufel mitten drin ...«
Der Pfarrer deutet auf das Laubgewinde um die Mittsommerstange, dessen große Ranken ihre Schatten gegen die Luft abzeichnen. »Denk du an deine eigenen Sünden, Ira! Sieh dort die Sanduhr, deine Stunden sind gezählt.« Er erhebt seine Stimme und schreit ihr befehlend in das taube Ohr: »Aber kommst du zum Tanz und störst die Freude der Kinder, dann schlag' ich das Kreuz vor dir und verfluche dich!« Damit dreht er ihr den Rücken und geht.
In Bredby tanzt man nicht um die Mittsommerstange, dazu ist der Boden zu uneben; aber auf dem ebenen Hofplatz von Storgrinda tut man es umso eifriger. Schon lange, ehe die Stange aufgerichtet war, haben die kleinen Kinder damit angefangen, und dadurch blieben ihre Augen von vielem verschont, was nicht für ihr Alter paßt. Allmählich hat sich auch die halberwachsene Jugend dazugesellt, und nun steht schon ein dichter Wall von alten Leuten, die dem Vergnügen zuschauen, um den Platz. Mitten auf dem Hof ist ein Feuer angezündet, kein loderndes Johannisfeuer, sondern nur eine flackernde Glut, um die herum der Ring der Tanzenden im Flammenschein kreist. Drei Geigen kreischen um die Wette, und eine Ziehharmonika mit eingestellten Baßknöpfen brüllt wie ein Stall voll ungemolkener Kühe; zwei Dutzend Stimmen schallen, und die wehenden Röcke der Mädchen geben zuweilen dem Feuer eine Backpfeife, daß die Lohe aufflammt, als wolle sie wegfliegen an einen ruhigeren Ort.
Valfrid tanzt mit Tuva. Erst war er wegen der Worte, die ihr Vater bei der Stange gesagt hatte, etwas zaghaft gewesen, bald aber hatte er beschlossen, es nun gerade zu versuchen; und als er den Leuchtturmwächter ein paarmal unter den Zuschauern erblickt hat, wird er nur umso eifriger. Wäre er etwas älter gewesen, so hätte er vielleicht begriffen, daß sich ein Ritter seinen Lohn wohl auch ertrotzen kann; jetzt aber weiß er nur, daß er ganz wirr im Kopf ist vor Glück, und daß die ganze Welt es sehen soll, wer die zwei sind, die bei diesem Johannisfest am meisten miteinander tanzen. So oft er innen im Kreis an der Reihe ist, fordert er sie auf, und sie sagt niemals nein, obgleich der Junker und einige andere Jungen es ebenso machen, so daß sie schon nah am Umfallen ist. Im Gegenteil, auch sie fordert ihn viel häufiger auf als ihren Vetter, dessen Gesicht allmählich ebenso lang wird wie sein Schädel.
»Komm, komm, wir woll'n nach Åland gehn!« schallt die Tanzweise aus dem immer größer werdenden Kreis, in dem jetzt haufenweise auch die Erwachsenen mitmachen. Tuvas heiße kleine Hände klammern sich fest an Valfrids Hände, um nicht losgerissen zu werden, wenn er sie wild um das Feuer schwingt. Es ist jetzt ein Wettlauf geworden, welches Paar sich am nächsten an die Flammen wagt, und jetzt eben weht ihr Rock so nah daran vorbei, daß es bei jedem Drehen einen kleinen Knall gibt, als bliese man ein Licht aus.
»Traust du dir's auch?«
»Jawohl, weißt du, ich war am Brunnen und hab meine Röcke naß gemacht.«
Jetzt tanzen sie beinah mitten im Feuer und pressen sich die Hände, damit es sie nicht auseinanderreißt. So oft er sie nach außen dreht, flackert der Schein in ihr Gesicht mit dem weitoffenen kleinen Mund und spiegelt sich in ihren lachenden Augen. Die Flammen lodern, die andern Paare erscheinen hinter ihnen nur noch wie vorbeihuschende Schatten, die Umstehenden sind gar nicht mehr sichtbar, und sie hören nur noch die Tanzweise: »Komm, komm, wir woll'n nach Åland gehn!«
Doch plötzlich sieht Valle, wie sich ein taumelnder Schatten aus den anderen löst und hastig auf sie beide zukommt. Ein Arm haut ihre Hände auseinander, hart wie ein Beil, das niedersaust. Tuva fliegt auf den Rasen hinaus, Valle selbst ist nah daran, rücklings ins Feuer zu purzeln.
Vor ihm steht Janne mit verzerrtem Gesicht. »Mit dem Mädel da sollst du nicht tanzen!« brüllt er.
Alles bleibt stehen und schweigt; aber aus der Menge heraus tritt der Leuchtturmwächter und kommt langsam näher. Er versucht, gelassen zu erscheinen, obwohl leicht zu merken ist, daß er vor Empörung zittert. »Was soll das bedeuten?« fragt er amtsmäßig kühl.
»Ich sage, er soll aufhören, mit deiner Krabbe zu tanzen!«
»Ach so, sie ist wohl nicht gut genug für einen Jungen wie deinen – Nichtsnutz da!«
»Er ist nicht mein. Du weißt am besten, wem er gehört, denn du hast seinen Vater ums Leben gebracht. Gerade du, weil du nicht zur Hilfe ausgefahren bist!«
Der Leuchtturmwächter fühlt, wie ihm der Herzschlag stockt, und er ringt schwer nach Luft. Kommt ihm die verwünschte alte Geschichte wieder über den Hals? Und dazu hier und vor den Ohren des ganzen Dorfes ... Aber er sucht sich zu beherrschen.
»Ha!« sagt er mit dicker Stimme. »Willst du uralte Geschichten aufrühren, so laß mich wenigstens in Ruh damit! Dein Bruder war ganz einfach betrunken und ist irr gefahren und erfroren. Er war genau so besoffen wie du jetzt. Das weiß doch jeder, daß ihr Tveholmer ...«
»Du lügst!« brüllt Janne. »Er hat niemals gesoffen wie ich! Das ganze Dorf weiß, daß du Schandkerl lügst!«
Außer sich vor Wut und Branntwein zerstampft er einen Feuerbrand mit dem Absatz. Er ist bereit, sich auf den Feind zu stürzen, und das Dorf macht sich fertig, Zeuge zu sein bei etwas so Seltenem wie einer Prügelei zwischen Erwachsenen. Aber im gleichen Augenblick ist schon der Pfarrer da und dämpft den Sturm.
»Ruhig, ruhig! Daß ihr euch nicht schämt, ihr alten Kerle! Böse Worte zünden nicht, heißt es; aber nun ist Schluß. Übrigens meine ich, die Konfirmanden sollten jetzt heimgehen und sich schlafen legen. Es wird ja schon Tag.«
Die moosgrünen Fensterscheiben im oberen Stock vor Storgrinda blinken wehmütig in der rötlichen Morgendämmerung. Mit dem Arm um Valles Schultern treibt sich Janne fern von den andern planlos herum. Mit hartem Griff hält er den Jungen fest; aber nicht mehr aus irgendeinem väterlichen Machtgefühl heraus, nein, es ist, als wollte sich der Arm nur vergewissern, daß ihm nicht ein Kleinod abhanden kommt, sondern daß es noch da ist und ihm nahe, trotz allem, was geschehen ist. Wenn der Junge einen Versuch macht, loszukommen, drückt er ihn nur noch enger an sich. Zuweilen läuft ein Schauder durch seinen alternden Körper, und es zuckt in dem braunen Geflecht seines Gesichts. Jetzt, wo er plötzlich nüchtern geworden ist, friert ihn, er schämt sich und ist ängstlich. Nicht, daß er sich des Auftritts schämte, den er veranlaßt hat, oder gar bang wäre wegen der Beleidigung, die er dem Stark ins Gesicht geschleudert hat – darin zu weit zu gehen, war unmöglich. Aber was sollte Valle von seinem Wutanfall denken, was von dem allen, was er plötzlich hörte? Es war ja so überstürzt herausgekommen und ihm in einem unglückseligen Augenblick über die Lippen geflossen. Zu Hause hätte es geschehen sollen, das war die Absicht gewesen, feierlich und mit der Bibel auf dem Tisch; und nun ... Janne hat das Gefühl, ein Mann zu sein, der heimlich und während langer Jahre einen schweren Felsblock den Berg hinaufgewälzt hat und, gerade auf dem Gipfel angekommen, ihn nicht mehr halten kann. Jetzt rollt er auf der andern Seite wieder bergab, zu früh, und niemand weiß, wohin. In welche Richtung wird er sausen und wen wird er treffen?
Janne sieht, daß sie jetzt an der hinteren Tür von Sinders Viehstall angekommen sind; in diesem Hof hat Valle bei einem Mitkonfirmanden sein Nachtlager. Janne bleibt stehen, drückt den Jungen noch einmal an sich und läßt ihn dann los. Es ist beinah heller Tag. Ein Pferdehuf scharrt ungeduldig auf der andern Seite der Balkenwand, Möwen fliegen durch die Luft mit ihren drei kurzen Morgenschreien, Hahnengekräh erschallt im Dorf, die Vögel fangen schon zu zwitschern an und lassen in den Baumwipfeln ihr Lied ertönen. Über die blühenden Mehlbeerhecken des Hofes weg ist das Meer zu sehen, das jetzt lebendig wird und sich mit streitenden Brisen für den Wind des Tages einzurichten beginnt. Bald geht die Sonne auf. Von allen Seiten sind Menschen zu hören. Irgendwo singt eine hohe Mädchenstimme. Ein ganzer Knäuel von Jugend lärmt und lacht aus vollem Halse. Zwei betrunkene Männer lallen und weinen und beteuern einander irgend etwas. Und manchmal kommen Leute hier vorbei mit Fliederzweigen und Kastanienblüten auf den Hüten und in den Händen.
»Gut' Nacht, Vater!« sagt Valle sonderbar nachdrücklich. Aber er geht nicht gleich, nachdem er das gesagt hat, sondern zögert, als warte er auf etwas.
Janne lehnt sich mit dem Rücken an die Stallwand. Er schnauft schwer, und mit unsicherer Stimme bricht aus ihm heraus:
»Mein Jung, jetzt weißt du also, daß du nicht mein Jung bist ...«
»Das hab' ich schon vorher gewußt«, antwortet Valle tonlos. »Ich hab' meines Vaters Grab gesehen. Nur wußte ich nicht, daß der Leuchtturmwächter ...«
»Aber jetzt hast du's gehört!« schreit Janne wieder beinah. »Es ist nicht alles Gold was glänzt, Jung. Und als ich schon an der Netzkoje merkte ... und als ich dich wie einen Narren mit seinem verwünschten Balg tanzen sah ... ja, ich war heut abend ganz außer mir. Dies Mädel, siehst du ... Damit sie auf die Welt kam, mußte mein Bruder sterben, der dein Vater ...« Und mit den Fäusten gegen die moosige Wand des Viehstalls hämmernd, aufgeregt und ruckweise wälzt er sich das vom Herzen herunter, was er von seines Bruders Unglücksfahrt und unheimlichem Tode weiß, von der Hilfe der Ankaröer, die niemals kam, und von allem, was später aufgedeckt worden war.
Vielleicht hat Janne erwartet, der Junge werde flammenden Auges aufspringen und in seine Flüche einstimmen. Aber schweigend und ergeben steht Valle an der Hoftür und schaut zu Boden. Alles, was kommt, läßt er auf sein Haupt niederfallen, hier heißt es, duldend hinnehmen, davonlaufen hilft nichts. Er fühlt gar nichts mehr; zuviel auf einmal kommt über ihn. Noch vor kurzem war er so glücklich gewesen. Und dann, als das beim Feuer geschah, war ihm ganz jämmerlich zumut geworden; aber stärker als das Entsetzen über das, was er von Tuvas Vater hörte, empfand er eine glühende Erbitterung gegen den Stiefvater. Nicht nur, weil Janne sich selber und dem ganzen Tveholm Schande machte – es war etwas anderes: es wurde etwas mit harter Hand auf einmal abgehackt. Noch während der Stiefvater ihn hier auf der Landstraße festhielt, war er nahe daran gewesen, sich loszureißen und ihm eins auf den branntweinstinkenden Mund zu hauen. Zum erstenmal im Leben hatte er das Gelüst verspürt, seinen Vater zu schlagen. Er hatte schon begriffen, daß sich ein Riß mitten durch den Tanzplatz aufgetan hatte, der vor einer kleinen Weile so glatt und fest unter den Füßen gewesen war. Aber auf der andern Seite dieses Risses erblickte er Tuvas ausgestreckte Hände, die er so fest in den seinen gehalten hatte, damit sie ihm nicht entglitt. War sie ihm jetzt für immer entglitten? Nein, er wollte, er mußte sie wieder zu fassen kriegen! Und wenn er den Alten totschlagen müßte und ihren Vater dazu – diese Hände konnte er nicht loslassen. So war ihm noch vorhin zumut gewesen.
Jetzt aber merkt er, wie der Riß durch jedes Wort, das der Pflegevater aus sich herauskeucht, breiter und breiter wird. Immer mehr wird er nach der Seite hingetrieben, auf die er doch nicht kommen will. Aber das ist zuviel für ihn, er kann nichts mehr denken, nichts fühlen, er steht nur da und läßt die Unglücksbotschaft in seinen verfinsterten Verstand hineinlaufen wie ein dunkles Fahrzeug in einen dichten Nebel.
Da geschieht etwas. Auf der Straße kommt der Leuchtturmwächter mit Tuva und dem Junker vorbei. Niemand sagt ein Wort, niemand dreht den Kopf, aber gerade vor ihnen steckt das Mädchen seinen Arm unter den des Vetters und schlägt ihm scherzend mit einer Fliederdolde ins Gesicht.
Als sie auf der andern Seite des Hügels verschwunden sind, merkt Janne, daß er allein an der Stallwand steht.
Die Sonne ist nach dieser Johannisnacht schon ein Stück am Himmel aufgestiegen und beleuchtet die menschenleeren Straßen. Sie begrüßt ihr vergoldetes Abbild auf der Mittsommerstange; aber sonst ist alles wie immer, sie sieht nur noch einige traurige Nachwirkungen von dem, was sich im Dorf ereignet hat. Ein wütendes Frauengesicht guckt hinter des Bussars Rollvorhang mit dem schön gemalten Palmenhain hervor; auf einem andern Hof wird vorsichtig ein Spältchen an einer Tür aufgemacht; eine junge Frauengestalt schleicht sich heimlich durch ein Gehölz nach Hause; ein betrunkener Bauer sitzt eingeschlafen auf seiner Hausstaffel; ein Segelboot biegt bei Trutnabben ab und fährt bei günstigem Winde auf den Tveholm zu. In die Gruppe moosbewachsener Bootschuppen am Bysund und die schmalen Wege dazwischen kann die Sonne nicht eindringen. Dort unter einigen der grauen Strohdächer in dem unbeschränkten Paradies der jungen Leute ist das Fest noch jetzt in vollem Gang. Petroleumkocher summen, Kaffee und Branntwein schwappen in den Tassen, fuchtelnde Arme geben hundertmal erzählten Geschichten neuen Nachdruck. Nur wenn die Lügengeschichten des alten Bussar sich in sein Lieblingsland, die Türkei, verlieren, werden sie von Lärm übertönt, und niemand hört zu.
Oberflächlich betrachtet, sieht die Ortschaft aus wie gestern; aber sie ist doch eine andere geworden. In dem verborgenen Gewirr des Schicksals haben sich viele Fäden gerührt, haben sich angespannt oder sind locker geworden, haben sich umeinander geschlungen, sind abgerissen oder haben Knoten geschürzt. Worte sind gefallen, die irgendwo nachhallen, Taten haben andere Taten in Trab gesetzt, Hände, Stimmen und Blicke haben ihr Werk getan. Alte Feinde haben sich bei der Flasche versöhnt, und Freunde sind Feinde geworden. Eine Ehefrau hat beschlossen, ins Wasser zu gehen, eine andere, auszuhalten, eine dritte hat in froher Hoffnung auf ein Erstgeborenes geschlafen. Einige Mädchen haben den ersten Schritt auf dem Weg am Rosenhag getan, von dem sie bisher nur im Liede gesungen hatten; zwei von ihnen haben gefunden, daß das Lied recht hat, zwei andere, daß es eine häßliche, blutige Lüge ist, und einige, die nichts gefunden haben, werden vielleicht im Lauf der Zeit erkennen, daß der Weg am Rosenhag in eine Kate voller Kinder führt und in einen Stall mit nur zu wenig Kühen.
Aber unter einem der sonnenbeschienenen Ziegeldächer liegt ein Junge wach auf einem Schlafsofa. In seinem hastig klopfenden Herzen kämpft ein frischgelerntes Christentum den ungleichen Kampf mit einem wachsenden Haß. Er wirft sich unruhig hin und her und sieht, wie draußen der Morgen strahlt. Heute soll er zum Tisch des Herrn gehen.