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12

»Du siehst erbärmlich aus, Jung, nächstens geht dir dein Schmachtriemen zweimal um den Leib. Wann willst du dich endlich aufraffen? Weißt du nicht, daß der Mensch kann, was er will?« so ließ sich die Großmutter eines Herbstabends gegen ihren Enkel vernehmen. Die tiefsten Furchen in ihrem Gesicht fingen wieder an, sich mit dem gleichmütig-rosigen Fleisch zu füllen. Man ist zu dem geboren, was man ist. Es gibt so unzerstörbar gesunde Naturen, daß sie sich auch von dem siebenundsiebzigsten Schlag wieder erholen, und es gibt andere, deren Leben durch ein einziges Wort oder eine verschwundene Lieblingskatze für immer verdüstert wird. Aber ganz wie früher war die Alte nach all den letzten Ereignissen doch nicht mehr.

Valle antwortete ruhig: Ja, liebe Großmutter, du und noch einige andere sind von dieser Art. Ihr wißt, daß der Mensch kann, was er will. Aber siehst du, es kommt darauf an, ob man genügend stark wollen kann. Das bringe ich nicht fertig.«

Keines von beiden wußte, welche unlösbaren Fragen sie berührten. Die Großmutter atmete tief auf und fuhr fort: »Muß ein verflixtes Land sein, das Norwegen da drüben. Dort war's, wo sich dein Großvater, Gott hab ihn selig, am abscheulichsten mit Hafenschmetterlingen und Seemannsgeiern, und wie sie das alles dort heißen, im Dreck wälzte. Und, und ... ach, du lieber Gott, jetzt ist wahrscheinlich auch Elfrida dort! Aber das muß ich gerechterweise zugeben, daß ihr Norweger kein gefährlicher Kerl war. Gutmütig und freundlich und in allem rechtlich. Er kam nur zu so ungelegener Zeit. Denk dir, wenn ihr Schiff hier untergegangen wäre, bevor Janne Elfrida nahm, damals, als sie eine junge Witwe und noch keine so schreckliche Heulliese war. Er hätte sie getröstet: ›Komm, Herzliebste, komm, komm!‹ ... Oder wenn er erst nach Jannes Tod gekommen wäre. Lauter Freude und Frieden hätt's da sein können! Anstatt daß sie jetzt durchgegangen ist. Ja, ja, Junge, hier auf der Welt will nichts richtig stimmen.«

Valle saß niedergedrückt da und grübelte. Das wenigstens hatte er einsehen lernen müssen, daß hier auf der Welt nichts stimmen will. Wuchs auf einer Seite etwas heran, sofort kam jemand mit Sense oder Axt von der andern Seite daher. Streckte sich irgendwo ein Haken aus, sofort verschwand die Öse dazu. Nichts fand zu dem, was ihm entsprach, nichts durfte gedeihen und so werden, wie es sollte, alles hinkte und ging nicht im Takt. Und das vom Willen: daß der Mensch kann, was er will ... Könnte er jemals an ein anderes Mädchen denken als an Tuva, die sein war in Leid und Lust und unter Gottes freiem Himmel Hochzeit mit ihm gehalten hatte. Aber hatte er sie seit fast zwei Monaten ein einziges Mal getroffen, konnte er überhaupt nach des Stiefvaters hartem Testament je wieder mit ihr zusammen sein? Janne war auf jeden Fall der Mensch gewesen, der ihn Zeit seines Lebens am allermeisten geliebt hatte, und sterbend hatte er gesagt: »Vergiß niemals, Valle, daß du unser Rächer sein mußt!« ... Nachher hatte sich Valle fast zu Tode geschämt, daß er gerade an dem Tag, als seine Mutter durchging und der Stiefvater sich aufs Sterbebett legte, seines Lebens glücklichsten Augenblick genossen hatte.

Da war er wieder entzweigespalten, war einer, der zwei einander ausschließende Dinge zugleich wollte, aber keines von beiden ungehemmt und stark genug. Jannes Röcheln auf dem Sterbebett, und was ihm Tuva nach dem Begräbnis zugeflüstert hatte – wie war das zu vereinen? Ja, was er im Grunde seines Herzens wollte, wußte er vielleicht, aber da lagen schwere und schmerzliche Dinge im Wege. Wenn er doch nie weder einen Vater, noch eine Mutter, noch einen Stiefvater gehabt hätte! Die Toten und die Durchgegangene klammerten sich mit ihren Forderungen an ihn. Er hatte gute Lust, alles abzuschütteln und auf Gewinn oder Verlust geradeswegs zum Leuchtturmwächter und seiner Tochter zu gehen. Denn Tuva liebte er, und jetzt, wo sie sein gewesen war, noch tausendmal mehr. Aber das Vergangene warf ihm fesselnde Taue um die Beine.

Mitten in seinem nutzlosen Grübeln ertönte die tröstende Stimme der Großmutter, ein wenig unklar vor lauter Wohlwollen: »Dafür werd ich sorgen, daß du nicht wie ein Tollpatsch in diesem neuen Ringeltanz dastehst. Den soll lieber der Spitzkopf machen. Ich mein die verwirrte Geschichte mit dem Ankarömädel. Denn das hab ich schon oft genug gesehen, daß es in Teufels Küche führt, wenn die Liebe nicht bekommt, was sie will. Nein, du und das Mädel von Ankarö ... Und, du Barmherziger, dann kommt es endlich zur Versöhnung nach einem lebenslangen Streit! Diese Torheit darf nicht das Leben auch noch im zweiten Glied zerstören, ich meine, es ist wahrhaftig genug mit einem. Ich will die Sache mit dem Pfarrer besprechen, der versteht so was ins gleiche zu bringen.«

»Nein, tu das nicht!« entfuhr es Valle entsetzt.

Er hatte der Großmutter alles bis in die kleinsten Einzelheiten erzählt und gemeint, da sei es gut verwahrt; jetzt aber kam es ihm vor, als ob auch sie der Sache zu einfach und grob zu Leibe ginge. Was wogen Tuvas Händedruck und ihre geflüsterten Worte nach dem Begräbnis gegen alles, was zwischen ihnen stand? Sie hatten sich ja seit zwei Monaten nicht mehr getroffen.

»Ich werd die Sache schon deichseln«, erklärt die Großmutter bombensicher und gähnte zum Gutenacht. »So alt bin ich wirklich noch nicht, daß ich einen jungen Liebeshandel nicht noch ins reine bringen könnte. Sei du ganz ruhig, Jung! Wir haben einen Pfarrer, gegen den der Stark und der Junker und ganz Ankarö nur erbärmliche Stichlinge sind. Und ihn kenn ich. Dein Mädel ist übrigens prima.«

Damit begann die Großmutter ihre erdfarbige dreißig Jahre alte Jacke auszuziehen, und Valle verschwand in der Kammer.

Was, um Himmels willen, hat die Alte im Sinn? fragte er sich, und das Einschlafen fiel ihm schwer. In der letzten Zeit hatte er sich meist bei ihr in Askvik aufgehalten. Die Kuh auf dem Tveholm hatte er geschlachtet, die Schafe auf dem Außenholm mit der ungeschorenen Herbstwolle verkauft. Dann hatte er die beiden Katen sowie das Badehaus und den Schuppen am Wasser verriegelt und sich so gut wie ganz hier bei der Großmutter niedergelassen; nur ein paarmal in der Woche segelte er zu seiner früheren Heimat hinüber. Er konnte es auf dem Unglücksholm allein nicht aushalten.

Wenn er sich aber richtig erforschte, so fand sich vielleicht auch noch ein anderer Grund. Er hoffte auf etwas ... Die Waldwiesen hier drinnen im Lande pflegten im Spätsommer gemäht zu werden, und nicht zum wenigsten von den Ankaröern, die auf ihren eigenen Besitzungen nicht genug Winterfutter hatten. Seit undenklichen Zeiten hatten sie hier unter vielen andern ihre gepachteten Teilstrecken mit eigenen Scheunen.

Ganz Hasselöra gehörte zum Pfarrhof; aber Rosius, der heutige Pfarrer, verlangte fast keine Pacht. Er behauptete kurz und bündig, er selbst habe niemals Bedarf für diese abgelegenen Wiesen. Gerade zu dieser Zeit im Spätherbst pflegten die Mäher nach Hasselöra hinauszuziehen, die Burschen in gestreiften Hemdärmeln und die Mädchen in bunten Kopftüchern. Die ganze Gesellschaft schlief meist in den Scheunen, wo die duftenden und mit Wiesenblumen vermischten Heuhaufen unter den Strohdächern mit jedem Tag höher wurden.

Tuva hatte hier in Askvik eine Verwandte, eine kränkliche, schwerhörige Tante, bei der sie um diese Jahreszeit wohnte, wenn sie zum Zusammenrechen bei der Heuernte tätig war. Sie schlief nicht mit den andern in den Scheunen.

Hatte Valle vielleicht auf dem Tveholm darum alles zugeschlossen und war hierher zur Großmutter gezogen, weil er das wußte? Aber bei allen Heiligen, er würde es nicht sein, der den ersten Schritt täte, um Tuva zu treffen, falls Tuva auch heuer herkäme!

Valle sah viele Mäher ankommen, teils zu Wagen vom Land her, teils in Booten von den Schären, nur Tuva war nicht zu sehen.

Eines Tages aber stand ein kleiner barfüßiger Knirps vor Großmutters Kajütentür mit einem zusammengefalteten Zettel in der schmutzigen Faust. Valle las die mit Bleistift hastig hingekritzelten Krakelfüße:

»Liebster, willst du mich treffen, dann sei heut' abend um elf Uhr an der Scheuer dicht beim Infjord, du weißt, dort hinter den Hainbuchen. Kein Mensch ist in der Nähe. Komm, Liebster!«

Gern hätte er dem Jungen alles Geld, das er hatte, gegeben; doch um Aufsehen zu vermeiden, steckte er den Zettel gelassen in die Hosentasche und sagte kurz: »Ja, gut, geh nur!«

Und um elf Uhr war er dort. Er hatte alle offenen Wiesen und Lichtungen vermieden, hatte sich durch die dichtesten Laubgehölze durchgearbeitet und sich rasch versteckt, wenn er Menschenstimmen in der Nähe hörte. Aber hier am Strande des Infjords war man außerhalb des eigentlichen Heuerntegebiets. Umherspähend und vorsichtig schlich er sich zu der alten Scheune mit dem abgeblühten Hainbuchengehölz dahinter hin. Fast wie ein Verbrecher kroch er heran, bis er sah, daß die Scheunentür weit offen stand und Tuva sich an die moosbewachsene Balkenwand lehnte. Sie erschrak nicht im geringsten, als er plötzlich vor ihr auftauchte, sondern sagte nur: »Ich wußte, daß du kommen würdest. Und jetzt ist niemand hier als wir beide und der Halbmond – sieh, wie rot er dort aufgeht!«

Valle sah nicht hin. Was ging ihn der Mond an und der ganze Infjord mit seinem dichten Schilfrohr und den abendlich ziehenden Enten! Er sah nur Tuva; ein leichter Abglanz vom Abendrot schimmerte in ihren Augen.

Mit ihrer kleinen und doch von der Arbeit recht ausgetrockneten, harten Hand zieht sie ihn in die Scheune, steckt eine abgebrochene Weidengerte durch den Türspalt und hängt damit den Haken auf der äußeren Seite ein. Die Scheune ist halb gefüllt, aber nicht mit gewöhnlichem Heu. Da sind: »Jungfrau-Maria-Bettstroh« mit seinem fast betäubenden Geruch, Margeriten, Storchschnabel, Rainfarn und andere Spätsommerblumen, und ganz besonders das schwach, aber angenehm duftende Strandgras. Er sinkt neben ihr nieder in all das duftende Weiche, atmet durch weitgeöffnete Nüstern ein, was der heiße Sommer an Geheimnisvollstem und Stärkstem gehabt hat, der Sommer, der ungenossen an ihnen vorbeigegangen ist. Aber noch ist es nicht zu spät. Was weiß er noch von dem Tveholm und all dem Elend! Ist es hundert oder mehr Jahre her, seit ein Sterbender ihn zum Rächer erkoren hat? Um Rache zu üben, dazu gehört Haß; aber dieses Gefühl trägt er nicht in der Brust.

Als Tuvas Augen im Dämmerlicht in bodenloser Hingabe immer voller in die seinen schauen und er das Gefühl hat, als dringe er in diese Spiegel hinein und falle durch alle sieben Himmel bis in die tiefste Tiefe der Seligkeit alles Daseins – da weiß er nur das eine: er will das Leben, er will sie.

Er breitet die Arme aus, und in einem Rausch von Düften wird ihr Bund besiegelt.


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