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4

Südlich von der »Morgengabe« lag ein Netzboot, der Setzbord moosgrün und die Reling in hellstem Weiß. Irgendeine hafenähnliche Öffnung zum Hineinkriechen fand sich nirgends an der kugelrunden Schäre, die nur nach Osten ein langes Riff ausstreckte, Kalven genannt, das ungefähr wie ein umgekehrter Kochtopf mit allzu kurzem Stiel aussah. Deshalb hatte sich das Boot einen guten Büchsenschuß vom Strand entfernt vor Anker gelegt. Zwischen dem Mast und dem Heck war es in ein Zelt verwandelt, von der Art, wie es sich besonders anspruchsvolle Leute leisten, statt einfach unter dem ausgebreiteten Segel zu schlafen. Der aufgedickte und mit dem Ruder in einer kräftigen Holzgabel ruhende Großbaum diente als Dachfirst. Darüber war ein Zelttuch gespannt, dessen mit Steinen beschwerte Taschen über den Bootsrand baumelten. Kein Mensch ließ sich sehen, man war unter dem Zelt bereits zur Ruhe gegangen. Nur die breite Lunge des Meeres atmete in einer kaum merkbaren Dünung, die sich langsam in gleichen Abständen hob und senkte. Dann blinkte es auf, und es kam ein klein wenig Bewegung in das weiße Tuch, als würde es von den Atemzügen der Schlafenden da drinnen gehoben.

Zu diesem friedsamen Fahrzeug glitt ganz sachte über die Wasserfläche hin eine Jolle. Niedrig und klein kroch sie in vielen Windungen ihres Wegs, sich immer so gewandt drehend, daß sie stets durch Holme oder Sandbänke gedeckt war. Erst suchte sie Schutz hinter dem Albeerholm, dann hinter Koflytta, Måshällarna, Lekatten; hier hielt Valfrid dann eine Weile Ausschau – kein lebendes Wesen schien drüben an Bord zu sein.

Vor Ankarö mußte er sich am meisten versteckt halten, da wurde oft von der Lotsenwohnung oder von dem Leuchtturm her Ausschau gehalten. Na ja, auf dieser Seite hatte er besseren Schutz, aber auch hier konnte er keine Bewegung wahrnehmen. Der Leuchtturm war übrigens jetzt während der hellsten Wochen gelöscht, darum hielt sich vielleicht niemand im Turm auf.

Nun ging es in nördlicher Richtung weiter, während das bucklige und langgestreckte Töckenland das Herannahen des Kahns verbarg, dann etwas südlich Sälpallen zu, bis die Jolle sich vorsichtig zu den Senkrücken der Mösgrund genannten Sandbank hinschlingerte. Auf einem von diesen kroch Valfrid an Land. Von hier aus war eine offene Strecke bis zur »Morgengabe«, ungefähr eine Seemeile weit, allein noch war die dunkelste Stunde der Nacht nicht gekommen, und so blieb ihm nichts übrig, als zu warten. Er sah auf die Uhr; es war bald Mitternacht, aber in dieser Gegend war es erst gegen ein Uhr am dämmerigsten, das hatte er oft bemerkt. Er streckte sich wie in Schießstellung hinter einer der vielen von den Wogen blankgeschliffenen Steinplatten aus und hielt das Fernrohr ans Auge. Aha, man ließ sich also doch noch herab, mit einem gewöhnlichen Netzboot von Ankarö abzusegeln! Und man legte gerade am Vorabend des Pfingstfestes ein Strömlingsnetz aus – ja, bei dieser Bande gab es wirklich keinen Anstand mehr. Allerdings konnte er ihre Netzzeichen auf dem Wasser nirgends entdecken; aber vielleicht war die Entfernung zu groß, oder sie hatten die Netze irgendwo weiter draußen ausgelegt. Einer Seehundjagd konnte es jedenfalls nicht gelten, so dumm waren sie doch nicht, daß sie sich offen hinlegten und nahe bei einer Bake ein Zelt aufschlugen, das die Seehunde verscheuchen mußte. Und Schüsse an einem Festtag würden doch gehört werden. Übrigens wollte er sich gar nicht wegen irgendeiner Jagd oder eines Fanges mit ihnen auseinandersetzen! Allein wie sollte er nachher vorgehen, wenn die Sache überhaupt glückte? Er schielte einmal nach seiner Büchse, wilde Pläne jagten durch seinen Kopf. Ach, war er denn verrückt? Ins Zuchthaus wollte er doch nicht ...

Jetzt war es allmählich so dunkel, wie es in einer hellen Mainacht überhaupt möglich ist. Er riß ein paar Fetzen von seinem Hemd ab und wickelte sie um die Dollen. Und dann glitt er über die bleiche Seefläche in weitem Bogen nach Norden, tauchte lautlos das Riemenblatt ein und spähte ununterbrochen aus.

Auf der entgegengesetzten Seite der »Morgengabe« kletterte er an Land, hob sein Boot aus dem Wasser und schob es, ohne daß es scheuerte, zwischen zwei Ufersteine hinein. Nichts deutete darauf hin, daß er entdeckt werden konnte, nur der Leuchtturm dort auf Ankarö starrte ihn an, dumm und blind, ohne Feuerschein.

Valle zog die Stiefel aus und schlich auf bloßen Strümpfen hinauf zu der Bake auf dem Gipfel der Schäre. Ihre hohen stummen Holzwände hier an der Nordseite lockten ihn wie ein flimmernder Widerschein der längst untergegangenen Sonne. Jetzt war kein Schneetreiben um die Bake, o nein! Je näher er kam, um so deutlicher fühlte er sich zum Rächer seines Geschlechtes berufen, zu einem Werkzeug in der strafenden Hand der Gerechtigkeit. Er fühlte, daß er vor Eifer bebte. Aber wie sollte es geschehen?

Ganz nah bei der Bake hockte er in einer sandigen Vertiefung nieder. Hier von der Höhe sah er das Netzboot zwei Steinwürfe entfernt liegen; dort unten schaukelte es sacht wie vorher. Wer schlief unter dem weißen Zelttuch? Sicherlich der Leuchtturmwächter, die dicke Kehrichttonne! Vielleicht hatte er seinen verlobten Sprößling bei sich! Oder wenn es der Junker und Tuva wären ... Er überlegte einen Augenblick. Diese Sache berührte ihn nicht, das konnte er beschwören, aber was stand in der Schrift: »… einer, der die Sünden der Väter heimsucht ...« Und in demselben Augenblick wußte er auch, wie er die Sache angreifen mußte. Nicht gewaltsam, nur arglistig wie der Gottseibeiuns selbst.

Einen Augenblick fühlte er sich genarrt von dieser Art der Wiedervergeltung. Er hatte sie sich so ganz anders gedacht. Wie, wußte er nicht, aber härter, auf irgendeine Weise großartiger. Mann gegen Mann hätte es sein müssen; und nun war die einzige Möglichkeit etwas, was wie ein heimlicher Schurkenstreich aussah.

Still, aber sicher würde das Wasser in dem schwer belasteten Boote steigen, bis es auf dem Boden über dem Strohsack stand und dem Leuchtturmwächter die Kehrseite naß machte ... oder vielleicht das Liebeslager zwei heißer Verlobten abkühlte. Schlaftrunken würden sie sich in der Nässe aufsetzen und sich fragen, was denn los sei. Aber zu spät, meine Herrschaften, zu spät, um aus all dem umherschwimmenden Plunder die Pumpe auszugraben! Das Wasser steigt weiter ohne sichtbare Ursache, und die einzige Rettung wäre, die Ankerleine zu schlippen, die Riemen zu packen und das Wrack um das teuere Leben an Land zu rudern. Es würde voll sein und sinken, bevor der Strand erreicht war; aber man würde sich wohl schlecht und recht dennoch auf die Schäre retten. Und dann Notsignale mit einem Hemd, und dann Rettungsmannschaft im Motorboot, und niemand würde ahnen, wie alles zusammenhing. Oder wenn sie es ahnten, um so besser, denn bewiesen werden konnte nichts. Aber, du lieber Himmel, wie würden Bredby und Askvik lachen! Ein Boot, das von selber sinkt, mit einem schnarchenden Leuchtturmwächter an Bord ... Der hochmütige Kerl würde zum Gelächter der ganzen Gegend werden.

Valfrids Augen funkelten schon im voraus diesen Luftschlössern entgegen.

Von hier aus war es am rätlichsten – er legte sich aufs Kriechen. Auf den Ellbogen schlängelte er sich zwischen Heidekraut und Wacholderbüschen vorwärts, langsam und unaufhörlich lauschend. In einem Gebüsch kroch er gerade auf ein Eidervogelnest zu, und einen Meter vor ihm flatterte das Weibchen laut schreiend in die Höhe und übergoß ihre graugrünen Eier mit der glasigen und übelriechenden Schutzflüssigkeit, deren widerwärtiger Gestank ihm in die Nase stieg. Er drückte sich platt in das Gebüsch – war man an Bord aufgewacht? Nein, das Zelt wehte sacht, ebenso friedlich wie vorher.

Also weiter. Noch vorsichtiger kroch er den Hügel hinunter in einer schützenden tiefen Spalte, die er bis an den Rand des Wassers verfolgte, wo die Dünung leise in der offenen Felsmündung gurgelte. Noch einen Augenblick überlegte er. Dann entledigte er sich seiner Kleider und glitt in das maikalte Wasser. Zwischen den Zähnen hielt er sein Klappmesser mit dem großen Bohrpfriemen.

Das Herz schlug ihm wie ein Schmiedehammer gegen die Rippen und trieb das erhitzte Blut durch die Adern; er fühlte die Kälte nicht. Nach einigen lautlosen Schwimmzügen war er beim Boot angelangt. Mit der linken Hand ergriff er vorsichtig das Heck unter der Wasserlinie – es rührte sich nichts. Über seinem Kopf erhob sich das sacht wehende Zelt. Wer schlief da drinnen? Er legte das Ohr an die bauchigen Bretter und horchte. Nichts war zu hören, kein Atemzug von Schlafenden, kein Stiefelabsatz, der sich bewegte. Hätte nicht der Leuchtturmwächter laut schnarchen müssen? Aber es gluckste bei Valles Ohr unter dem Boden des Bootes, und das Herz in seiner Brust vollführte einen solchen Lärm, daß man hätte meinen können, es müsse drüben in Schweden zu hören sein. Vielleicht waren es nur die zwei, die müde nach dem Schäferstündchen allein lagen und Arm in Arm wie Steine schliefen, sein Spitzkopf in ihrem braunen Haargewirr ... Äh, pfui Teufel! – dort hinter den dünnen Brettern, kaum eine Armlänge von ihm entfernt ... Aber sie würden bald abgekühlt werden, so gewiß, wie er jetzt hier war!

Er tastete mit der linken Hand unter dem Heck herum. Ja, hier, ein Stück unter dem Wasser, saß der schräg in den Eichenstamm eingeschlagene Bodenkork – jetzt hatte er den Daumen darauf. Mit der rechten Hand steckte er den Marlpfriemen hinein und drehte ihn rund herum, tiefer und immer tiefer. Leckte es schon? Nein, der Kork in dem Stevenloch war lang und zäh. Er bohrte tiefer und immer tiefer und zog dann den Pfriemen mit einem Ruck heraus. Nun fühlte er ein zitterndes Saugen unter den Fingerspitzen; das Wasser rieselte durch das Loch ins Boot. Noch ein wenig, damit das Loch sich nicht verstopfen konnte. So, jetzt war von dem zerfetzten Korken nicht mehr viel da, und dieses wenige würde bald durch den Wasserdruck weggespült werden. Ade, und Glück an Bord!

Einige Minuten später saß Valfrid in der Jolle, und die lange Heimfahrt begann. Zuerst nahm er den Kurs ins Meer hinaus, durch die hohe »Morgengabe« vor Blicken vom Netzboot und von Ankarö aus gedeckt, bis er annahm, daß hier gegen Südwesten die Dämmerung ihn verbarg. Da wendete er den Steven in spitzem Winkel heimwärts und ruderte, was er konnte.

Ob das Boot dort drüben schon tiefer lag, konnte er nicht sehen, aber er hörte wenigstens keinen Lärm von dort her, wenn er horchte. Es war nicht heller geworden, im Gegenteil. Der Himmel bewölkte sich, weiter droben schien Wind zu wehen, wenn er auch noch nicht bis herunter gedrungen war, und unter der Jolle erhob sich eine südliche Dünung, die zunehmenden Seegang andeutete. Des Rollens wegen konnte er sein Fernrohr nicht benutzen, es war nur auf einer festen Unterlage brauchbar. Na ja, wenn nicht früher, so sah er doch jedenfalls am nächsten Morgen, was sich in der Nacht zugetragen hatte.

Jetzt jagten einige Windstöße daher, fielen gleichsam herunter und legten sich wie dunkle Tuchfetzen auf die wogende Wasserfläche. Im Nordosten, wo die Sonne aufgehen sollte, glühte es durch eine kohlschwarze Wolkenbank hindurch wie von ungenügend gelöschter Asche bei Zugluft. Und im Süden waren lange zerrissene Wolkenstreifen am Himmel aufgestiegen. Die Dünung unter der Jolle wurde immer stärker; er mußte aus allen Kräften gegen die Wellen steuern, wenn er heimkommen wollte, ehe es allzu schlimm wurde. Alles deutete auf ein herannahendes Unwetter, wenn es auch nicht nach Regen aussah. Der Himmel und die Dünung verkündeten Sturm aus Süden.

Das freute ihn über die Maßen. Wenn von dieser Seite schwere See kam, dann würde das Ankaröboot, das südlich von der »Morgengabe« in niederem Wasser lag, an den Strandklippen zerschellen. Und vielleicht war es dann für die Rettungsmannschaft gar nicht leicht, auf der Schäre zu landen und die Schiffbrüchigen zu holen.

Nun mußte die Vorsehung die Höhe der Strafe abmessen – er hatte das Seine getan.


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