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Glas

Glas, Glas,
was ist das?
Es ist und ist nicht,
es ist Licht und kein Licht,
es ist Luft und nicht Luft,
es ist duftloser Duft.
Und doch ist es hart,
ungesehen harte Gegenwart
dem gefangenen Vogel, der es nicht sieht
und den es in die Weite zieht.

Ein Lied möcht' ich dichten vom Glas,
einen Hymnus ersinnen
im Geiste tief innen
vom trockenen Naß.
Es gleicht dem Geist,
des Nichts und Alles sich selber speist.

Auch Glas ist Geist und Körper zugleich.
Der Körper ist hart, der Geist ist weich.
Dein glutgeborenes gläsernes Reich,
gebildet von Schöpferhändefleiß,
ringt mit der nichtigen Unkrautblume um den Preis.

Es funkeln mit Kelchen wie aus Eis
Unkrautblumen wie auf Edens Wiesen,
Blumen in duftlosen Paradiesen:
selig, wer sie zu finden weiß!
Den Schoß ihrer Blüten begattet das Licht,
so daß sie brennend in Liebe beben –
aber Früchte tragen sie nicht.
Ein leises Klingen, ein leises Schweben
ist des Empfängers Wiedergeben.
Eigentlich sind sie selber nicht.
Ist es der Geist, der den Körper baut,
nenn' ich jede von euch seine Braut,
erstanden im Geist, vom Geiste durchflossen,
doch vom brennenden Urquell des Lebens entsprossen.

Und so ist mir ein glühender Kelch bewußt,
mit Purpur gefüllt, mit Leben, mit Lust.
Das Nichts umschließt die lebendige Flut,
und dieses durchdringt und durchglänzt es mit Glut.
Die Seele, das Nichts wird mit Wonnen geletzt,
das Tote mit brennenden Tropfen benetzt,
und im gläsernen Gras, im Gras aus Glas
wird ein seltsam klingelndes Leben geweckt.
Hier zaubert das Glas, hier zaubert das Sein!
Begeistung trinkst du aus Schein und aus Stein!
So will es der Gott – und der Trank heißt Wein.

Glas, Glas,
was ist das?
Es glänzt wie Wasser und ist nicht naß.
Gieß Wasser in ein gläsernes Glas,
klar und rein:
es wird wie Glas im Glase sein.
Und ist es Wein,
dann ist das gläserne Glas voll Farbe und Duft,
und selber, das Glas, ist nichts oder Luft:
eine Form aus Luft, eine Form aus Nichts,
ein leeres, leuchtendes Kind des Lichts.

Wo bist du, Glas? Ich sehe dich nicht,
nur den Strahl, der sich in dir bricht.
Du bist vielleicht nur ein Gleichnis vom Geist,
ein Spiegel, von Bildern und Strahlen gespeist.
Geist hat weder Zeit noch Ort
und ist trotzdem aller Horte Hort.

Rapallo, 4. Januar 1933.


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