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Für einige Augenblicke herrschte Stille im Raum. Der Kommissar las in seinen Notizen. Ursula von Tweel saß auf ihrem Stuhl wie in dem Wartezimmer eines Arztes. In dem breiten Gesicht des Grafen Koska bewegte sich nichts. Elm war in das Studium des Kontoauszuges vertieft.
Noch war nichts geschehen, was unmittelbar auf eine Katastrophe hinführen konnte. Klaus überdachte die Situation: der Kommissar war hinter die Beziehungen Ursulas zu Stefan Rambin gekommen, und er selbst hatte zugestehen müssen, diese Beziehungen gekannt und verheimlicht zu haben. Aber alle Gründe, die er für seine Haltung angeführt hatte, mußten einleuchten. Nur Ursulas Browning und der Schuß beängstigten ihn. Weshalb ließ sie sich alle Tatsachen mühsam entreißen! Auch ihm gegenüber hatte sie sich so verhalten. Wie lange hatte es gedauert, ehe sie eingestand, daß sie den Toten gesehen und durchsucht und ihm die Augen zugedrückt hatte. Und auch dann hatte sie ihm noch nichts von dem Revolver und dem Schuß gesagt. Es war, als ob Schicht auf Schicht ihres Tuns abgehoben wurden. Sie war nicht nur bei dem Toten gewesen, sie hatte nicht nur seine Taschen durchsucht, jetzt stellte sich sogar heraus, daß sie zur gleichen Zeit in jenem Wald einen Schuß abgefeuert hatte und aus einer Waffe, die der des Mörders gleich war. Was würde nun kommen? Wenn nun noch eine neue Schicht abgehoben wurde!
Dabei hatte Klaus den deutlichen Eindruck, daß der Kommissar eine Überraschung bereithielt. Offenbar hatte Weigelt dieser Vernehmung einen genauen Plan zugrundegelegt, und dieser Plan war ihm durch die Verwechslung Ellen Bandlers mit Ursula gestört worden, aber irgend etwas führte er noch im Schilde.
Weigelt beendete die Pause und wandte sich an Klaus. »Welche Kleidung haben Sie am Dienstag getragen, Herr Rambin?«
Er horchte auf. »Meinen gewöhnlichen Anzug, und auf dem Sportplatz natürlich den Turnanzug und nachher den Trainingsanzug. Als ich fortging, habe ich diesen Anzug wieder angezogen.« Er sah an sich hernieder und bemerkte plötzlich, daß er noch den Gehrock trug. »Natürlich nicht diesen Anzug, sondern den grauen, den ich in diesen Tagen immer zu tragen pflegte.«
Der Kommissar sah nach der Uhr. »Wir werden bald wissen, ob Sie die Wahrheit gesprochen haben, Herr Rambin. Ich fürchte, daß Sie am Dienstag ein weißes Sporthemd und Kniehosen trugen. Jedenfalls besitzen Sie doch solche Kleidungsstücke?«
»Natürlich, auf Wanderungen und Ausflügen pflege ich so zu gehen.« Er begriff nicht, worauf Weigelt hinauswollte, und hatte nur das beklemmende Gefühl einer drohenden Überrumpelung.
»Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mir bereits gestern erlaubt habe, Ihre Wohnung aufzusuchen und in Ihren Sachen Umschau zu halten. Augenblicklich sieht sich jemand anders in Ihrem Zimmer um.«
»Sie lassen also bei mir Haussuchung machen!«
»Ganz recht. Ich wundere mich, daß die Herren mit dem Ergebnis noch nicht zurück sind. Nun, wir werden sehen.« Er wollte sich von neuem an Frau von Tweel wenden, die dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, als sich die Tür öffnete und Ellen und Monika eintraten. Alle drehten sich nach ihnen um. Es kam völlig überraschend, daß die beiden jungen Mädchen in ihren schwarzen Kleidern plötzlich in dem Raum standen. Man merkte ihnen an, daß sie selbst in größter Erregung waren. Sie schritten auf den Kommissar zu und blieben unentschlossen auf dem halben Weg stehen.
»Sie sind Fräulein Ellen Bandler«, sagte Weigelt. »Ich sah Sie gestern mit Herrn von Steinhammer im Auto. Und dann haben wir eben ein Bild von Ihnen gesehen.«
Er grüßte Monika, die er von Michaelsbrück kannte. »Was führt Sie hierher, meine Damen?«
Klaus wurde die Situation im Augenblick deutlich: die beiden Schwestern hatten eine Aussprache gehabt, und Ellen hatte Monika klargemacht, daß sie ihre Beobachtungen zu Protokoll geben müßte.
»Wir sind gekommen, um unsre Aussagen zu machen, Herr Kommissar«, fing Ellen an. Monika stand mit verweinten Augen neben ihr. »Meine Schwester hat bisher nicht gewagt zu sagen, was sie weiß.«
»Er ist es nicht gewesen!« brach Monika unvermittelt aus. »Aber er wird alle Schuld auf sich nehmen, um die Frau zu retten!«
»Sie meinen Frau von Tweel?« fragte der Kommissar.
»Ja, Frau von Tweel. Ich weiß, daß er sie retten will.« Plötzlich sprudelten ihre Worte heraus. »Frau von Tweel ist am Freitag bei uns gewesen. Vom ersten Augenblick an wußte ich, daß sie die Schuld hat, und auch Klaus wußte es sofort. Ich habe es ihm angesehen.« Sie stockte und sah sich hilflos unter den fremden Menschen um. Plötzlich erkannte sie Elm. »Herr Elm weiß auch nichts davon, aber ich habe alles mit angesehen.«
Klaus sah zu Ursula hinüber. Die starrte mit entsetzten Blicken auf das junge Mädchen. Selbst in das Gesicht des Grafen Koska kam Bewegung.
»Wir wußten bereits, daß Frau von Tweel am Freitag in Michaelsbrück draußen war«, sagte der Kommissar.
»Aber Sie wußten nicht, daß Frau von Tweel die Schlüssel zu Papas Schreibtisch hatte. Sie hat Klaus die Schlüssel gegeben, und Klaus hat in der Nacht etwas aus Papas Schreibtisch herausgenommen, Briefe oder Papiere, und nun wird er verurteilt werden. Aber sie hat die Schuld. Frau von Tweel hat Papa erschossen!«
Für einige Sekunden hörte man keinen Laut im Zimmer. Alle Anwesenden schienen in ihrer Haltung festgefroren zu sein. Nicht ein Augenlid bewegte sich.
»Aus welchem Grund glauben Sie, hat Frau von Tweel Ihren Pflegevater erschossen?« fragte der Kommissar.
Monika sah Ellen an. »Das weiß ich nicht, aber meine Schwester kann es Ihnen sagen.«
Ellen trat einen Schritt näher. »Ursula von Tweel hat Stefan Rambin erschossen, um den Zeugen ihres Scheidungsprozesses zu beseitigen. Sie hat ihn erschossen, damit ihr neuer Liebhaber, Graf Koska, nichts von ihren Beziehungen zu Stefan Rambin erführe.«
Der Kommissar sah den Grafen an. »Stehen Sie zu Frau von Tweel in engen Beziehungen, Herr Graf?«
Graf Koska erhob sich. Seine Gestalt schien den Raum zwischen den Stuhlreihen und dem Schreibtisch des Kommissars fast auszufüllen. »Frau von Tweel und ich werden heiraten, sobald die Scheidung vollzogen ist«, sagte er mit seiner mächtigen Stimme. »Ich kenne die Vorgänge der letzten Wochen genau. Frau von Tweel ist an dem Tod des Herrn Stefan Rambin völlig unschuldig. Sie hat außerdem zu ihm niemals engere Beziehungen gehabt.« Seine Augen blickten vernichtend zu den beiden jungen Mädchen hin.
»Graf Koska irrt sich«, sagte Ellen mit harter Stimme. »Jeder, der Ursula und Stefan Rambin beobachtet hat, mußte wissen, daß die beiden ein Liebesverhältnis miteinander hatten. Aber Ursula war ihres Liebhabers überdrüssig geworden. Sie versprach sich mehr von Graf Koska, der sehr reich ist und der eine Rolle in der großen Welt spielt. Wenn Graf Koska die Wahrheit erführe, würde er ihr den Rücken drehen. Deshalb durfte er auf keinen Fall etwas von Stefan Rambin erfahren.«
»Für Ihre Behauptungen werden Sie den Beweis schuldig bleiben, gnädiges Fräulein«, sagte der Graf, ging ruhig zu seinem Stuhl zurück und setzte sich.
»Was hat Klaus in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag aus dem Schreibtisch Stefan Rambins herausgenommen?« Ellens Stimme klang hell und scharf durch den Raum. »Ursula hatte ihm Stefan Rambins Schlüsselbund gegeben, damit er mit dem richtigen Schlüssel den Schreibtisch aufschließen konnte. Woher hat Ursula die Schlüssel des Toten gehabt?«
»Wollen Sie sich bitte dazu äußern, Herr Rambin?« forderte der Kommissar auf.
Klaus stützte sich mit der einen Hand auf die Schreibtischplatte. Die Bilder vor seinen Augen verschwammen. »Es ist wahr«, fing er mühsam an. »Ich habe das Schlüsselbund des Toten gehabt. Frau von Tweel hatte es mir gegeben. Sie hat es dem Toten abgenommen, als sie ihn in dem Walde liegen fand und seine Taschen nach Briefen durchsuchte. Frau von Tweel hätte das ruhig gestehen können. Sie hat die Schlüssel in keiner besonderen Absicht an sich genommen.«
»Aber sie hat sie Ihnen in einer besonderen Absicht gegeben?«
Klaus versuchte scharf nachzudenken. Seine nächsten Worte mußten alles entscheiden. »Frau von Tweel hat keine besondere Absicht mit diesen Schlüsseln gehabt. Sie hat sie mir gegeben, um sie los zu sein.«
»Und wozu haben Sie diese Schlüssel benutzt?«
»Ich habe mit den Schlüsseln etwas getan, was Frau von Tweel nicht wissen konnte und womit sie nichts zu tun hat. Ich habe den Schreibtisch meines Onkels nach seinem Testament durchsucht. Mein Onkel hatte ein Testament gemacht, das seine Pflegetochter Monika Bandler zur Erbin einsetzte. Wenn dieses Testament nicht gefunden wurde, fiel mir als dem einziges Blutsverwandten des Toten die Hälfte des Erbes zu.«
Da war es heraus! Mit aller Kraft hatte er die Sätze zu Ende gesprochen. Er schlug die Augen nieder, um nicht die Blicke Monikas und Ursulas auf sich zu fühlen. Er hörte durch das Dunkel die Stimme Weigelts auf sich zukommen: »Sie glauben, mir etwas Neues damit zu sagen, Herr Rambin. Aber seit gestern weiß ich, daß es so war. Haben Sie das Testament gefunden? Fräulein Monika Bandler sagte ausdrücklich, Sie hätten dem Schreibtisch einige Papiere entnommen. War es das Testament?«
»Ja, das war das Testament. Ich habe es vernichtet.«
Monika stürzte auf den Schreibtisch zu. »Das ist nicht wahr!« schrie sie. »Das ist nicht wahr! Er hat nicht das Testament genommen, es war gar kein Testament da. Er hat etwas genommen, was mit Frau von Tweel zusammenhängt. Ich weiß es bestimmt.«
»Beruhigen Sie sich, Fräulein Bandler«, sagte Weigelt. »Es war doch das Testament, das Ihr Vetter entwendet und vernichtet hat. Er hat Sie ganz persönlich bestohlen und betrogen.«
»Nein, nein!« schrie Monika. »Das ist nicht wahr.«
Der Kommissar sah sie ernst an. »Klaus Rambin hat nicht nur das Testament genommen, sondern er hat noch viel mehr getan. Er wußte, daß Sie in einem Vierteljahr von Ihrem Pflegevater adoptiert werden würden. Nicht nur das Testament mußte verschwinden, Stefan Rambin selbst mußte bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag verschwunden sein. Und er hat ihn verschwinden lassen. Klaus Rambin ist am Dienstag vormittag in der Gegend von Bräsikow und Waldberg gesehen worden. Jeden Augenblick erwarte ich den endgültigen Beweis dafür. Klaus Rambin und Frau Ursula von Tweel, geborene von Steinhammer, haben sich zusammengetan, um gemeinsam den Mann umzubringen, der ihnen beiden im Wege stand.«
Weigelts Stimme war immer ruhiger geworden. Er hatte die Worte nicht herausgeschmettert, sondern fast leise vor sich hin gesprochen, aber gerade dadurch wirkten sie mit einer unerhörten Wucht. Plötzlich sank Monika in sich zusammen. Es gab einen harten Fall, und sie lag am Boden. Ellen und Gras Koska sprangen hinzu und hoben sie auf. Der Polizeibeamte, der bis dahin unbeweglich in der Ecke gestanden hatte, nahm sie wie ein Kind auf den Arm. »Ins Nebenzimmer!« ordnete der Kommissar an. »Dort ist jetzt niemand. Die Sanitätswache soll eine Tragbahre bringen.« Er machte die Tür auf und rief hinaus. Alle waren um Monika beschäftigt, die leblos, von zwei Beamten gestützt, auf zusammengestellte Stühle gelegt wurde.
Klaus hatte sich nicht zu rühren vermocht. In seinen Ohren klangen noch immer die furchtbaren Worte Weigelts. Zwei Sanitäter kamen mit der Bahre herein. Monika wurde ins Nebenzimmer getragen. Wie eine Tote sah sie aus. Ein Stöhnen entrang sich Klaus' Brust. Ich habe Ursula gerettet, dachte er noch einmal, aber er konnte seine Augen nicht von dem blasses Gesicht abwenden. Plötzlich wußte er, daß Monika für ihn zu Michaelsbrück gehört hatte. Sie und Michaelsbrück, das war dasselbe gewesen. Aber nun waren alle Träume ausgeträumt.
Die Tür zu dem Nebenzimmer wurde leise geschlossen. Auf einmal sah der Raum wieder aus, wie er vorher gewesen war. Der Kommissar hatte seinen Platz eingenommen. Sie standen oder saßen alle herum, wie es gewesen war, bevor Monika umfiel. Weigelts letzte Worte hingen noch in der Luft: ›Klaus Rambin und Ursula von Tweel haben sich zusammengetan, um Stefan Rambin umzubringen, der ihnen beiden im Wege stand!‹
Ehe der Kommissar von neuem das Wort ergreifen konnte, stand Ursula von Tweel plötzlich vor ihm. »Ich will die Wahrheit sagen. Klaus hat nicht das Testament seines Onkels genommen. Er wollte mich nur retten. Ich selbst habe ihn gebeten, bestimmte Briefe von mir, die in Stefan Rambins Schreibtisch lagen, zu suchen und mir zu geben. Diese Briefe belasteten mich schwer. Sie waren zu einer Zeit geschrieben, als ich Stefan Rambin zu lieben glaubte. Klaus hat mir gestern die Briefe, die er aus dem Schreibtisch seines Onkels herausgenommen hat, zurückgebracht und sie dann vernichtet.«
»Wollen Sie nun Ihrerseits Klaus Rambin retten?« fragte der Kommissar. »Es ist zwecklos, gnädige Frau.«
»Ich will niemanden retten, aber ich will kein Opfer annehmen.«
Klaus sah sie entsetzt an. Jetzt war sie verloren. Ellens Stimme kam durch den Raum: »Vielleicht überlegt sich Graf Koska, was in den Briefen gestanden haben mag. Diese Briefe bewiesen, daß ein Liebesverhältnis zwischen Ursula und Stefan Rambin bestand.«
Graf Koska trat auf Frau von Tweel zu. »Was sagst du dazu? Hast du jemals solche Briefe an Stefan Rambin geschrieben?«
Sie antwortete nicht, sondern neigte nur ihren Kopf und blieb in dieser Haltung vor dem mächtigen Mann stehen.
Ellen sprach weiter: »Sie hat nicht nur diese Briefe geschrieben, sie hat Stefan Rambin auch nach ihrer Scheidung heiraten wollen. Sie wollte diese wundervolle Besitzung am Scharmützelsee kaufen und dort mit ihm leben. Das war alles besprochen. Jetzt kann ich es sagen. Stefan Rambin selbst hat es mir anvertraut. Er liebte diese Frau abgöttisch. Er hat mir sogar einen Teil der Briefe zu lesen gegeben, die sie ihm geschrieben hatte. Und in diesen Briefen war ständig von ihrem späteren gemeinsamen Leben die Rede. Das alles kann ich beschwören.«
»Ist das wahr, Ursula?« fragte der Graf.
Ursula stand noch immer mit geneigtem Kopf vor dem Schreibtisch. »Ja«, sagte sie leise.
Graf Koska drehte sich schweigend um und ging zu seinem Platz zurück. »Ich möchte bemerken, Herr Kommissar, daß ich nur noch an der kriminellen Seite des Falles interessiert bin und mit meinen Aussagen zur Verfügung stehe.«
»Es ist doch alles anders gewesen!« brach Ursula los. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Ich habe doch Stefan Rambin nicht geliebt. Er tat mir nur immer so furchtbar leid, und ich habe mich zwingen wollen. Ich paßte doch nicht zu ihm. Es war, als wenn er mich in seinem Bann hielt. Ich war wie gefangen bei ihm. Deshalb wollte ich ja die Briefe zurückhaben, denn sie waren nicht wahr. Ein andrer Mensch, der nicht ich war, hatte sie aus mir geschrieben. Wenn ich ihn hätte lieben können, dann wäre ja alles anders gekommen. Dann wäre ja alles gut gewesen. Und jetzt ist alles zu Ende!« Sie sank auf den Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Der Kommissar schwieg und blätterte in den Papieren. Man hörte nur das leise Knistern der Bogen und Ursulas unterdrücktes Schluchzen. Ellen stand ratlos da, Klaus lehnte sich gegen die Wand und schloß die Augen.
Die Tür tat sich auf, und Herr Owelgaß kam herein.