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Sie standen in Stefan Rambins Arbeitszimmer. Die Mitte des Raumes nahm der mächtige Schreibtisch ein, auf dem stets eine musterhafte Ordnung herrschte. Aus dem Winkel blickte ernst eine weiße Goethebüste. Monika hatte sich neben den Apparat gestellt, um zur Stelle zu sein. Alle drei wußten, daß die Ereignisse jetzt abrollen würden. Was eben noch wie eine unbestimmte Bangigkeit drückte, hatte durch Klaus' Worte drohende Gestalt angenommen. Agathes Gesicht schimmerte bleich in dem Halbdunkel des Raums, dessen Fenstervorhänge seit drei Tagen zugezogen waren.
Zwei Minuten später schrillte die Glocke des Fernsprechers. Die Bank meldete sich. Monika fragte nach Herrn Elm. Elm war in wenigen Sekunden zur Stelle.
»Herr Elm? Hören Sie, Herr Elm, Papa ist seit Dienstag fort. Er wollte ein Gut besichtigen. Können Sie mir sagen, ob er Geld mitgenommen hat?«
Die andern warteten schweigend. »So!« rief Monika einige Male am Telefon und wiederholte: »So! – Also Papa hat einen beglaubigten Scheck über sechzigtausend Mark mitgenommen? Ist dieser Scheck schon vorgekommen?« Wieder mußten sie eine halbe Minute warten. Elm erkundigte sich offenbar. Endlich merkten sie an Monikas Gesicht, daß sie wieder hörte. »So!« wiederholte sie. »Der Scheck ist also vorgelegt worden und ausgezahlt. Das ist ja eine schöne Geschichte!« Sie sah sich hilflos um. Klaus nahm ihr den Hörer aus der Hand.
»Hören Sie, Elm. Hier ist Klaus Rambin. Sie müssen gleich einmal feststellen, wer den Scheck vorgelegt und das Geld in Empfang genommen hat.«
»Da muß ich mich erst erkundigen«, sagte Elm auf der andern Seite. Es dauerte diesmal ewige Minuten, bis er zurückkam. Der Scheck ist gestern von Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld vorgelegt worden. Derselbe Mann hat das Geld ohne weiteres ausgezahlt bekommen.«
»Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld? Wer ist denn das?«
»Keine Ahnung!«
»Und wo liegt Lengenfeld?«
»Weiß ich nicht.«
»Und da zahlt Ihre Bank einem wildfremden Menschen sechzigtausend Mark aus?«
»Einen Augenblick.« Wieder mußte sich Elm erst erkundigen. Nach einer halben Minute kam er zurück. »Herr Rambin hat selbst, als er sich den Scheck beglaubigen ließ, gesagt, daß das Geld an einem der nächsten Tage von einem Gutsbesitzer abgeholt werden würde. Auf diese Weise hat man das Geld natürlich ausgezahlt.«
»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Klaus. »Ihnen auch nicht? Und auf wessen Namen ist der Scheck ausgestellt?«
»Auf den Güteragenten Eduard Frisch in Berlin SW 61.«
»Dann muß man also diesen Eduard Frisch anrufen können. Können Sie mir seine Nummer geben?«
Es dauerte wieder eine Weile, ehe Elm antwortete. »Warten Sie einen Augenblick!« rief er. »Es wird nachgesehen. – So! Sind Sie noch da? Wir finden keinen Güteragenten Frisch, weder im Fernsprechverzeichnis, noch im Adreßbuch.«
»Das ist ja eine tolle Geschichte!« Er hängte ab und drehte sich zu den beiden Frauen um. »Habt ihr gehört?«
Monika notierte die Namen auf dem Schreibblock. »Gutsinspektor Kurt Arndt aus Lengenfeld und Eduard Frisch in Berlin SW 61.« Sie sahen sich verwirrt in dem Raum um. Klaus schlug den großen Handatlas auf, der auf dem runden Ecktisch lag, und suchte in dem Verzeichnis. »Lengenfeld 17/18 E 3«, fand er. »Das ist nicht weit von hier.« Er wollte die Karte der Provinz Brandenburg aufschlagen. Der schwere Band öffnete sich sofort an der richtigen Stelle. »Was ist denn das?« In dem Buch lag noch eine besondere Karte.
»Ah«, rief Klaus, »ein Meßtischblatt 1:25 000, hier haben wir es! Da liegt Lengenfeld, nicht weit von Oranienburg. Seht einmal an!«
Sie beugten sich mit ihm über das Blatt. Es zeigte eine ländliche Gegend. Ein Weg, der von einer Bahnstation her durch einen großen Wald führte, war mit Bleistift bezeichnet. »Seht her, hier hat jemand den Weg nachgezogen. Er geht durch den Wald, dann liegt hier das freie Feld, und dort Dorf und Gut Lengenfeld. Und da geht es nach Bräsikow ab. Also Lengenfeld. Wir müßten Gut Lengenfeld anrufen.«
Monika sah in dem Verzeichnis nach und meldete das Gespräch an. Die Minuten drückten. Diesmal dauerte die Verbindung eine Viertelstunde. Sie sprachen kaum miteinander. Agathe hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. »Klaus hätte gestern kommen müssen!« dachte Monika und sah ihm zu, wie er das Kartenblatt studierte. Endlich meldete sich der Apparat. Monika reichte Klaus den Hörer. Die Frauen hörten gespannt zu. Nach seinen Worten konnten sie ungefähr dem Gang der Unterhaltung folgen. Das Gespräch dauerte lange. Immer wieder wollte Klaus noch etwas wissen, aber schließlich hängte er ab und sah die Frauen an. Er war bleicher geworden.
»Merkwürdig!« sagte er. »Habt ihr gehört? Herr von Berlepsch-Lengenfeld hat in der Tat einen Inspektor Kurt Arndt. Seines Wissens hat derselbe aber seit Sonntag den Gutsbezirk nicht verlassen. Und das Gut ist auch nicht zum Verkauf gestellt. Herr von Berlepsch weiß von keinem Agenten, den er beauftragt hätte. Ein Mann namens Eduard Frisch ist ihm unbekannt, und auch den Namen Rambin kennt er nicht. Was nun?«
Sie schwiegen. Klaus ging mit großen Schritten auf und ab. Endlich sprach Monika das Wort aus, vor dem sie alle Angst hatten: »Wir müssen die Polizei anrufen!« Ihre Stimme lag schwer in der Luft und beschwor die gräßlichen Bilder von Untersuchungen, Verhören, Verhaftungen.
»Ich möchte erst selbst nach Lengenfeld fahren«, sagte Klaus. Er maß die Strecke auf der Karte ab. »In anderthalb Stunden könnte man im Auto dort sein.« Rambins besaßen kein Auto. Michaelsbrück lag bequem an der Bahn. Klaus pflegte seinem Onkel eine besondere Fertigkeit darin nachzusagen, im Bedarfsfalle die Autos seiner Bekannten und der Dienststellen, mit denen er arbeitete, zu benutzen.
Agathe erhob sich schwer von ihrem Sessel. »Ja«, sagte sie, »wir wollen nach Lengenfeld fahren. Du könntest ein Auto bestellen, Monika.«
Monika suchte in dem Verzeichnis nach einem Mietauto und bestellte es. »Ich möchte mit«, bat sie, aber Klaus widersprach: »Einer muß hierbleiben. Man weiß doch jetzt gar nichts. Am liebsten würde ich allein fahren.«
Agathe wollte in jedem Fall mitfahren. »Ich würde es nicht aushalten, hier zu warten.« Ihr Gesicht war völlig blutleer. Die beiden sahen sie besorgt an.
»Und ich soll hierbleiben?« fragte Monika beklommen.
Klaus nickte. »Du könntest auf dem Schreibtisch nachsehen, ob sich nicht irgendeine Notiz findet. Irgendwo muß doch die Adresse dieses Eduard Frisch aufnotiert sein. Aber wahrscheinlich hat er einen falschen Namen angegeben. Mach auch all diese Briefe auf und siehe sie durch.« Auf dem Tisch lag die Post von drei Tagen.
»Die Post aufmachen?« Monika schauderte zurück. Das war, als wenn Papa schon tot wäre.
»Man kann vielleicht einen Hinweis darin finden.«
»Du glaubst, daß dieser Eduard Frisch es getan hat?« fragte Agathe. Die Worte blieben drohend in der Luft hängen: ›es getan hat!‹
»Man muß es ins Auge fassen«, erklärte Klaus. »Wahrscheinlich ist dieser Mann kein richtiger Agent. Das Gut Lengenfeld steht ja gar nicht zum Verkauf. Dieses angebotene Gut war nur ein Vorwand, um Onkel Stefan mit einer größeren Summe in eine entlegene Gegend zu locken.«
Agathes Augen hingen an seinem Mund. Seine Ausführungen waren von einer furchtbaren Wahrscheinlichkeit. Monika starrte noch immer auf die Karte, die unheildrohend in dem Atlas lag. »Da liegt noch ein Gut Bräsikow«, sagte sie. »Vielleicht ist es das?«
»Da liegen noch viele Güter!«
Draußen gab das bestellte Auto Signal.
Sie gingen in die Diele und machten sich zu der Fahrt fertig. »Haben Sie eine Wegekarte?« fragte Klaus den Schofför. »Wir müssen über Oranienburg fahren.« Der Mann wußte Bescheid, er kannte sogar das Gut Bräsikow, das in der Nähe von Lengenfeld lag. Sie stiegen ein, der Motor sprang an.
Monika sah ihnen von der Veranda nach, lief durch den Vorgarten und bog die Zweige der Hecke auseinander. Als der Wagen hinter der Biegung verschwunden war, kam eine furchtbare Bangigkeit über sie. Sie ging langsam zurück, besorgt, daß die Dienstboten sie beobachten könnten, berührte die Rosensträucher mit den Händen, als ob sie sich dadurch beruhigen könnte, und ging um das Haus herum. Irgend etwas ist geschehen, fühlte sie. Plötzlich sauste es aus der Luft hernieder, etwas Unheimliches, Grausiges, etwas, wovon man in Büchern las. Und nun brach es in ihr Leben ein, in dieses Haus, in dieses Sägewerk, in dem die Kreissäge schnarrte und die Maschinen ratterten und die Männer auf dem Holzhof ihr »Hoi-hupp« riefen.
Ganz langsam umging sie das Haus, schaute jedes Fenster an, sah in den Garten, wo hinten der Gärtner die Geranien aufband und zwei Frauen die Erdbeerbeete jäteten. Ihr war, als müßte sie den Ausgangspunkt der furchtbaren Geschehnisse irgendwo entdecken können. Sie stand unter dem breiten Schiebefenster des Eßzimmers und sah über den Holzplatz und den See. Ihre Augen suchten das Bootshaus, das ihr irgendwie mit dem Glück ihres Lebens verbunden schien. Sie drehte sich langsam um und ging in den Stall. Die beiden Gespanne waren draußen, nur in der Box stand ihr Schimmel, den »Papa« ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Sie ging zu dem Tier hinein, streichelte die sammetweiche Haut über der Schnauze und drückte ihre Lippen darauf, fühlte das Klopfen des Blutes in den Adern. Aber auch das gab keine Beruhigung. Immer fühlte sie das Furchtbare hinter sich.
Sie ging hinaus und in das Haus zurück. Auf dem Schreibtisch lag die Post, die sie durchsehen sollte. Sie wagte sich nicht auf den Schreibtischsessel zu setzen, sondern rückte einen gewöhnlichen Stuhl herbei. Sie suchte in den Kalendernotizen, ohne etwas zu finden, und dann öffnete sie beklommen die Briefe. Aber auch ihnen war nichts zu entnehmen. Eine Bankabrechnung war dabei, die sie nicht verstand. Sie besah sich die Fotografien, die aufgestellt waren. Da war Mutti, die eigentlich gar nicht ihre Mutter war, und sie selbst im Tenniskleid mit dem Schläger in der Hand. Tom, der Windhund, saß vor ihr und blickte zu ihr empor. Seit vierzehn Tagen war Tom tot, und man hatte noch keinen neuen Hund gekauft. Vielleicht hätte man längst einen neuen Hund besorgen sollen. Es fehlte da ein Wächter, und nun war gleich dieses Furchtbare eingetreten.
Sie schlenderte in den Salon hinüber, wo der Flügel stand, und schlug einige Akkorde an. Die Töne zitterten in dem Raum. Sie horchte ihnen nach. Nun würde das alles hier aufhören, fühlte sie. Mit Stefan Rambin war Michaelsbrück für sie verloren. Klaus würde herausziehen, da das Sägewerk nicht ohne Herrn bleiben durfte. Klaus, mit dem sie schlecht stand. Sie saß vor dem Flügel und ließ den Kopf sinken.
Die Köchin kam und fragte, was mit dem Mittagessen werden sollte. Monika wollte nichts essen. »Später, wenn die andern zurück sind!« Das Mädchen sah sie verwundert an. »Was ist eigentlich los?« Monika antwortete nicht. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und ging ans Telefon. Seit einer Viertelstunde wußte sie, daß sie es tun würde. Nur nicht weiter in diesen Räumen warten! »Die Polizei, bitte!« rief sie in den Apparat hinein. Das Fräulein verband sie richtig. Eine Männerstimme antwortete. »Hier Rambin, Sägewerk Stefan Rambin. Es ist etwas geschehen. Könnte vielleicht jemand herauskommen?« Sie ärgerte sich über ihre unbeholfene Ausdrucksweise. Klaus hätte anders gesprochen.
»Was ist geschehen, ein Diebstahl oder Einbruch?« fragte die Stimme zurück.
»Nein, ich möchte Ihnen das am Telefon nicht sagen.«
»Aber Sie müssen doch etwas angeben!«
»Jemand ist seit drei Tagen verschwunden. Es muß ein Detektiv kommen, oder wer das bei Ihnen macht.«
»Der Kommissar wird kommen!« sagte die Stimme auf der anderen Seite.
Sie hängte ab und ging unruhig durch die Zimmer, ein wenig befreit, daß nun wenigstens etwas veranlaßt war. Sie trat an den Bücherschrank und las mit halblauter Stimme die Büchertitel. Ich möchte lesen, dachte sie, aber sie wußte, daß sie keine Ruhe haben würde. In zehn Minuten mußte der Kommissar kommen, oder wer es war. Sie besann sich auf Detektivgeschichten, die sie gelesen hatte. Gleich also würde ein Mann hereinkommen, würde einen Blick über das Zimmer und über den Schreibtisch werfen und sofort irgend etwas Kluges und Aufschlußreiches sagen.
Plötzlich ging die Klingel an der Haustür. Das konnte unmöglich schon der Mann von der Polizei sein. Sie versuchte, von der Seite durch das Fenster in die Veranda zu sehen. Eine Dame stand draußen. Monika sah ein beigefarbenes Straßenkleid und einen roten Strohhut auf dunklem Haar. Wer ist das? dachte sie nochmals und ging die Reihe der ihr bekannten Damen durch. Irgendwer aus Berlin? Das Mädchen kam und meldete eine Dame. Den Namen hätte sie nicht verstanden.
»Will sie mich sprechen?« fragte Monika.
»Herrn Rambin oder die gnädige Frau. Es wäre ihr gleich«, sagte das Mädchen.
»Dann bitte.«
»In den Salon?«
»Ja, in den Salon.«
Monika ging an dem Spiegel vorüber, warf einen Blick hinein und wartete, bis drinnen die Tür ging. Dann trat sie ein. Ist die schön! war ihr erster Gedanke. Da stand eine große schlanke Gestalt. Das Gesicht ein wenig stolz und ein wenig lieblich. Monika wußte nicht, ob es eine Frau oder ein junges Mädchen war, und wunderte sich, daß sie das nicht entscheiden konnte. Die junge Dame trat mit einem etwas verlegenen Lächeln auf sie zu und nannte einen Namen, einen adligen Namen, den Monika nicht verstand.
»Bitte«, sagte sie und lud die Dame durch eine Handbewegung ein, Platz zu nehmen. »Meine Eltern sind leider beide nicht da.«
»Das tut mir leid«, sagte die Dame, »übrigens wollte ich nichts Besonderes. Ich hatte hier zufällig in Michaelsbrück zu tun und kam an dem Haus vorüber. Ich kenne nämlich Ihren Herrn Vater von Berlin her. Ich hätte ihm gern guten Tag gesagt.«
»Papa ist für einige Tage verreist, und Mutter ist gerade mit dem Auto weggefahren. Sie wird am Nachmittag zurückkommen. Darf ich etwas ausrichten?«
»Nein, danke. Herr Rambin ist also verreist?« Lag ein besonderer Klang in dieser Frage oder waren Monikas Nerven nur überreizt? Sie hörte etwas wie gellenden Hohn heraus. Aber da saß eine gut angezogene Dame mit höflichem Lächeln ihr gegenüber. »Dann grüßen Sie, bitte.«
»Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
»Ursula von Tweel.« Die Dame stand auf und reichte Monika die Hand.
Monika brachte sie bis zur Veraada. Vor der Tür stand der Kommissar und wollte gerade den Klingelknopf drücken. Einen Augenblick durchfuhr sie der Gedanke, die fremde Dame zurückzuhalten und vernehmen zu lassen, aber sie schämte sich, grüßte und ließ den Kommissar eintreten. Die Dame ging langsam den Weg hinunter zur Chaussee. Monika sah ihr nach. Während sie hineingingen, fing sie an, zu erzählen.