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15

Sie gingen langsam auf die Linde zu. Klaus' Gedanken weilten bei Stefan Rambin. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber. Immer war Stefan Rambin dagewesen. Er sah ihn bei Tisch sitzen, das Gespräch beherrschend, die hohe, gerade Stirn unter dem weißen lockigen Haar, die großen grauen Augen. Er sah ihn über den Holzhof gehen und neben der Kreissäge stehen. Immer näherte sich der Werkmeister mit abgezogenem Hut, wenn Stefan Rambin kam. Lange Gespräche fielen ihm ein, die sie am Nachmittag auf der Veranda gehabt hatten, mit der versteckten Gegnerschaft in der Stimme. Und jetzt lag Stefan Rambin hier mit entstelltem Gesicht im Walde, und der Arzt schnitt an ihm herum. Vielleicht hatte er noch die Linde im Auge gehabt, als die Kugel ihn traf. Die Linde, bei der Ursula ihn erwartete!

»Wie haben Sie eigentlich gestern den Toten aufgefunden?« fragte Weigelt den Inspektor.

»Ich habe die ganzen Tage umhergesucht«, sagte Arndt. »Ich dachte mir, daß ich die Leiche doch irgendwo finden müßte.« Ich habe auch noch einmal die Gegend bei dem Teufelsgrund abgesucht, und schließlich bin ich hier in den Jagen hineingeritten, und da fand ich sie.«

»Von welcher Seite sind Sie gekommen? Von Lengenfeld her oder von Waldberg?«

Der Inspektor zeigte nach hinten. »Dort von Lengenfeld her.«

»Merkwürdig«, sagte der Kommissar und bat die Herren, an den Waldrand zu treten. »Hier ist nämlich auch jemand geritten.« Er kniete auf der Seite des Weges nieder und bog die Halme auseinander. »Hier ist ein Reiter gekommen und wieder zurückgeritten. Ich dachte, daß Sie es gewesen wären. Für wie alt halten Sie die Spur?«

Die Herren beugten sich über den Boden. Weigelt zeigte ihnen die Abdrücke der Hufe. »Hier ist er hergekommen«, sagte er, »und hier ist er zurückgeritten.«

»Wie alt die Spuren sind, ist schwer, zu sagen. Sie können zwei oder acht Tage alt sein.«

Frau von Tweel! dachte Klaus wieder. Nun war alles klar. Ursula hatte nach Stefan Rambin gesucht und war in des Jagen hineingeritten. Dort mußte er von der Station Lindenberg herkommen. Dann hatte sie den Toten gefunden, ihm die Blumen auf die Brust gelegt und das Schlüsselbund an sich genommen.

Weigelt kniete noch immer am Boden. Plötzlich hob er den Kopf. Sie hörten das Knarren von Rädern und das Prusten von Pferden. Durch die Schneise kam ein Jagdwagen gefahren. Die Pferdeköpfe nickten mit klirrenden Kandaren. Die Tiere hatten in dem Sand schwer zu ziehen. »Das ist der Bräsikower«, sagte Herr von Berlepsch. »Ich habe Herrn von Steinhammer benachrichtigt.« Der Wagen näherte sich. Auf dem Bock saß ein livrierter Kutscher und im Innern der Herr, der Klaus gestern auf der Tribüne in Karlshorst gesehen hatte. Herr von Steinhammer stieg aus und kam auf sie zu. Ursulas Vater! Mit dem breiten braunen Filzhut auf dem Kopfe sah er jünger aus als gestern unter dem Zylinder. Auch seine Bewegungen waren betont jugendlich. Er hatte Ursulas Stirn und Nase. Aber die Augen waren grau und streng, besonders das Monokelauge.

Herr von Berlepsch ging ihm entgegen. Die Herren sprachen einige Worte miteinander und kamen zurück. Der Baron stellte vor. Herr von Steinhammer faßte Klaus ins Auge und reichte ihm die Hand. »Sie sind der Neffe des Toten, höre ich. Nehmen Sie mein aufrichtiges Beileid entgegen.« Die Stimme schnarrte die Worte ohne Ausdruck ab. Klaus fühlte die knochige Hand. Dies war der Mann, der seine Tochter verstoßen würde, wenn irgendein Schatten in ihrem Scheidungsprozeß zurückblieb. Ob dieser alte Mann eine Ahnung davon hatte, wie stark der Tod Stefan Rambins in seinen Lebenskreis einschnitt?

Der Kommissar hatte den Besitzer von Bräsikow prüfend angesehen und wandte sich nach der Begrüßung wieder den Pferdespuren zu. »Sie sind also hier nicht geritten, Herr Arndt?« fragte er.

Der Inspektor verneinte.

»Sie halten sich aber manchmal in Waldberg auf? An dem Tag, an dem der Mord passierte, sind Sie auch dort gewesen.«

»Worum handelt es sich?« fragte Herr von Steinhammer. »Ich denke, Herr Rambin ist durch einen falschen Agenten in diesen Wald gelockt worden?«

»Ganz recht«, sagte Weigelt. »Der Fall scheint eindeutig zu liegen. Aber diese Fährte machte mich jetzt stutzig. Ich bemerkte sie bereits gestern nachmittag, nahm aber an, daß sie von dem Inspektor Arndt herrührte. Sehen Sie hier den zerstampften Boden. Der Reiter kam an der Linde vorbei. Offenbar hat das Pferd an dieser Stelle vor der Leiche gescheut. Der Reiter ist dann abgestiegen, hat das Pferd an diesen Ast gebunden und ist zu Fuß weitergegangen. Weshalb hat er das getan? Offenbar, um den Toten zu betrachten, der dort am Wegrand lag, wo jetzt der Leichenwagen steht.«

»Ich bin von dieser Seite her noch niemals durch den Jagen geritten«, sagte der Inspektor und sah den Kommissar verlegen an.

»Am Dienstag sind Sie in Waldberg gewesen. Können Sie mir genau die Zeit angeben?«

»Ich habe nicht nach der Uhr gesehen, es wird gegen sechzehn Uhr gewesen sein.«

»Und von Waldberg sind Sie nach der Schäferei geritten?«

»Ja, ich ritt nach dem Vorwerk, wo die Schafe sind.«

»Aber der Schäfer sagt, daß Sie erst kurz vor achtzehn Uhr bei ihm gewesen wären. Gleich, nachdem Sie wieder fortgeritten waren, hätte er die Vesperglocke vom Gut her schlagen hören.«

»Das ist möglich. Ich war auch noch auf den Wiesen hinten, wo die Kälber weiden, und ritt überhaupt umher.«

»Es steht fest, daß ein Reiter von Waldberg oder von Bräsikow hergekommen ist und den Toten bemerkt hat. Wie würde sich ein Mensch verhalten, wenn er mitten im Walde die Leiche eines Unbekannten liegen sieht? Ich glaube, er würde zum nächsten Landjäger eilen und ihn auf den Fund aufmerksam machen. Das ist hier offenbar nicht geschehen. Man darf deshalb wohl den Schluß ziehen, daß dieser Reiter bei der Tat irgendwie beteiligt gewesen ist oder jedenfalls Veranlassung hatte, diesen Fund zu verschweigen. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, daß dieser Reiter der Täter selbst war. Er kann Herrn Rambin hier begegnet sein. Vielleicht kannten sich die beiden. Der Reiter ist dann abgestiegen. Herr Rambin und er gingen, vielleicht in einem heftigen Gespräch, den Jagen auf und ab, und dabei geschah es. Hat denn der Tote hier in der Gegend jemanden gekannt?«

Der Kommissar sah sich fragend im Kreise um. Klaus' Augen suchten in dem Gesicht Herrn von Steinhammers. Sollte diesem Mann wirklich noch nie der Name Stefan Rambins vorgekommen sein, der in dem Scheidungsprozeß seiner Tochter als Zeuge genannt war? Aber in den Zügen des Bräsikowers veränderte sich nichts.

Der Kommissar fuhr fort: »Wie es auch sei, jedenfalls ist der Täter bald nach seiner Tat in Waldberg aufgetaucht. Es bleibt fraglich, ob er geritten oder zu Fuß gegangen ist.« Weigelt machte eine Pause. Plötzlich zog er eine kleine Tasche aus grünem Leder hervor und hielt sie hoch. »Kennen Sie diese Tasche, Herr Arndt?«

Der Inspektor verneinte.

»Das ist die Brieftasche meines Onkels!« rief Klaus. »Ich kenne sie genau.«

Weigelt nickte. »Es fanden sich einige Briefsachen darin, aus denen der Besitzer zu erkennen war. Es ist in der Tat die Brieftasche des Ermordeten. Sie wurde in Waldberg gefunden, etwa fünfzig Schritte von dem Gasthaus entfernt, vor dem Herr Arndt am Dienstag nachmittag ein Glas Bier getrunken hat.«

»Ich weiß nichts von dieser Tasche.« Der Inspektor stand blutübergossen da.

»Das ist möglich. Ich habe gestern den Gastwirt gesprochen. Die Tasche wurde vor einigen Tagen von Dorfjungen gefunden. Der Gastwirt bewahrte sie auf, da er annahm, daß man sie abholen würde. Am Dienstag nachmittag kam Herr Arndt in vollem Galopp angeritten, stieg vor dem Gasthaus ab und ließ sich ein Glas Bier herausreichen.«

»Das habe ich selbst erzählt«, warf der Inspektor ein.

Weigelt sah ihn aufmerksam an. »Sie scheinen der Ansicht zu sein, Herr Arndt, daß ich den Verdacht auf Sie lenken will. Das ist nicht der Fall. Ich behaupte lediglich, daß sich an der Mordstelle die Anwesenheit eines Reiters und eines Fußgängers feststellen läßt. Vielleicht war der Fußgänger nur der abgesessene Reiter. Das weiß ich nicht. Bald nach der Tat befanden sich in oder vor dem Gasthaus in Waldberg ebenfalls ein Reiter und ein Fußgänger. Der Reiter waren Sie, Herr Arndt.«

»Ja, und der Fußgänger?«

»Der Fußgänger saß drinnen in der Gaststube, während Sie draußen Ihr Bier tranken, und sah Ihnen durch das Fenster zu. Es war ein noch junger Mann. Er trug ein weißes Sporthemd, Kniehosen und hatte dunkles Haar. Er kam gegen fünfzehn Uhr in das Gasthaus und ließ sich etwas zu essen geben. Als Sie weggeritten waren, fragte er den Wirt, wer Sie wären, und der Wirt nannte Ihren Namen. Das ist sehr wichtig, daß der Fremde sich Ihren Namen geben ließ. Denn er hat diesen Namen dann auf dem Scheck gebraucht. Vielleicht hat er ihn sich sogar notiert, um einen richtigen Namen aus dieser Gegend zu verwenden. Die Brieftasche hat er dann offenbar beim Fortgehen in den Graben geworfen, nachdem er ihr den von dem Ermordeten ausgestellten Scheck entwendet hatte. Ganz offensichtlich ließ er einige belanglose Briefe darin. Soweit ist mir alles klar. Nur diese Pferdespur verstehe ich nicht.«

»Es reiten viele Menschen in dieser Gegend herum«, sagte Herr Arndt achselzuckend.

»Aber sicher nur wenige, die es für sich behalten, wenn sie eine Leiche im Wald finden.«

Herr von Berlepsch ergriff das Wort. »Die Sache mit dem Reiter ist vielleicht sehr einfach zu erklären. Es ist nicht unbedingt nötig, daß der Reiter die Leiche bemerkt hat. Er ist durch die Schneise geritten und bog hier in den Jagen ein. Vielleicht war es schon dunkel oder dämmerig. Das Pferd witterte den Toten und war nicht vorwärts zu bekommen. Der Reiter konnte annehmen, daß das Tier vor einem Schatten scheute. Er hat den Kampf aufgegeben und ist wieder zurückgeritten.«

»Das ist möglich«, sagte der Kommissar.

»Hatten Sie gestern nicht einen Polizeihund mit?« fragte Herr von Steinhammer.

»Der Hund hat nichts ausgerichtet«, antwortete Weigelt. »Es war schon zu viel Zeit vergangen.«

Klaus sah verstohlen zu Herrn von Steinhammer hinüber. Einen Augenblick hatte es ihm geschienen, als ob etwas wie Angst in dessen Frage mitschwänge. Der Bräsikower mußte doch wissen, daß seine Tochter am Dienstag ausgeritten war! Aber der Gutsherr hörte kaum auf Weigelts Antwort hin.

»War es nicht ziemlich dumm von dem Täter, einen Namen aus dieser Gegend zu wählen?« fragte Herr von Berlepsch. »Dadurch hat er uns auf die Spur gebracht. Hätte er auf dem Scheck etwa ›Fritz Müller aus Stendal‹ geschrieben, wäre es keinem Menschen eingefallen, hier in Lengenfeld nach der Leiche zu suchen.«

Der Kommissar schien nachzudenken. »Es ist möglich, daß das eine Dummheit war. Bei jedem Verbrechen wird eine Dummheit begangen. Offenbar arbeitet ein Gehirn in dem erregten Zustand nicht völlig tadellos. Der Täter kann aber auch eine Absicht dabei gehabt haben. Vielleicht wollte er alle Spuren gerade hierher lenken. Darauf deutet auch die fortgeworfene Brieftasche. Er hätte sie ja auch irgendwo aus dem Zug werfen oder vergraben können. Aber er wollte, daß man den Toten und den Mörder in dieser Gegend suchte. Seine Absicht ist ihm ja auch bisher geglückt. Fast eine Woche ist vergangen, und wir wissen von dem Mörder noch nichts, als wie er ungefähr aussah und daß er in dem Gasthaus zu Waldberg Rührei mit Schinken gegessen hat. Und Herr Arndt ist ja wirklich fast in Verdacht gekommen.«

Der Polizeiarzt kam von dem Leichenwagen her, trat zu der Gruppe und stellte sich vor. »Die Untersuchung der Wunde hat nichts Neues ergeben«, sagte er.« Der Täter ist unmittelbar hinter seinem Opfer hergegangen. Der Schuß ist aus nächster Nähe gegen den Hinterkopf abgegeben worden. Die Haare sind von dem Mündungsfeuer versengt. Die Kugel hat das Großhirn durchschlagen und ist vorn links zwischen Stirn und Schläfe herausgetreten. Der Schußkanal verläuft etwa waagerecht. Man kann also annehmen, daß der Schießende ungefähr von gleicher Größe wie der Erschossene gewesen ist und den Revolver – es war ein gewöhnlicher Browning – in der rechten Hand gehalten hat. Herr Rambin muß sofort tot gewesen sein. Der Täter hat die Leiche dann an den Wegrand unter die Bäume geschleppt und dort niedergelegt.« Doktor Marx zündete sich umständlich eine Zigarre an. »Wohl dem, der da atmet in rosiger Luft!«

»Dann sind wir also fertig«, sagte Herr von Steinhammer, reichte Herrn von Berlepsch und Klaus die Hand, lüftete den Hut und ging zu seinem Wagen zurück.

Herr von Berlepsch sah ihm lächelnd nach. »Der alte Herr ist ordentlich jung geworden. Er soll auf Freiersfüßen gehen. Man spricht von einem ganz jungen Mädel aus Berlin.«

Klaus sah ihn überrascht an.

»Jawohl, das gibt es, Herr Rambin. Seine Tochter läßt sich scheiden, und der alte Herr wird heiraten.«

»Wer ist seine Tochter?« fragte Weigelt.

»Frau von Tweel. Ihr Mann ist der Herrenreiter. – Wir werden nun hier wohl auch nicht mehr gebraucht, Herr Kommissar?«

»Nein, Herr Baron. Ich danke Ihnen und Herrn Arndt, daß Sie sich herbemüht haben.«

Herr von Berlepsch schüttelte Klaus die Hand. »Wenn Sie mich in dieser Angelegenheit noch brauchen sollten, so stehe ich Ihnen natürlich ganz zur Verfügung. Und sprechen Sie Ihrer Frau Tante mein aufrichtiges Beileid aus. Auf Wiedersehen! Kommen Sie, Arndt!«

Der Gutsherr und sein Inspektor verabschiedeten sich. An dem Leichenwagen gingen sie mit abgezogenen Hüten vorüber und bestiegen ihre Pferde.

»Netter Mann!« sagte der Arzt. »Also, Herr Rambin, die Leute machen jetzt den Sarg zu. Ich habe den Totenschein gleich dem Wagenführer gegeben, damit ihm der Sarg abgenommen wird. Von mir aus kann der Tote zur Beerdigung freigegeben werden. Oder hat die Kriminalpolizei etwas dagegen?«

Weigelt verneinte. »Ich habe den Schofför schon angewiesen, den Sarg nach Michaelsbrück in die Leichenhalle zu schaffen. Es ist das beste, Herr Rambin, Sie kommen mit uns nach Berlin mit. Wir setzen Sie am Stettiner Bahnhof ab. Sie können dann gleich nach Michaelsbrück hinausfahren.«

Klaus nickte. »Kommen Sie!« drängte Doktor Marx, da der Kommissar noch einmal niederkniete und die Hufabdrücke betrachtete. Von dem Leichenwagen kamen die Hammerschläge. Der Sarg Stefan Rambins wurde zugenagelt. Das Hämmern verhallte in den unendlichen Blättermassen wie das leise Klopfen eines Spechtes. Genau so wird der Schuß verhallt sein, mußte Klaus denken. Ein kurzes Klopfen, und dann war es zu Ende.


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