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Als er herunterkam, saßen Weigelt und Monika auf der Veranda. Der Kommissar hatte einen Haufen Papiere vor sich, mit deren Durchsicht er beschäftigt war. Der Schlosser, der den Schreibtisch geöffnet hatte, ging gerade fort. Klaus gab dem Kommissar die Hand und wollte auch Monika begrüßen. Aber vor dem Ausdruck ihres Gesichts machte er halt. Es war etwas Erloschenes darin. Ihre verweinten Augen irrten an ihm vorüber. Sie hat mich doch belauscht! durchfuhr es ihn. Er sah, daß Weigelt sie beide beobachtete. In der Diele mit den Geweihen war der Korb des Hundes verschwunden. »Wo ist Lord?« fragte er und suchte ihre Antwort zu erzwingen. Aber Monika wandte sich an den Kommissar. Sie hätte den Hund zurückgebracht, er wäre nicht wachsam. Klaus verstand. Sie konnte den Hund nicht mehr ertragen, der in der Nacht den Dieb nicht gestellt hatte.
Auf dem Vorgarten lag die Morgensonne. Von dem Rosenrondell kamen schwere Düfte. Auf dem Holzhof ächzten die Stämme unter der großen Säge. Die Männer riefen ihr Hoi-hupp. Das war wie alle die Sommermorgen, die er hier verlebt hatte. Noch lief alles weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Hinter dem Fenster des Büroanbaus sah er das blasse Gesicht des Herrn Schulz. Der hatte, wie immer, die Feder hinter dem Ohr.
Klaus lehnte sich schweigend gegen den Pfosten und blickte hinaus. Das vertraute Bild tat ihm weh. Weshalb kann man die Zeit nicht zurückdrehen! Jetzt hatte es ihn hineingerissen. Wenn Weigelt auf ihn zutrat und ihn durchsuchte! Er trug Ursulas Briefe in der Brusttasche! »Sie haben da etwas in dem Schreibtisch gefunden?« fragte er, um etwas zu sagen. Weigelt schüttelte den Kopf. »Nichts Besonderes. Diese Briefsachen geben keinen Aufschluß.« Er schlug sie zusammen und packte sie in die Aktenmappe. »Haben Sie den Angestellten schon etwas gesagt?«
Monika schüttelte den Kopf. »Sie denken, daß Papa verreist ist.« Sie wandte sich an Klaus, ohne ihn anzusehen. »Im Eßzimmer steht dein Frühstück.«
Klaus ging schweigend hinein und setzte sich an den Tisch. Hier war es still. Das große Fenster blickte auf den See. Jetzt wird sie es ihm sagen, dachte er. ›Heute nacht hat Klaus den Schreibtisch geöffnet und Schriftstücke herausgenommen!‹ Er schrak zusammen. Hinter der Tür hörte er Schritte. Es war das Stubenmädchen, das ein Tablett von der Anrichte holte. Sie ging mit kurzem Gruß durchs Zimmer und sah betreten aus. Auch die Dienstboten merkten, daß etwas in der Luft lag. Klaus ging zu der Veranda zurück. Draußen saß Weigelt allein und wartete auf das Auto des Polizeiarztes.
»Es ist schön hier«, sagte er und sah mit blinzelnden Augen in die Sonne. »Unsereins sieht so etwas nur, wenn etwas passiert ist.«
Klaus setzte sich zu ihm. »Sie kommen viel umher?«
Der Kommissar nickte. »Es ist immer wie hier. Man wird gerufen und kommt. Alles sieht glücklich und friedlich aus. Man fängt an zu suchen und findet die Triebe und Leidenschaften dahinter.«
Klaus schwieg.
Der Kommissar knickte eine Ranke ab. »Ich bin heute früh durch den kleinen Ort gegangen und suchte nach einem Schlosser. Überall stößt man auf den Namen Stefan Rambin. Niemand hat sich den Kopf über ihn zerbrochen. Sein Leben ist vorbildlich, seine Ehe ist glücklich.« Er lächelte. Die Enden seines Schnurrbarts hoben sich. Plötzlich gab er sich einen Ruck, der bis zu Klaus hinüberfuhr. »Ich will Ihnen mitteilen, daß ich schon gestern draußen in Lengenfeld war.«
»O Gott! Sie haben ihn gesehen!«
»Ich habe die Leiche gesehen.«
Jetzt wird es kommen, dachte Klaus. »Die Leiche! Wie fanden Sie ihn? Sprechen Sie!«
»Es ist so, wie ich es vermutet habe. Der Schuß ist aus nächster Nähe abgefeuert, direkt in den Hinterkopf.«
Aus nächster Nähe! Klaus suchte zu überlegen. Wie war denn das? Tweel mußte ihm nachgeschlichen sein. Oder er hatte hinter einem Baum gelauert und auf Stefan Rambin gewartet. Aber das war doch unmöglich! Wenn Stefan Rambin nun in der Mitte des Weges oder auf der andern Seite ging!
»Sie haben sich wahrscheinlich an einer verabredeten Stelle getroffen und sind dann den Jagen entlanggegangen. Der Mörder ist einen Schritt zurückgeblieben und hat sein Opfer von hinten erschossen. Jedenfalls spricht alles dafür, daß der Vorgang so verlaufen ist.«
»Dann bleiben Sie also bei Ihrer Auffassung, daß es ein fingierter Agent gewesen ist, der meinen Onkel dorthin gelockt hat, um ihn zu ermorden?«
»Ich finde die Auffassung wenigstens bis jetzt bestätigt.«
»Schrecklich! Ich habe es doch nicht geglaubt. Immer dachte ich, daß Stefan Rambin noch zurückkommen würde.«
»Sagen Sie von sich aus bitte niemandem etwas davon, daß ich schon gestern draußen war. Ich hatte mir einen Beamten mit einem Polizeihund mitgenommen. Wir streiften die Gegend ab. Ich hatte nach Lengenfeld telefoniert, daß wir erst heute kommen würden. Niemand erkannte uns als Kriminalisten.«
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Allerhand, aber nachher wurde es zu dunkel. Ich mußte mir einiges für heute aufsparen. Wir haben die Leiche ordentlich mit Zweigen zugedeckt. Es wird übrigens ein Leichenwagen mit einem Sarg dort sein. Anders kann der Tote nicht mehr transportiert werden.«
»Wohin soll er gebracht werden?«
»Wenn der Arzt den Toten untersucht hat, werden wir ihn zur Bestattung freigeben. Der Leichenwagen kann gleich nach Michaelsbrück dirigiert werden.«
»Hierher!« Nun würde alles über Agathe hereinstürzen. Bisher war das Furchtbare wie eine ferne Möglichkeit gewesen. Noch war Stefan Rambin wie lebendig unter ihnen. Noch eben hatte er an seinem Schreibtisch gesessen oder war zur Tür hereingekommen. Jetzt würde der Totenwagen vor dem Hause stehen, und er lag darin.
Auf der Chaussee hielt ein Auto und gab Signal. Weigelt stand auf. »Kommen Sie! Das ist der Polizeiarzt Doktor Marx.«
Klaus stand verwirrt. »Ich muß noch meine Kusine sprechen. Sie muß wissen, daß der Tote gebracht werden wird.«
»Dann kommen Sie nachher gleich zum Wagen hinunter!« Der Kommissar ging langsam durch den Vorgarten und blickte sich nach allen Seiten um. Er sah nach dem Fenster, hinter dem Herr Schulz mit der Feder hinter dem Ohr arbeitete. Warf an der Ecke einen Blick über den Holzhof und zog den Geruch der Baumstämme ein. Alles war ihm wichtig. Seine Sinne tränkten sich mit Atmosphäre. Er brauchte das. Aus solchen Eindrücken kamen ihm die Gedanken.
Klaus ging in das Haus zurück. Irgendwo mußte Monika sein. Er trat in das Herrenzimmer. Das Schloß des Schreibtisches war herausgebrochen. Der Schlosser hatte zwei Nägel vor die oberste Lade geschlagen. Hier war es gewesen! Seine Blicke irrten in den Raum. Die Möbel standen wie immer, die Goethebüste schimmerte weiß aus der Ecke. Niemals mehr würde Stefan Rambin hier sitzen und von seiner Arbeit aufschauen, wenn jemand hereinkam. Klaus ging durch das Musikzimmer und das Eßzimmer. Monika war nirgends zu finden. Ich muß es ihr sagen, dachte er und hatte Angst vor dem Augenblick, in dem er ihr gegenüberstehen würde. In der Küche fand er die Mädchen. Als er eintrat, verstummte ihr Gespräch. Nur das Wort »Kriminal« fing er noch auf. Das würde jetzt durch den ganzen Betrieb gehen, in den Ort hinübergreifen, überall würden die Menschen zusammenstehen und verstummen, wenn einer von den Rambins vorüberging.
»Wo ist Fräulein Monika?« fragte er und schickte das Stubenmädchen nach ihr. Sie ging hinauf, er wartete unten an der Treppe. Hier irgendwo hatte Monika heute nacht gestanden, als er die Treppe hinaufschlich. Vielleicht war er ganz dicht an ihr vorübergegangen.
Das Mädchen kam. »Fräulein Monika ist bei der gnädigen Frau und kann nicht fort.« Er nickte und wollte gehen, aber sie hielt ihn zurück. »Was ist mit Herrn Rambin passiert?«
»Herr Rambin ist verunglückt.«
»Ist es wahr, daß er ermordet ist? Die Leute sagen, er wäre ermordet worden.«
»Das ist noch nicht festgestellt«, sagte er kurz und ging.
Neben der Toreinfahrt hielt der Wagen. Der Polizeiarzt hatte einen grauen Spitzbart und eine goldene Brille. Der Kommissar stellte vor. Doktor Marx brummte etwas von »Beileid!« Der Wagen setzte sich in Bewegung. »Sie kennen den Weg?« fragte Weigelt. Klaus nickte.
Sie legten den größten Teil der Fahrt schweigend zurück; Doktor Marx lehnte in einer Ecke und hatte die Augen geschlossen. Weigelt beobachtete die Landschaft. Klaus mußte auf den Weg achten. Hinter Oranienburg kam die Kreuzung, bei der man falsch einbiegen konnte. Vor drei Tagen war er hier mit Agathe gefahren. Damit hatte es begonnen. Einzelheiten der Fahrt stiegen auf. Agathes bleiches Gesicht und ihre zitternden Hände. Jedes Wort, das die Gewißheit des Furchtbaren nicht hatte verscheuchen können. Sie fuhren, fuhren. Wechselnde Landschaften flogen vorüber. Dürre Fichtenwälder, Getreideäcker über Hügeln, einmal ein See.
Als die Chaussee aus dem Wald heraustrat, lag die kleine Station vor ihnen. »Da ist schon Lindenberg«, sagte Weigelt. »Dort sind wir gestern ausgestiegen. Herr Struß, der Stationsvorsteher, sah uns mißtrauisch an. Der Mörder ist nach meiner Ansicht am Dienstag bis Bergfriede weitergefahren und von dort seinem Opfer durch den Wald entgegengegangen. Es sind etwa fünf Kilometer.«
Er ließ den Wagen an dem Eingang zu dem Waldweg halten. »Werden Sie hier durchkommen?« fragte er den Schofför. Der besah sich den Weg. »Im ersten Gang sicher.«
Aus dem Wald schlug kühl die Luft heraus. Hoch über dem Weg wölbte sich das Blätterdach. Der Wagen schwankte in den ausgefahrenen Gleisen. Undurchdringlich lag zu beiden Seiten das Dickicht. Der Weg schien kein Ende zu haben.
»Hier ist Herr Rambin entlanggegangen«, erklärte der Kommissar, »und der Mörder kam ihm entgegen. Dann gingen sie zusammen weiter, und hier bogen sie in den Jagen. – Fahren Sie rechts hinein, Pahlke!«
Der Wagen rollte sanft auf der weichen Grasnarbe. Schnurgerade schnitt der schmale Weg durch den Wald. Das Gras war feucht, zwischen den Bäumen hing silbriger Dunst. Einige hundert Meter weiter stand das schwarze Leichenauto, halb von Büschen verdeckt. Vier Männer warteten daneben. »Da sind sie schon«, sagte Weigelt. »Wir wollen aussteigen.« Der Arzt reckte die steifgewordenen Glieder und nahm die Tasche mit den Instrumenten unter den Arm. Sie gingen zu Fuß weiter. Klaus fror in der feuchten Luft, aber es waren die Nerven. Hier ist Stefan Rambin gegangen, um Frau von Tweel zu treffen. Und dann brach der andere aus dem Dickicht und schoß ihn nieder! Oder war es doch so gewesen, wie Weigelt annahm?
Sie näherten sich dem Wagen. Unheimlich wirkte der schwarze Kasten in dem grünen Licht des Waldes, ein gespenstisches Spielzeug mit breiten Gummireifen und gedrehten Säulen, das die Stadt geschickt hatte. Der Sarg stand daneben in dem hohen Gras, und nun sahen sie Stefan Rambin daliegen. Das Haar schimmerte weiß über der zerschossenen Stirn, die Nase stach spitz in die Luft.
Sie waren auf zehn Schritt herangekommen, als sie hinter sich das weiche Aufschlagen von Pferdehufen hörten. Herr von Berlepsch und der Inspektor Arndt kamen angeritten und parierten. Der Baron drängte sein Pferd an Klaus heran und reichte ihm die Hand. Klaus sah das bekannte Gesicht, die kurze Nase und den schwarzen Spitzbart. Damals hatten sie gedacht, daß Lengenfeld mit Stefan Rambins Ende verknüpft wäre. Jetzt wußte er, daß es Bräsikow war. Herr von Berlepsch fragte nach Agathe. »Nun ist es doch so gekommen, Herr Rambin.«
Die Reiter stiegen ab, der Baron winkte einem Arbeiter, die Pferde zu halten. Die Tiere schnaubten ängstlich. Klaus machte die Herren miteinander bekannt. Doktor Marx packte an dem Leichenwagen seine Instrumententasche aus. Er war der einzige, den der Geruch nicht zu stören schien.
»Wir wollen auf die andere Seite gegen den Wind gehen«, schlug der Baron vor. Sie gingen an dem Sarg mit abgezogenen Hüten vorüber. Nur Klaus blieb stehen, faltete die Hände und schaute dem Toten ins Antlitz. Aber die Züge waren schon entstellt. Die scharfen Linien verschwammen wie unter einem trüben Glas. Von der linken Seite der Stirn, wo die Kugel ausgetreten war, schwoll es blau über das Auge und die Nasenwurzel. Er mußte sich abwenden und ging den Herren nach.
Inspektor Arndt erklärte, wie er die Leiche gefunden hatte. »Er lag am Wegrand. Einige Zweige waren über ihn gedeckt, und auf der Brust lagen zwei Glockenblumen.«
»Über die Blumen habe ich mich gewundert, als Herr Arndt mir davon erzählte«, sagte Herr von Berlepsch. »Ist es nicht schade, Herr Kommissar, daß Sie den Toten nicht mehr gesehen haben, wie er ursprünglich dalag? Sie hätten vielleicht manches daraus schließen können.«
»Ich habe ihn gesehen«, sagte der Kommissar. »Ich war gestern nachmittag hier und habe die Leiche fotografiert.«
»Ah, Sie waren schon hier! Aber das mit den Blumen ist merkwürdig, nicht wahr?«
Ursula von Tweel! dachte Klaus. Ursula hat ihm die Blumen auf die Brust gelegt! Er sah auf, und seine Augen fielen auf die große Linde, von der sie gesprochen hatte. Nur zwanzig Meter vor ihnen stand der mächtige Stamm. Seine Krone ragte über die anderen Bäume hinaus. Die unteren Zweige berührten den Boden. Wie ein ganzer Wald stand sie da, eine Riesenkugel voll ausgreifender Äste und grünen Lichts. Das war die Stelle, wo Stefan Rambin und Ursula von Tweel sich zu treffen pflegten, und jetzt lag er kaum fünfzig Meter davon im Sarg!
Herr von Berlepsch folgte seinem Blick. »Ein mächtiger Kerl, nicht wahr? Gleich hinter der Ecke geht eine Schneise ab.«
»Ich bin sie gestern entlanggegangen«, sagte Weigelt. »Sie führt aus dem Wald heraus und mündet auf den Weg nach Waldberg.«
Der Baron nickte. »Der Weg geht an Bräsikow vorüber nach Waldberg. Die Schneise ist die Grenze zwischen Lengenfeld und Bräsikow.«