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Klaus wollte auf keinen Fall das Erscheinen des Geheimrats abwarten. Ihm graute davor, in seiner Stimmung an dem Bandlerschen Familientisch zu sitzen und ausgefragt zu werden.
Während er sich den Mantel anzog, standen die beiden Frauen in der Tür. Wie zwei unbefangene junge Mädchen sahen sie aus. Gerade dieser Gegensatz zu dem, was in ihnen allen vorging, berührte ihn unheimlich. Die Gedanken liefen hinter seiner Stirn. Die Unterhaltung mit Ursula von Tweel hatte alles verändert. So war das also, dachte er, aber gleich stieg wieder der Zweifel in ihm auf. Stefan Rambin sollte ermordet worden sein, während Ursula vielleicht nur wenige hundert Schritte von der Stelle entfernt auf ihn gewartet hatte? Mußte sie nicht wenigstens den Schuß oder irgendwelche Geräusche gehört haben? War sie wirklich an dem Vorgang so ganz unbeteiligt? Er sah die beiden Frauen vor sich stehen, beide groß und schmal, Ellens blondes Haar und neben ihr Ursulas dunklen Kopf. Um ihre Lippen lag das kühle Lächeln des Abschieds. Zwischen ihnen aber stießen und trieben die dunklen Kräfte. Es war, als ob die Menschen und Wände für einige Sekunden durchsichtig würden. Irgendwo im Wald lag der Tote. Das hing alles zusammen: die Worte dieser beiden Frauen, die ihm die Hand reichten, und Stefan Rambin.
Er eilte die Treppe hinunter und bog rechts zum Lützowplatz ab, um dem Geheimrat nicht zu begegnen. Erst am Augusta-Ufer blieb er stehen und warf einen Blick auf den Zettel, den Ursula ihm zugesteckt hatte. Eine einfache Fernsprechnummer war darauf geschrieben, und darunter die Worte: »nach Frau Schindler fragen.« Ich bin immer für Sie da, hatte sie ihm gesagt. Er fühlte sich in den magischen Zauberkreis ihres Wesens hineingerissen. Er konnte sie anrufen, wann er wollte. Sicher hatte auch Stefan Rambin diese Nummer gehabt und gewußt, daß man »nach Frau Schindler fragen« mußte. Er lehnte sich gegen das Kanalgeländer und sah in das Wasser hinunter. So hatte er mit ihr zusammengestanden, als sie ganz leise miteinander sprachen. Die Briefe! dachte er, schloß die Augen und sah ihr Gesicht vor sich. Dieses liebliche, stolze Gesicht, hinter dem die Angst stand.
Er ging weiter und schlenderte durch die Straßen dem Potsdamer Platz zu. Plötzlich machte er halt und ging einige Schritte zurück. An der Litfaßsäule, an der er eben vorübergegangen war, war ihm etwas aufgefallen. »Tweel« hatte er gelesen, ganz deutlich den Namen »von Tweel«. Er flog die Anzeigen der Theater durch und starrte das große Plakat an. »Rennen in Karlshorst« las er. Da war es gewesen. »Besitzer: Rittmeister a. D. von Tweel« stand da. Attila hieß das Pferd, und hinter seinem Namen stand in Klammern »Reiter: Besitzer«. Er starrte darauf. Es war, als ob die Buchstaben durcheinandergeschüttelt worden wären und diesen Namen ergeben hätten. Wie ein Spuk war es. Weshalb ließ ihn dieser Name jetzt nicht mehr los and sprang ihn schon von Plakaten an! Er sah den eckigen Schädel vor sich, der fast wie ein Totenkopf aussah, die lange Zigarre zwischen den eingekniffenen Lippen. Morgen würde dieser Mann in Karlshorst reiten. Hatte nicht auch die Frau in dem Hotel irgend so etwas gesagt?
Er stand noch immer und starrte das Plakat an, las es von Anfang bis Ende durch. Noch nie hatte er sich für Pferderennen interessiert. Es war offenbar das längste und schwierigste Rennen, bei dem Tweel genannt war. Wenn Wünsche etwas vermöchten, gingen seine Gedanken, dann würde ich mich irgendwo im Wald auf den Boden legen und alle meine Kräfte darauf konzentrieren. Ich würde mir vorstellen, wie das Pferd sich der Hecke nähert, meine Vorstellungen würden seine Beine umschlingen und einwickeln, daß es zu kurz spränge, dieses Pferd, das Attila hieß. Und dann würde der Sturz kommen!
Er riß sich los und ging weiter. Wo ging er eigentlich hin? Es war die Richtung zum Stettiner Bahnhof. Er mußte nach Michaelsbrück hinausfahren. Tante Agathe wartete auf ihn, und auch Monika würde warten. Wenn er am Potsdamer Platz in den Autobus stieg, konnte er noch den Dreiuhrzug erreichen. Aber plötzlich bog er ab und ging in ein Café. Er hatte noch nicht gegessen. Er ließ sich ein Rührei geben und bestellte Mokka.
Ein Junge bot Zeitungen aus. Er blätterte darin. Wieder wurden die Buchstaben geschüttelt, und der Name »von Tweel« sprang heraus. Er suchte und fand die Notiz über Ellen Bandler, daß sie für Wiesbaden zum Großen Preis genannt war. Das wollte sie doch: in den Zeitungen stehen! Endlich fand er beim Zurückschlagen den Artikel über die Aussichten des morgigen Rennens, und darin gesperrt gedruckt »Rittmeister von Tweel«. Er überflog die Zeilen. »Attila ist ein Ausbrecher«, stand da, »aber er wird gegen die eiserne Faust seines Reiters nicht ankommen. Tweel ist Spezialist darin, widerspenstige Pferde durchs Ziel zu zwingen.« Die Sätze klangen in ihm nach. »Durchs Ziel zu zwingen«, wiederholte er in Gedanken. So war Tweel. Er zwang mit eiserner Faust durchs Ziel. Auch Ursula hatte etwas Ähnliches gesagt.
Man muß Tweel der Tat überführen! Man muß zu dem Kommissar gehen und ihm alles mitteilen: Tweel ist es gewesen! Tweel hat von der Verabredung seiner Frau mit Stefan Rambin etwas erfahren und ist ihm nachgeschlichen und hat ihn im Walde niedergeknallt. Es kann nicht anders gewesen sein! Alle Rätsel lösten sich, wenn man Tweel als Mörder einsetzte. Ursula würde befreit sein. Wenn Tweel der Mörder war, dann würde ihm niemand mehr glauben, das Gericht nicht und auch Herr von Steinhammer nicht. Was war denn gewesen? Ursula hatte einen Bekannten gebeten, ein Grundstück für sie zu kaufen, und hatte noch einmal alle Einzelheiten mit ihrem Bevollmächtigten durchsprechen wollen. Das war harmlos. Auch daß sie sechzigtausend Mark auf Stefan Rambins Konto überwiesen hatte, war leicht zu erklären. Seine Gedanken arbeiteten. Wenn er die Augen schloß, hatte er Ursulas Gesicht vor sich.
Aber da lagen ihre Briefe in Stefan Rambins Schreibtisch! Seine Gedanken sprangen gegen das verschlossene Tor an. Wie kam man an die Briefe in Stefans Schreibtisch heran? Man müßte sich einen Nachschlüssel besorgen und nachts hinunterschleichen. Das war furchtbar einfach. Aber wenn das gewaltsame Öffnen Spuren hinterließ? Es geht nicht! dachte er und ließ die Hände auf die Tischplatte sinken. Er drehte sich um. Wenn jemand ihn beobachtete! Der Kommissar traute ihm nicht, vielleicht wurde er schon beobachtet. Rasch nach Michaelsbrück! entschloß er sich. Er konnte zu Fuß bis zum Bahnhof gehen, dann kam er gerade zum nächsten Zug zur Zeit. Es war über eine Stunde bis dahin.
Er zahlte, stand auf und zog den Mantel an. Plötzlich stutzte er. Es war noch keine Stunde her, daß er sich den Mantel bei Bandlers angezogen hatte. Ursula und Ellen hatten dabeigestanden. Es war da doch etwas gewesen, fiel ihm ein, irgend etwas Ungewohntes. Er hatte sich gewundert, als er den Mantel anzog, ganz unbestimmt gewundert. Und jetzt war es wieder da, etwas Ungewohntes, etwas, das seine Hand berührte. Er pflegte in der rechten Manteltasche nur ein Taschentuch und einiges Kleingeld zu tragen, aber jetzt war noch etwas anderes darin. Er griff hinein und fühlte: ein Schlüsselbund. Während er hinausging, tasteten seine Finger die Schlüssel ab. Es waren sechs Schlüssel an einem Ring. Er zählte sie. Einer war größer, das konnte ein Hausschlüssel sein oder ein Gartenschlüssel. Und dann gab es einige kleinere. Ein Schreibtischschlüssel vielleicht. Er zog das Bund aus der Tasche und betrachtete es. Es war nichts Besonderes daran. Jeder Mensch hatte ein solches Schlüsselbund. Aber wie kam dieses in seine Manteltasche? Ursula! schrie es in ihm. Heute morgen waren die Schlüssel noch nicht darin gewesen. Er ließ jede Minute des Tages an sich vorüberziehen. Da war bei dem Kommissar ein Augenblick gewesen, in dem Eduard Frisch dicht hinter ihm gestanden hatte. Da konnte es gewesen sein. Oder schon früher, als Herr von Tweel in dem Hotel an ihm vorüberging. Er schüttelte den Kopf. Das war es alles nicht. Die Schlüssel kamen von Ursula oder von Ellen oder von beiden. Wie kam er darauf? Aber plötzlich hatte er die Gewißheit, daß das die Schlüssel Stefan Rambins waren. Ursula hatte ihn gebeten, die Briefe zu besorgen, und jetzt fanden sich diese Schlüssel in seiner Tasche!
Er war in der Richtung zum Brandenburger Tor weitergegangen und machte halt. Plötzlich merkte er, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Er hatte Angst, nach Michaelsbrück zu fahren. Dort stand der Schreibtisch, zu dem einer von diesen Schlüsseln passen würde. Es war, als ob der schwere schwarze Eichentisch vom Horizont herangeschwommen käme mit dem blinkenden Metallschloß, das größer und größer wurde wie ein metallenes Tor, und er hielt den Schlüssel in der Tasche. Jetzt kam es heran, ein phantastisches Luftgebilde, fuhr über ihn hinweg, und er stand noch immer mit dem Schlüssel in der Hand da. Wenn er jetzt nach Michaelsbrück fuhr, war er verloren. Dann würde er nachts hinuntergehen und den Schreibtisch aufschließen. Dann war er in den Kreis hineingerissen. Er hörte es wie ein Gelächter über sich. Ihre Stimme, Ursulas Stimme!
Wenn sich jetzt eine Hand auf seine Schulter legte, der Kommissar hinter ihm stand und ihn verhaftete! Man fand die Schlüssel bei ihm, die Schlüssel zum Schreibtisch des Ermordeten! Aber ich bin doch am Dienstag auf dem Sportplatz gewesen, ich kann mein Alibi nachweisen! Ihm fiel ein, was er zu Weigelt darüber gesagt hatte. Gerade am Dienstag und Mittwoch vormittag hatte ihn niemand gesehen. Eine wilde Angst ergriff ihn. Er wollte die Schlüssel von sich werfen und laufen, laufen. Aber er stieg auf die elektrische Bahn, die nach dem Westen fuhr, und wußte, daß er zum Sportplatz fahren würde. Er stand wie unter einem Zwang. An der Charlottenburger Brücke stieg er aus und nahm sich ein Auto. Er fuhr an dem Eingang der Avus vorbei. Bei den Ausstellungshallen wehten die Fahnen. Dann durch die kleinen winkligen Straßen der Siedlung Eichkamp, au seiner Wohnung vorüber. »Halt!« rief er und stieg aus, ging durch die verkrüppelte Fichtenschonung zum Wald, an den Tennisplätzen vorüber. Hier hatte Ellen trainiert. Im vorigen Sommer hatten sie sich jeden Morgen hier getroffen und miteinander gespielt, bis er in sein Büro mußte.
Er stand vor dem Blockhaus, hinter dem das Sportgelände lag. Vier oder fünf Bekannte saßen in Trainingsanzügen und tranken Orangeade. Sie winkten ihm zu, aber er ging ohne ein Wort vorüber. Hinten stand die Pächterin und wusch Gläser aus. »Guten Tag«, sagte er. Sie nickte: »Guten Tag, Herr Rambin.« Weshalb schrak sie nicht bei seinem Namen zusammen? Wußte hier noch niemand, daß mit diesem Namen ein Mord verknüpft war? Gleich hinter dem Haus wölbten sich die Hallen des Waldes. Leise Rufe kamen aus den Büschen, das Knarren der Turngeräte. Gestalten liefen vorüber, verschwanden, kamen wieder zum Vorschein, eine Stimme zählte die Minuten. Das war seine Welt, in der er lebte. Wohl, es gab auch Bücher, Theater, Konzerte, aber das ging ihn nicht so viel an wie dieser Waldwinkel, in dem er und hundert junge Menschen an ihrem Körper arbeiteten, Zahlen merkwürdiger Tabellen in die Höhe trieben, Zeitgeschwindigkeiten herabsetzten. Von der Wiese kam das leise, regelmäßige Knarren des Rhönrads, dieses Rhönrads, das er selbst im Frühjahr gestiftet hatte.
»Ich bin gestern nicht hiergewesen« sagte er zu der Pächterin. »Eigentlich verbringe ich nämlich meinen Urlaub außerhalb von Berlin, bei Verwandten in Michaelsbrück.«
»Man muß sich auch manchmal ausruhen«, sagte die Frau.
»Ach«, sagte er, »lieber bin ich schon auf dem Sportplatz. Ich habe schon acht Tage Urlaub gehabt und bin jeden Tag hiergewesen. Von Sonntag ab jeden Vormittag. Besinnen Sie sich? Gestern war der erste Tag, an dem ich nicht hier war.«
»Ja, Sie kamen regelmäßig«, sagte die Frau. Er stand eine Weile, wollte noch etwas sagen. Niemand wird mir glauben, gingen seine Gedanken. Die Angst würgte ihn an der Kehle. Er ging in eine der Kabinen und zog sich den Turnanzug an. Hier im Schatten fror ihn. In diesen Kabinen war es immer kalt. Er lief mit großen Schritten hinaus, über alle Wege des Platzes, konzentrierte sich auf sein Tempo. Seine Beine federten, der Atem ging gut und ruhig. Überall wurde gearbeitet. Eine Gruppe machte Weitsprung. Die dunklen Körper schwangen sich durch die Luft, reckten sich aus, berührten den Boden, schnellten weiter. Er blieb stehen und sah ihnen zu. Den meisten hier war er weit überlegen. In den letzten zwei Jahren war er vorwärtsgekommen. Er und Ellen. Das war die Zeit ihrer wundervollen Sportkameradschaft gewesen. Nun hatte das ein Ende. Er ging langsam nach dem Sonnenbad zu und dachte an die Zeit mit Ellen.
Wundervoll war es gewesen, der Wettkampf mit ihr. Er ihr immer um einige Punkte überlegen, aber sie kam ihm nach und trieb ihn vorwärts. Die herrlichen Sonntage im Paddelboot, wenn sie um sechs Uhr morgens schon auf dem See lagen. Vorbei! dachte er und ging langsam über die Wiese, auf die die Sonne schräg herniederbrannte. Einige von den Holzliegen waren besetzt. Menschen lagen bewegungslos, das Taschentuch über dem Gesicht. Auf einer Liege erkannte er Herbert Elm und trat zu ihm. Elm rührte sich nicht. Sein Körper trank Sonne. Das Gesicht war völlig ausdruckslos und entspannt. Gibt es das, fragte er sich, daß ein Gesicht so gar keinen Ausdruck haben kann? Man wußte nichts von den Gedanken, die hinter dieser Stirn liefen. »Elm«, rief er ihn leise an. Der schlug die Augen auf und sah hoch. »Haben Sie schon Schluß gemacht heute?«
»Sonnabend!« antwortete Elm kurz und schloß die Augen wieder.
Klaus blieb eine Weile vor ihm stehen und suchte in diesem Gesicht. Du hast es gut! dachte er. Du weißt nichts von Ursula von Tweel und dem Brief und dem Schlüsselbund. Er kehrte sich ab, zog den Turnanzug herunter, legte sich auf eine entfernte Holzliege, schloß die Augen und lag da wie Elm mit entspanntem, ausdruckslosem Gesicht. Das tut gut, dachte er.