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19

Als Klaus erwachte, lag das Schrillen der Säge wieder in der Luft. Die Männer auf dem Holzhof riefen ihr »Hoi-hupp«. Das Sägewerk Stefan Rambins lebte. Vom Stall her gackerten die Hühner. Die beiden Gespanne schleppten Stämme. Nichts hatte sich geändert. Genau so war es vor fünfzehn Jahren gewesen und vor fünf Jahren und vor einer Woche.

Als er herunterkam, standen Bandlers auf der Veranda. Sie waren alle zu schwarzen Gestalten geworden. Der Nacken des Geheimrats schob sich über dem ungewohnt hohen Kragen zu Wülsten zusammen, und der blonde Bart sträubte sich über der schwarzen Krawatte. Tante Bandler mußte bei der steigenden Hitze ihr Gesicht immer wieder pudern. Außer Ellen war noch Käthe, die dritte Schwester, mit ihrem Mann, dem Privatdozenten, gekommen. Sie begrüßten sich in den gequälten Redensarten, die die Stunde verlangte. In der Diele lagen die Kränze herum. Das Stubenmädchen rannte in dem schwarzen Servierkleid durch die Zimmer. Sie mußte fertig werden, da sie zum Begräbnis mitkommen sollte.

»Ich bin oben bei meiner Schwester gewesen«, sagte der Geheimrat zu Klaus. »Es ist vernünftig, daß sie nicht zu der Totenfeier kommt. Die arme Agathe ist völlig gebrochen. Was wird nun werden?« Sie standen betreten herum und warteten. Monika telefonierte im Herrenzimmer. Es mußte noch ein Auto bestellt werden. Auf einmal schien das Haus den Bandlers zu gehören. Selbst Klaus verstärkte ihre Partei. Monika war wie verirrt unter ihnen, die sie kaum kannte und deren Nähe sie abgewehrt hatte. Jetzt waren sie alle gekommen. In dem schwarzes Kleid sah sie wie ein schüchternes Kind aus. Ihr Blondhaar rebellierte gegen die Totenfarbe, aber ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Klaus trat zu ihr. »Guten Morgen, Monika!« Sie tat ihm leid. Stefan Rambin hatte sie unter den fremden Menschen zurückgelassen und nicht mit einem Federstrich für sie gesorgt. Wie die Verwalterin in einem fremden Haus war sie jetzt, worin ihr nichts gehörte. Klaus strich ihr das Haar aus der Stirn. Ellen schaute mit ihren scharfen Augen herüber. In diesem Augenblick haßte er sie, da ihm ihre Worte über Monika einfielen. Aber Ellen stand die schwarze Farbe gut. Ihr helles Gesicht hob sich schmal und edel aus dem klaren Stoff. Du hast alles verschuldet, dachte er. Du hast Tweel Ursulas Freundschaft mit Stefan Rambin verraten! Du hast Herrn von Steinhammer von der Verabredung im Walde erzählt! Vielleicht war Ursula schon verhaftet.

Herr Schulz und der Werkführer kamen, die Autos fuhren vor. Die Mädchen luden die Kränze ein. »Wir haben auch einen Kranz für dich besorgt, Klaus«, sagte Frau Bandler. Sie wollte ihm den Kranz zeigen, aber der war schon fort. Klaus brachte im Augenblick kein dankendes Wort heraus. Die Brücke zu Bandlers war eingesunken. Er sah Monika nach, die noch einmal zu Tante Agathe hinaufging. Als sie zurückkam, stand sie verwirrt unter den fragenden Blicken. »Mutti kann doch nicht mit«, sagte sie. »Ich wollte bei ihr bleiben, aber sie will es nicht.« Es klang merkwürdig, daß sie »Mutti« sagte, während ihre eigene Mutter vor ihr stand. Alle fühlten das Seltsame ihrer Stellung.

Sie verteilten sich auf die Wagen. Klaus vermied Ellens Nähe und setzte sich neben Monika. Sie nahmen noch den Werkführer herein. Zwei Kränze mit großen weißen Blumen bauschten sich zwischen ihnen. Die drei Autos kamen hintereinander langsam in Bewegung, bogen von der Chaussee in den Ort ab. Einige Menschen blieben stehen und sahen dem Wagenzug nach. Niemand hatte von Stefan Rambins Tod gehört. Nur am Eingang des Kirchhofs hatten sich einige Neugierige eingefunden, die ein Begräbnis witterten.

Sie sammelten sich vor der Leichenhalle und gingen hinein. Da stand der Sarg Stefan Rambins zwischen den brennenden Kerzen. Derselbe Sarg, in den er am Tag vorher im Wald gelegt worden war. Kein prunkvoller Sarg, wie es sich für Stefan Rambin geschickt hätte. Die Kriminalpolizei hatte ihn besorgen müssen. Sie legten die Kränze herum. Die aber verdeckten das billige Fichtenholz nur ungenügend. Die wenigen Menschen verschwanden fast zwischen den langen Bankreihen. Bandlers hatten Monika in ihre Mitte genommen. Plötzlich standen Klaus und Ellen nun doch zusammen. Arme kleine Monika! dachte Klaus, da er sie mit zuckenden Lippen vor dem Sarg stehen sah.

Plötzlich kam noch jemand durch die Tür. Herbert Elm drückte ihnen stumm und hastig die Hand. Auch sein Gesicht sah über der schwarzen Krawatte verändert aus. Klaus wollte eine Frage an ihn richten. Elm würde wissen, was in Berlin geschehen war. Aber in dem Augenblick trat der Pfarrer ein. Sie setzten sich in die Bänke. Auf dem Podium begann der Kirchengesangverein den Choral.

Wie merkwürdig waren sie hier um den Sarg Stefan Rambins versammelt. Alle Michaelsbrücker kannten ihn und waren auf ihn ein wenig stolz. Er hatte ihnen die Verbindung mit der großen Welt bedeutet, wenn sie ihn mit seinem Schlapphut und der pralles Aktenmappe zum Bahnhof eilen sahen. Alle Frauen in Michaelsbrück waren ein wenig in ihn verliebt. In manchen Sitzungen des Aussichtsrats der Gewerbe-Vereinsbank hatte er präsidiert. Wenn er in Versammlungen aufs Podium trat und mit einer Handbewegung die weiße Locke von der Stirn strich, ging eine Bewegung durch die Reihen. Aber alle diese Hunderte von Menschen, die Stefan Rambin liebten und bewunderten, waren nicht an seinem Sarg versammelt. Während das kleine Harmonium seine dünne Stimme erhob, saß noch kein Dutzend Menschen über zwei Reihen der gelbes Bänke verstreut und sah auf den Pfarrer, der mit gefalteten Händen dastand, und unter diesen wenigen war es vielleicht einzig und allein Monika, die den Toten geliebt hatte. Zwischen ihm und den Bandlers hatte es in den letzten Jahres eine gewisse Spannung gegeben, und nun saßen gerade sie vor dem Fußende seines Sarges. Von allen Menschen gerade sie. Es war durchaus nicht in Stefan Rambins Sinne, der keine Menschen leiden konnte, die ihn nicht liebten. Eigentlich hätten Abordnungen und Vereine mit Fahnen und Trauerflören dabeistehen müssen, der lange Zug der Arbeiter mußte draußen warten und hineinlauschen. Die Fülle der Kränze und Blumen hätte den Sarg und die Halle in ein Blütenmeer verwandeln müssen. Nun aber saßen diese wenigen Menschen hier. Vielleicht wäre Stefan Rambin nur mit des zerknittertes Gesichtern des Herrn Schulz und des Werkführers einverstanden gewesen. Die beiden waren ihm ergeben, und außer ihnen noch Elm, sein Vertrauter in geschäftliches Angelegenheiten. Elms Gesicht sah heute gar nicht rosig aus, und das höfliche Lächeln um seinen Mund war seltsam eingefroren und festgekniffen.

Der Pfarrer wußte nicht, wie es in denen, aussah, die zu seinen Füßen saßen. Er sprach auch nicht zu ihnen, sondern zu den vielen. Hunderten, die hier hätten versammelt sein müssen. Er sprach für Michaelsbrück. Von dem trefflichen Menschen und Familienvater ging er zwar aus, dem Gott eigene Kinder versagt und der den Ausgleich dafür in dem angenommenen Töchterchen und in der väterlichen Fürsorge für den Neffen gefunden hatte. Dann aber zog er den Kreis weiter und stellte den Wirtschaftsführer, das Mitglied der Handelskammer gegen den Himmel der großen Welt. Er zeichnete das Sägewerk und das Baugeschäft mit seinen zweihundert Arbeitern und Angestellten, von denen Michaelsbrück lebte, den schöpferischen Kopf, der alle Räder trieb, den genialen Menschen, der aus diesem einsamen Erdenwinkel in den Schnittpunkt der Kraftlinien hineinstrebte.

Herr Schulz und der Werkführer hingen an den Lippen des Pfarrers, der in großen und verschwimmenden Umrissen den Stefan Rambin malte, den sie kannten. Das war der Stefan Rambin von Michaelsbrück, der Stefan Rambin der Legende, die sich um ihn gebildet hatte. Elms Augen wanderten die Balken der Decke und der Empore ab, über deren Brüstung die Köpfe des Kirchengesangvereins ragten. Klaus suchte in Elms Gesicht. Elm hatte ihn doch am besten gekannt, aber aus seinem Gesicht war nichts zu entnehmen. Klaus blickte zu Monika hinüber, die nicht an den Erfolg Stefan Rambins glaubte. Für sie war er der Gehetzte und Gejagte gewesen. Aber Monika hatte die Augen geschlossen. Eigentlich ist sie hübscher als Ellen, dachte er; weicher, blühender. Er zwang sich, den Worten des Pfarrers zu folgen, der das Gericht über den ruchlosen Mörder herabflehte. Es hätte sich jetzt bereits in dem Ort herumgesprochen haben müssen, daß der ermordete Stefan Rambin um diese Stunde begraben wurde. Von den kleinen Beamtenhäusern an der Chaussee konnte es ausgehen oder von den Angehörigen des Kirchengesangvereins oder von den Dienstboten der Villa oder den Schoffören. Wenn sich nun die Tür der Leichenhalle öffnete und der Sarg herausgetragen wurde, dann hätten sie eigentlich alle draußen stehen und warten müssen, um ihm die letzte Ehre zu geben. Der Gemeindevorsteher und sein Schreiber, der Arzt, die Kaufleute, bei denen Stefan Rambin gekauft hatte, die Hausbesitzer, deren Vorsitzender er war. Aber als der Küster die schweren Flügel zurückschob und die Leichenträger eintraten und die Gurte unter den Sarg schoben, stand niemand draußen. Die Julisonne brannte auf die Büsche, der Himmel blaute unendlich fern. Es waren immer nur noch die wenigen Menschen, die verlegen umherstanden und sich hinter dem Sarg zu einem Zug ordneten. In diesem Augenblick begannen die Glocken zu läuten. Jetzt würde Agathe wissen, daß der Sarg zu Grabe getragen wurde, dieser einfache Fichtensarg mit der dürftigen Pracht der fünf Kränze.

Sie gingen hinter den Trägern her. Frau Bandler schob sie in die richtige Ordnung. Klaus und Monika nahmen den Pfarrer zwischen sich. Das Rambinsche Erbbegräbnis lag ganz hinten an der großen Mauer. Sie gingen minutenlang durch die Straße der Gräberstadt. Dann lag die ausgeschaufelte Erde gelb um das tiefe Loch herum. An der Mauer hatte sich der Kirchenchor aufgestellt und sang von neuem. Klaus suchte zu begreifen, daß Stefan Rambin in jenem Sarg lag. Aber trotz der Rede des Pfarrers blieb es unwirklich und nicht zu fassen. Gerade eine Woche war er jetzt tot, aber eigentlich weilte er noch mitten unter ihnen. Ihm war, als müßte der Tote plötzlich zu ihnen treten und sich gegen die Vorwürfe des Geheimrats verteidigen. Monika müßte ihn anstrahlen, wie sie es immer getan hatte, und er und Ellen müßten sich ein wenig mokante Blicke zuwerfen. Aber da sprach der Pfarrer das Gebet. Die Zylinderhüte senkten sich und hoben sich wieder. Der Sarg sank in die Tiefe. Sie traten einzeln an das Grab und warfen Erde hinein, und dann polterten die Schollen gegen die Planken. Der Pfarrer drückte ihnen die Hand. Klaus erwartete, daß Monika in Tränen ausbrechen würde, aber sie stand ruhig zwischen ihren Eltern, und nur um ihren Mund zuckte es; Frau Bandler hatte ihre Hand ergriffen. Bandlers werden Monika zurücknehmen wollen, dachte Klaus, aber sie wird nicht wollen. Vielleicht verglich sie im Innern den jugendlich gestrafften Stefan Rambin mit dem schwerfälligen Geheimrat.

»Ich muß dich nachher sprechen«, hörte er Ellens Stimme neben sich. Sie gingen zwischen den Gräbern dem Ausgang zu. Ellens graue Augen glitten sachlich über die Kreuze und Grabtafeln. Sie zeigte auf ihre Eltern, zwischen denen Monika ging. »Meine Eltern versöhnen sich mit ihr«, sagte sie in ihrer Art, die immer ein wenig spöttisch klang. »Jetzt könnten sie eine Tochter brauchen.«

»Sie haben doch dich.«

»Nicht mehr lange. Ich werde bald von Hause fortsein.«

»Ich weiß, du wirst Herrn von Steinhammer heiraten.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Wer hat dir das gesagt?«

Er zuckte die Achseln. »Das ist doch das neue Leben, das du beginnst, mit Geld und Ruhm und großen Beziehungen.«

»Ja, das ist das neue Leben. Du hättest es verhindern können, Klaus.«

»Danke, es verlangte mich nicht danach.«

»Sei nicht gehässig. Ich war offen und anständig zu dir. Ehe ich Steinhammer mein Wort gab, habe ich mit dir gesprochen. Hast du übrigens Eduard Frisch gesehen? Er kam in die Leichenhalle. Nachher war er auf einmal fort.«

»Ob er dich vom Scharmützelsee her wiedererkannt hat?«

»Natürlich. Weshalb nicht? Also wir sprechen uns nachher. Es ist nötig. Wegen Ursula.«

»Wegen Ursula!« rief er aus. »Du bist es doch gewesen, die zwischen Frau von Tweel und ihrem Mann intrigiert hat. Du hast ihm von Ursulas Freundschaft mit Stefan Rambin erzählt. Du hast nun auch Herrn von Steinhammer alles berichtet. Jetzt ist mir alles klar geworden. Du mußtest den Vater und die Tochter auseinanderbringen, um dich in das warme Nest zu setzen.«

»Ich wußte, daß du das denken würdest«, sagte sie. »Ursula wird dafür gesorgt haben. Wir wollen uns nachher darüber aussprechen. Aber sei still. Elm geht hinter uns.«

Elm trat zu ihnen. Sie standen vor der Kirchhofstür und ließen Herrn Schulz und den Werkführer an sich vorbeigehen. »Es sind merkwürdige Dinge herausgekommen«, sagte Elm mit hastiger Stimme. »Ich muß sofort nach Berlin zurück.«

›Ursula!‹ durchfuhr es Klaus. Auch Ellen sah ihn erschrocken an. Auf der Straße warteten die Herren mit dem letzten Wagen auf sie.

»Es handelt sich um Geldsachen«, sprudelte Elm heraus. »Haben Sie auch geglaubt, daß der Tote sehr reich ist, Rambin? Ich will Ihnen sagen, er war gar nicht reich. Im Gegenteil. Ich fürchte, das Sägewerk ist bankrott!« Damit drehte er sich um und eilte die Straße hinunter.

Sie warfen sich entsetzte Blicke zu. Herr Schulz hielt den Wagenschlag offen. Sie stiegen ein.


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