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»Wo gehen Sie hin, Elm?« fragte Klaus, als sie draußen standen. Plötzlich fiel ihm ein, daß Ellen Bandler ihn in dem Café treffen wollte. Es war ein kleines verstecktes Lokal in der Nähe des Lützowplatzes. Sie hatten oft dort zusammengesessen.
»Sie haben Dienst, glaube ich«, erinnerte Elm. »Aber ich begleite Sie noch zum Lützowplatz. Nehmen wir uns wieder eine Taxe?«
Sie saßen fröstelnd in dem Wagen, obwohl es draußen warm war. Elm zündete sich eine Zigarette an. Klaus sah sein dunkles Gesicht in dem Schein aufleuchten. Elm sah angegriffen aus. Offenbar arbeitete er zu viel. »Weshalb haben Sie dem Kommissar eigentlich das alles gesagt?« fragte er. »So schlecht stehe ich mit meinem Onkel lange nicht mehr. Und mit Monika, du mein lieber Gott, das ist doch alles so unsicher, mit der Erbschaft und so. Vorläufig ist doch meine Tante noch da.«
»Sind Sie mir deswegen böse?«
»Natürlich nicht. Ich wunderte mich nur. Haben Sie Ellen übrigens in der letzten Zeit gesehen?«
»Fast gar nicht. Ich denke, Sie sehen Fräulein Bandler jeden Tag.«
Klaus schüttelte den Kopf. »Das ist so langsam auseinandergegangen. Wie so etwas kommt. Aber wittern Sie keine Katastrophen. Ellen und ich sind viel zu vernünftig.«
»Die Geschichte wird Ihnen den Rest Ihres Urlaubs verpatzen«, sagte Elm. »Aber da sind Sie.«
Klaus stieg aus. »Sie fahren noch weiter?«
Elm nickte. »Nach Hause oder sonst wohin. Ich schlafe jetzt schlecht in dieser heißen Zeit und treibe mich die halben Nächte umher.«
»Also sonst wohin. Auf Wiedersehen, Elm.«
»Auf Wiedersehen, Rambin.«
Klaus ging durch das kleine Café. Er war müde und hungrig. Trotzdem war es ihm angenehm, nicht allein zu bleiben. Bandlers wohnten in der Kurfürstenstraße. Wenn er telefonierte, würde Ellen in wenigen Minuten dasein.
Aber sie saß schon in einer Nische des hinteren Zimmers. Ihr hübscher glatter Jungenskopf schaute um die Ecke. Sie winkte ihm zu.
Die beiden Schwestern waren wirklich sehr ungleich. Ellen war älter, schon dreiundzwanzig Jahre alt. An ihr war alles durch sportliche Betätigung straff und gefedert. Die regelmäßigen Züge ihres Gesichts waren klar herausgearbeitet. Nur das blonde Haar hatte sie mit der kleineren und weicheren Monika gemeinsam. Ihre grauen Augen blickten kühl und gaben dem Gesicht etwas Strenges und Sachliches. Gerade das hatte er an ihr geliebt. Sie war ihm immer als die ideale Sportkameradin erschienen, voller Kühnheit und Sachlichkeit.
»Da bist du ja. Ich habe schon auf dich gewartet. Was ist alles inzwischen geschehen!«
»Du hast schon von Onkel Stefan gehört?« fragte er.
»Um Gottes willen, ja. Ich mußte dich sprechen und rief Elm an. Da sagte er mir alles. Gibt es etwas Neues?«
Er legte Mantel und Hut ab und setzte sich. »Ich weiß nicht, was Elm dir erzählt hat. Stefan Rambin jedenfalls ist verschwunden. Am Dienstag hat man ihn noch auf der kleinen Station Lindenberg gesehen. Seitdem fehlt jede Spur.«
»Lindenberg bei Bräsikow?« fragte sie erstaunt. »Wo Steinhammers wohnen?«
»Kennst du Steinhammers?«
»Ein wenig. Ich war doch vor einigen Wochen bei ihnen draußen in Bräsikow.«
»Davon hast du mir nie etwas erzählt.«
»Ach, Klaus, was hast du mir denn in der letzten Zeit erzählt? Ich habe dich seit zwei Wochen überhaupt nicht mehr gesehen. Hältst du es wirklich für möglich, daß Onkel Stefan ermordet worden ist?«
»Ich halte es sogar für sicher.«
»Und gerade in der Gegend von Bräsikow? Das wäre ja furchtbar! Was kann er denn dort gewollt haben?«
»Er fuhr am Dienstag von Hause fort, um ein Gut zu kaufen. Jedenfalls hat er so etwas gesagt.« Er schilderte ihr kurz die Ereignisse des Tages und erzählte von dem Scheck, der bei der Bank ausgezahlt war.
Sie hörte gespannt zu. »Merkwürdig. Eduard Frisch hieß der Agent? Aber ich kenne diesen Mann. Onkel Stefan hatte öfters mit ihm zu tun.«
»Du kennst ihn?« fuhr er auf. »Aber das ist doch der Mann, der Stefan Rambin wahrscheinlich ermordet hat!«
»Ich bin einmal mit Onkel Stefan und diesem Eduard Frisch nach dem Scharmützelsee gefahren. Onkel Stefan wollte sich dort eine Besitzung für eines Bekannten ansehen, und ich begleitete ihn.«
»Nach dem Scharmützelsee?«
»Ja. Es war eine wunderbare Besitzung. Und dieser Eduard Frisch soll Onkel Stefan ermordet haben?«
»Wann war denn das?«
»Vor etwa drei Wochen.« Ellen sah nachdenklich vor sich hin. »Ja, um Gottes willen, wir waren noch so lustig zusammen. Ich hatte Onkel Stefan schon lange nicht mehr so übermütig gesehen. Aber wie kamen denn die nach Bräsikow?«
»Es scheint doch, daß dieser Agent Onkel Stefan dort ein Gut angeboten hat. Wahrscheinlich Lengenfeld. Aber das war gar nicht zu verkaufen.«
»Und dort, gerade dort! Ich habe Lengenfeld liegen sehen. Es liegt sehr hübsch. Ein riesengroßer Wald ist in der Nähe. Ein Teil davon gehört zu Bräsikow, und dann schließt sich ein großer Staatsforst an.«
»Du kennst das alles so genau.«
»Ich war doch dort.«
»Aber wir müssen diesen Agenten finden, diesen Eduard Frisch. Weißt du etwas über ihn?«
»Nichts. Nur den Namen. Es war ein ganz ulkiger Mann. Wir lachten viel über ihn. Und dann mußte es so kommen!«
»Du weißt nicht, wo er wohnt und wo er zu finden ist?«
»Eben nicht.«
Sie schwiegen. Klaus verzehrte seine Pastete. Er schob den Teller zurück und sah nach der Uhr. »Eigentlich müßte ich mit dem letzten Zug nach Michaelsbrück. Tante Agathe ist natürlich völlig zusammengebrochen.«
»Ach Klaus, ich wollte so viel mit dir besprechen, und nun ist diese Sache mit Onkel Stefan dazwischengekommen. Mußt du wirklich hinausfahren? Tante Agathe hat doch die häusliche Monika, die mir zu Hause immer als Muster vorgehalten wird. Aber da fühlst dich wohl schon in deiner Rolle als Familienoberhaupt und Herr des Sägewerks. Vater hat es ja immer vorausgesagt, daß es so kommen würde.«
»Ellen, ich bitte dich! Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.«
Sie lachte in ihrer spöttischen Art auf. »Dann wird Monika daran gedacht haben. Hat sie vielleicht ihre Taktik dir gegenüber schon geändert? Bisher war sie die feindliche Erbin, aber ich möchte wetten, daß sie jetzt zugänglich geworden ist. Habe ich recht?«
»Du bist nicht recht gescheit!«
»Ach, lehre mich die stillen Gretchennaturen kennen, Klaus! Da wissen wir Frauen besser Bescheid. Führe mich vor ihren Kleiderschrank, und ich werde dir genau sagen, welches Kleid sie zu deinem Empfang anziehen wird. Wie ich sie kenne, wird sie ein weißes Waschkleidchen mit breitem Spitzenkragen wählen. Na, habe ich recht?«
»Ja, du hast recht«, lachte er. »Irgend so etwas trug sie allerdings.«
»Na also, sie wird doch das Sägewerk in Michaelsbrück nicht auslassen!«
»Das hat sie auch nicht nötig«, sagte er ernst. »Wenn Onkel Stefan wirklich etwas zugestoßen sein sollte, dann würde ich natürlich seinen Willen respektieren.«
»Uh!« machte sie belustigt. »Seit wann respektierst du denn Onkel Stefans Willen? Dann hat Monika also bereits das richtige Kleid getragen. Aber würdest du das wirklich? Das Recht ist doch ganz auf deiner Seite. Monika hätte keinerlei Ansprüche.«
»So habt ihr das wohl auch immer Monika vorgestellt?« fragte er scharf. »Und vielleicht sogar, daß ich die Abfassung des Testaments verhindert habe!«
Sie hielt seinem Blick stand. »Nun, jedenfalls hattest du wenig Interesse daran, daß das Testament aufgesetzt wurde. Ich an deiner Stelle hätte Onkel Stefan auch nicht gerade wegen des Testaments für Monika gedrängt.«
»So, nun verstehe ich Monikas Mißtrauen gegen mich. Du bist es gewesen, die ihr klargemacht hat, daß ich ihr Feind bin.«
Ellen lachte auf. »Ich bin eine furchtbare Intrigantin, nicht wahr? Ach Klaus, ich habe zu dir gehalten, als du noch kein reicher Erbe warst. Ich nehme solche Dinge ganz sachlich und natürlich. Monika hat ihr Reitpferd und ihre Boote. Sie hat mit ihren Pflegeeltern große Reisen machen können. Sie ist ein Jahr in London gewesen. Aber ich, was habe ich vom Leben gehabt? Um jedes Paar Strümpfe habe ich darben müssen. Ich weiß, wie schön es ist, Geld zu haben. Ich kann auch ohne Geld leben, Klaus, den Beweis habe ich erbracht. Aber mit Geld lebt es sich schöner. Ich will dir nur gestehen, daß gerade Monika meinen Ehrgeiz gestachelt hat.«
»Wie das?« rief er. »Die kleine bescheidene Monika!«
»Ja eben, die kleine bescheidene Monika, der alles in den Schoß gefallen ist, was sie sich nur wünschen kann. Ich aber mußte selber etwas aus mir machen, und jetzt ist es so weit.«
Er sah sie fragend an. Ihr Gesicht strahlte. »Ich bin zum Großen Preis von Wiesbaden genannt!« rief sie. »In acht Tagen werde ich hinfahren. Das ist erst der Anfang, aber jetzt wird es losgehen mit mir.«
»Donnerwetter!« rief er. Er hatte gewußt, daß sie auf dieses Ziel mit der ganzen Energie ihres Wesens hinsteuerte, aber er hatte nicht geglaubt, daß sie es so rasch erreichen würde. »Eine zweite Helen Wills!«
»Eine erste Ellen Bandler!« widersprach sie lachend. »Zwei Jahre habe ich darauf hingearbeitet. Monika weiß nicht, was es heißt, aus sich selbst etwas machen zu müssen. Sollte ich eine Geheimratsgöre bleiben, mich womöglich mit einem kleinen Assessor verloben und auch mein Leben in diesem Beamtentrott zubringen? Ich habe das Elend zu Hause gesehen. Fünf Kinder waren wir ohne Monika. An jeder Mittagsmahlzeit, an jedem Stück Wurst mußte gespart werden. Wir Kinder durften abends nicht die Lampen brennen, weil das elektrische Licht zuviel kostete. Und jetzt? Ich werde nach Wiesbaden geschickt, und alle sagen, daß ich etwas machen werde.«
»Das ist fabelhaft! Wirklich! Ich gratuliere!«
»Bist du nun mit mir zufrieden? Ach Klaus! Du hast es dir ja auch sauer werden lassen und hast aus dir selber etwas gemacht, ohne Stefan Rambin. Monika aber wird weiter in Michaelsbrück sitzen und wird nichts sein, eine kleine Haustochter. Ich aber werde jetzt die Welt kennenlernen. Mein Name wird in den Zeitungen stehen. Ich werde in den internationalen Sportkreisen leben und Geld haben.«
»Das wirst du!« sagte er. »Du kannst eine gute Klasse werden.«
»Von dir habe ich ja das meiste gelernt«, lachte sie ihn an. »Ich war so glücklich, als ich es heute erfuhr, und dachte gleich an dich. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, daß wir beide das Ereignis feiern würden. Aber da ist nun die Sache mit Onkel Stefan gekommen. Es ist furchtbar, du. Und daß das gerade bei Bräsikow geschehen ist!« Sie rührte zerstreut in ihrer Kaffeetasse und hielt in dieser Beschäftigung nicht inne, als sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Höre, Klaus, wir sind doch keine Kinder und können wie vernünftige Menschen sprechen. Unsere Freundschaft ist so allmählich eingeschlafen. Eigentlich tut mir das leid. Wir sind so gute Kameraden gewesen.«
»Ja, das sind wir wirklich gewesen, Ellen. Ich weiß auch nicht, wie es kam. Es war eine Abneigung gegen alle Menschen in mir. Ich habe auf dem Sportplatz in der Sonne gelegen und gearbeitet. Du zogst dich ja auch von mir zurück.«
»Ich mußte wegen Wiesbaden trainieren. Ich wollte dich damit überraschen. Aber als wir uns neulich trafen, merkte ich, daß du anders geworden bist. Und auch heute ist es so. Du bist anders geworden. Klaus. Aber wie du willst. Komm, ich möchte nach Hause gehen.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern stand auf. Noch eben hatten ihre Züge einen fast weichen Ausdruck gehabt, jetzt zeigte sie wieder das klare rassige Sportgesicht. »Komm«, sagte sie noch einmal, »du kannst mir draußen alles sagen.«
Sie gingen über den Lützowplatz und bogen in die Kurfürstenstraße ein. Hier war jeder Schritt voller Erinnerungen für sie beide. Im vergangenen Sommer hatte Ellen jeden Nachmittag am Lützowplatz auf ihn gewartet, wenn er von seinem Büro kam. In endlosen Gesprächen waren sie unter den Kastanien des Kanals entlanggegangen, dann über den Platz zurück und bis zu der Bandlerschen Wohnung. Auch Ellen dachte daran und schob ihren Arm in den seinen.
»Klaus, denke nur nicht, daß ich dir nachlaufen will. Vielleicht habe ich auch gar nicht das richtige Kleid dazu an. Aber es tut mir leid, daß wir auseinandergekommen sind.«
»Es muß etwas in uns gewesen sein, was uns auseinanderdrängte. Vielleicht sind wir zu gute Kameraden gewesen.«
»Du, das kann möglich sein. Ich wollte dich jedenfalls offen fragen, wie wir miteinander stehen. Denn ich bin an einem Kreuzweg angelangt.«
»Das ist anständig von dir, Ellen, daß du diese Unterredung herbeigeführt hast. Du bist ein riesig anständiges Mädel. Da hast also eine neue Liebe?«
»Liebe? Keineswegs!«
»Ich dachte. Es läuft doch in euerm Tennisklub genug herum.«
»Genug und nicht genug«, sagte sie lächelnd. »Nein, Klaus, eine neue große Liebe ist nicht gekommen. Vielleicht will ich auch gar nicht mehr. Ich will vorwärts, hochkommen, berühmt werden. Das will ich, und dazu gibt es jetzt vielleicht eine Chance. Ich kann dir das noch nicht so sagen. Du hättest das vielleicht ändern können. Doch es ist vielleicht besser, wie es jetzt ist.«
Sie waren an ihrem Haus angelangt. »Tu mir einen Gefallen, Klaus. Komme morgen vormittag oder mittags zu uns. Ich möchte vor meiner Familie nicht, daß es so wie ein Bruch zwischen uns aussieht. Wirst du kommen?«
»Aber selbstverständlich, Ellen. Ich komme dann morgen vormittag, bevor ich hinausfahre. Und von Bruch ist nicht die Rede!«
»Also auf Wiedersehen, Klaus!«
Er ging langsam die dunkle Straße weiter.