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1

Frau Agathe Rambin in Michaelsbrück bei Berlin hatte sich zunächst bei dem Anruf des Agenten gar nichts gedacht. Erst am nächsten Tag, am Donnerstag, da ihr Mann noch nicht zurück war, fiel ihr ein, daß der Güteragent angerufen und sich darüber beklagt hatte, daß Herr Rambin nicht an der verabredeten Stelle gewesen wäre. Den ganzen Tag über hatte sie ein Gefühl von Unruhe, das gegen Abend zunahm. Er wird morgen, am Freitag, kommen, versuchte sie sich zu beruhigen.

Sie ging in Gedanken die Woche durch: Am Montagvormittag war er nach Berlin gefahren. Das war nichts Außergewöhnliches. Der Besitzer des großen Sägewerks fuhr mehrmals in der Woche nach Berlin. Am Nachmittag hatte er etwas von der Besichtigung eines Gutes verlautbaren lassen, das ihm zum Kauf angeboten wäre. Auch das kannte man von ihm. Er kaufte Güter, schlug den Wald nieder, forstete eilig auf und verkaufte. Am Dienstag früh war er dann fortgefahren, und am Mittwoch hatte der Agent, dessen Name Agathe nicht verstand, angerufen. Am Donnerstag abend war Rambin noch immer nicht zurück.

Agathe schlief in der Nacht schlecht. Sie hätte sich noch unruhiger in ihrem Bett gewälzt, wenn sie nicht gefürchtet hätte, ihre Pflegetochter Monika zu stören, die im Nebenzimmer schlief. Sicher war auch Monika schon in Sorge. Von Stefan Rambin war man immer auf Ungewöhnliches gefaßt, obwohl seine Gewohnheiten eigentlich keinen Anlaß dazu boten. Es lag mehr in seinem unruhigen Wesen. Agathe entsann sich vieler Nächte, in denen sie auf ihren Mann gewartet hatte. Seit einiger Zeit war es wie eine Warnung in ihr, daß etwas Unvorhergesehenes eintreten würde. Dabei konnte sie weder einen Grund für ihre Befürchtung angeben, noch verband sich mit ihren Ahnungen irgendeine noch so undeutliche Vorstellung. Im Grunde war es immer so gewesen, seit den ersten Wochen nach ihrer Hochzeit, daß das dumpfe Angstgefühl sie nicht losließ. Manchmal dachte sie an fremde Frauen, die in seinem Leben eine Rolle spielen mochten und von denen sie nichts wußte. Aber auch dafür hatte sie keinen eigentlichen Anhalt.

Am nächsten Morgen, am Freitag, war Stefan Rambin immer noch nicht zurück. Gott sei Dank, daß wenigstens Klaus Rambin, sein Neffe, erwartet wurde. Klaus würde einen Rat geben und etwas veranlassen. Agathe ging in die Mansardenetage hinauf, wo das Stubenmädchen das Gastzimmer für Klaus in Ordnung brachte. Die Gastzimmer waren, obwohl es Juni und ein wunderbar heißer Sommer war, seit Wochen nicht benutzt worden. Die Luft in ihnen war stickig, und in den Ecken hatten sich Spinnweben angesammelt.

Auch das schien ihr auf einmal ein beängstigendes Anzeichen. In den früheren Jahren war das Haus um diese Zeit von Gästen erfüllt gewesen. Immer kamen Geschäftsfreunde Stefan Rambins für einige Tage oder auch Wochen hinaus und schickten Söhne und Töchter. Von dem Tennisplatz unten am Wasser kam das laute Rufen und Lachen. Die beiden Ruderboote waren immer unterwegs. In der Diele mit den großen Geweihen über den Türen stieß man auf Gestalten, die in Bademänteln auf ihre Zimmer huschten und nasse Spuren auf der Treppe hinterließen.

In diesem Jahr waren noch keine Gäste gekommen. Klaus würde der erste und einzige sein. Das Treppenhaus lag in unheimlicher Stille da, nur die Dielen knackten unter Agathes Fuß. Weshalb hatte Stefan niemanden eingeladen? Irgend etwas schien in der Luft zu liegen. Sie suchte sich sein Gesicht zu vergegenwärtigen, ohne eine Änderung feststellen zu können. Die Züge waren frisch und gestrafft wie immer gewesen, die Augen von ihrem leuchtenden Grau. Nur das weiße Haar, dessen Stirnlocke besonders gepflegt wurde, erinnerte an sein Alter. Stefan Rambin war fast fünfzig. Aber das Haar war seit fast zehn Jahren schon weiß. Agathe konnte sich kaum darauf besinnen, daß es einmal dunkel gewesen war.

»Der Herr ist noch immer nicht zurück!« sagte sie zu dem Mädchen und ordnete an, daß der alte Sekretär gegen das Fenster gerückt wurde. Klaus hatte in diesem Zimmer nach dem frühen Tode seiner Eltern einige Knabenjahre verlebt. Er liebte es, das Zimmer genau so wiederzufinden, wenn er, wie alljährlich, einen Teil seines Urlaubs in Michaelsbrück verbrachte.

»Wo ist der Herr denn hin?« fragte das Mädchen.

»Ach, er wollte sich ein Gut ansehen und Mittwochabend zurück sein.«

Sie ging nach unten. Aus dem Herrenzimmer führte eine Tapetentür in den Büroanbau. Dieser Anbau hatte sich nicht umgehen lassen, obwohl das weiße Mauerwerk sich schlecht neben der im norwegischen Stil erbauten Villa ausnahm. Dort war in drei Räumen die kaufmännische Leitung des Sägewerks untergebracht. Agathe wußte schon, daß sie dort nichts erfahren würde. Herr Schulz, der Geschäftsführer, bekümmerte sich nur um das Sägewerk und das damit verbundene Bau- und Zimmereigeschäft. Besonders in Scheunen- und Wasserbauten hatte die Firma einen Ruf. Alles andere erledigte Stefan Rambin selbst an dem Schreibtisch seines Herrenzimmers. Manchmal ließ er sich von Monika helfen. Aber auch für Monika blieben seine geschäftlichen Unternehmungen undurchsichtig.

Herr Schulz, der immer mit der Feder hinter dem Ohr am Fenster saß, schon weil er von dort einen schmalen Streifen der Chaussee überblicken konnte und auf diese Weise durch die vorbeiflitzenden Autos seinen Anteil am Leben hatte, fand es durchaus in Ordnung, daß Herr Rambin in der Welt herumfuhr und seine persönlichen und geschäftlichen Verbindungen pflegte. Das war die unsichtbare Wand, gegen die Agathe überall stieß. Stefan Rambin gehörte in die Welt, und sie, seine Frau, war ein wenig lächerlich, wenn ihre Gedanken ihn verfolgten. Sie las es auch jetzt in dem Lächeln von Herrn Schulz: Mein Gott, Stefan Rambin, dieser großartige und jugendlich gespannte Mann, und sie, die schwerfällig gewordene Matrone! Mit einem leisen Seufzen ging sie zurück. Auf der Veranda war der Frühstückstisch gedeckt. Monika kam gerade vom Morgenritt zurück und warf das blonde Haar von der erhitzten Stirn nach hinten. Ihr Blut klopfte in den Adern mit der Spannung ihrer neunzehn Jahre. Das Gesicht war von der raschen Bewegung gerötet. Sie legte die Gerte fort und goß sich noch im Stehen die Tasse ein. »Papa bleibt doch oft weg«, sagte sie. Sie nannte ihn »Papa« und Agathe »Mutti«. Ihr richtiger Vater war der Bruder Agathes, Geheimrat Bandler, aber sie lebte schon seit ihrem vierten Jahr bei Rambins und war völlig als Tochter angenommen worden.

»Nein«, sagte Agathe, »eigentlich hat Papa immer richtig angegeben, wann er zurückkommt.«

»Du weißt also gar nicht, wo das Gut liegt und wo Papa hingefahren ist?« Monika fand das bezeichnend für die Ehe ihrer Pflegeeltern. Sie liebte »Papa«, diesen gutaussehenden Mann mit dem jungen Gesicht und dem weißen Haar. Monika dachte manchmal, daß »Mutti« nicht die richtige Frau für ihn sei. Agathe war still und vornehm und sah gut aus, aber es war etwas Lebloses an ihr. Stefan Rambin aber sprühte von Leben.

Der Kies der Auffahrt lag grell von der Morgensonne beschienen. Die Hecke deckte gegen Sicht von der Straße. Man hörte es nur an dem Poltern der Wagen oder an auffliegenden Worten, wenn draußen jemand vorüberkam. Das Haus mit dem braunen Holzbeschlag lag ein wenig erhöht auf einem kleinen Hügel. Hinten fiel der Garten zu dem Holzplatz und der Schneidemühle ab. Der große Havelsee streckte einen breiten Zipfel gegen das Sägewerk vor. Hier war das Wasser mit braunen Stämmen bedeckt, die sich wie atmend leise auf- und abbewegten, besonders wenn draußen ein Dampfer vorüberfuhr und Kielwellen aussandte. Es roch weit und breit nach Holz. Immer lag das Brummen der großen Kreissäge in der Luft. Man horchte gar nicht mehr hin, wenn die Stämme unter dem Stahl aufschrien.

Alle Menschen kannten das Sägewerk von Michaelsbrück, das immer noch, fast als einziges in der Mark, in voller Tätigkeit war. Stefan Rambin wußte die Aufträge hereinzuholen. Darin lag seine Besonderheit. Wo er auch hinkam, spielte er eine Rolle. In Michaelsbrück war er in allen Konferenzen und Ausschüssen anzutreffen, aber man wußte auch, daß seine eigentlichen Beziehungen sich nach Berlin erstreckten. Dort saß er im Aufsichtsrat der Gewerbe-Vereinsbank, die er mitbegründet hatte. Man sah Stefan Rambin in Michaelsbrück kaum anders, als daß er mit dem breiten grauen Schlapphut und der dickgefüllten Aktenmappe unter dem Arm die Bahnhofstraße entlangging, um im letzten Augenblick durch die Sperre zu eilen und in den Vorortzug nach Berlin zu springen. Wenn die Michaelsbrücker in den Berliner Zug gerieten, saß immer in einer Ecke des Abteils zweiter Klasse Stefan Rambin hinter seiner Zeitung.

»Du mußt dich umziehen, Kind«, erinnerte Agathe. »Klaus wird in einer halben Stunde hier sein.«

»Ach, Klaus!« sagte Monika und zog die Schultern hoch. Es war ein offenes Geheimnis, daß sie und Klaus sich nicht leiden konnten. »Hast du wenigstens den Namen des Agenten behalten, der am Mittwoch anrief?«

Agathe dachte nach. »Eben nicht. Ich glaube, er nannte einen Namen, aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich wußte zunächst überhaupt nicht, worum es sich handelte.«

»Was sagte der Mann denn, Mutti?««

»Er sagte, daß er sich mit Papa am Schlesischen Bahnhof verabredet hätte, aber Papa wäre nicht gekommen. Ich konnte nur sagen, daß Papa fortgefahren sei. Ich dachte auch daran, daß Papa seine Gründe haben mochte, den Mann nicht zu treffen. Wir wollen das mit Klaus besprechen, Kind. Er muß ja bald hier sein.«

Monika nickte. Klaus war klug und zuverlässig. Sie sah besorgt zu Agathe hinüber. Eigentlich fand sie nicht, daß ein besonderer Grund zur Aufregung vorhanden war.

Währenddes stieg Klaus Rambin mit seiner Handtasche auf dem kleinen Bahnsteig aus. Der Bahnhof von Michaelsbrück lag hoch über der Schlucht, die der kleine Fluß in die Sandberge gerissen hatte. Man sah von hier auf den Ort hinunter und über den weiten See, der auf der anderen Seite von blauen Wäldern umgrenzt war. Hinter den roten Dächern lag die kleine Bucht, auf der die nassen braunen Baumstämme wie eine dicke Haut lagen und in der Sonne glänzten. Zwischen Büschen schimmerte sogar das dunkle Schindeldach der Villa Rambin herüber.

Jedesmal, wenn Klaus hier ankam, blieb er einige Sekunden stehen und warf einen Blick über die weite Landschaft, ehe er die Treppen hinunter zur Sperre ging und die Bahnhofstraße entlangschritt. Hier kannte er jedes Haus. Immer hielt an der Ecke vor der Konditorei der große gelbe Autobus, der über Tegel nach Berlin hineinging. Auch in der Berliner Straße, die den Ort durchquerte und in der die wenigen Läden lagen, erkannte man noch die alten Bauernhöfe, auch wenn die Scheunen hinten zu Lagerräumen oder Garagen umgebaut waren. Hinter »Wendlands Warenhaus« hörte das Pflaster auf, und die Häuser wurden richtige Bauernhäuser. Die breite Straße teilte sich und lief um die alte Kirche herum, deren hölzerner Turm aus Fliederbüschen aufstieg. Gleich dahinter fing mit einer breiten Dampferanlegestelle der See an. Segelboote und Kähne lagen längs des Ufers, hoben und senkten sich unter dem Atem des Wasserst

Hinter dem Kirchhof mit der schwarzgestrichenen Leichenhalle bog Klaus vom See ab und ging quer durch den Wald auf die Bucht zu, an der das Sägewerk ein wenig abseits des Ortes lag. Hier lief, den Ort umgehend, die Berliner Chaussee vorbei. Immer kamen einige Autos angeprescht, gaben vor dem Querweg Signal und hatten kleine Staubwolken unter sich. Ein wenig tiefer als der Damm lagen die kleinen Häuschen der Beamten und Angestellten. Klaus Rambin kannte sie alle. Auch ein Laden lag dort, in dem es alles zu kaufen gab, von Zigaretten und Likören bis zu Knöpfen und Fitzelbändern. Gleich hinter dem Laden begann die Hecke des Rambinschen Gartens. Man mußte durch die Toreinfahrt hindurch, die zu dem Sägewerk führte. Hier unterlag man schon den kontrollierenden Blicken des Herrn Schulz. Nach rechts bog die Auffahrt zu der Villa ab. Ein rundes Rosenbeet lag vor der Veranda. Klaus Rambin blieb stehen und roch an den Blumen. Die Rasenflächen des Gartens verliefen sich in den Baumgruppen. Ein selbsttätiger Sprenger warf rundum Wasserbüschel, in denen alle Regenbogenfarben zitterten. Vom Holzplatz her kamen Rufe der Männer und das Stöhnen der Baumstämme unter der Säge. Klaus Rambin atmete den kräftigen Holzgeruch ein. Dieser Platz mit seinen vertrauten Geräuschen war immer wieder so schön, wie er ihn in der Erinnerung bewahrte.

»Da bist du!« rief Monika von der Veranda her. Agathe hatte ihn vom Fenster aus beobachtet und kam nun auch heraus. Klaus sah in ihr bleiches und übermüdetes Gesicht. »Was habt ihr denn?« fragte er erschrocken und stellte die Handtasche auf die Bank.

»Papa ist seit Dienstag fort und noch immer nicht zurück.«

»Onkel Stefan? Wo ist er denn hingefahren?«

Monika erzählte. Agathes Augen hingen fragend an seinem Gesicht. Eigentlich erwartete sie, daß er eine beruhigende und einleuchtende Erklärung geben würde. Aber sein Gesicht wurde ernster, je länger Monika sprach.

»Hat er wirklich von einem Gut gesprochen, das er kaufen wollte?« fragte er. »Dann wird er Geld mitgenommen haben. Man pflegt sich zu solchen Geschäften einen beglaubigten Scheck einzustecken.«

Die beiden Frauen sahen sich erschrocken an. Seine Worte enthüllten plötzlich eine furchtbare Möglichkeit. In dem Augenblick knatterte draußen mit lautem Krach ein Lieferauto vorbei. Es war, als wollte das knallende Geräusch die Situation unterstreichen. Sie zuckten unwillkürlich zusammen. Auf einmal war die Atmosphäre mit Angst geladen. »Daß ich das auch vergessen konnte!« rief Agathe, und ihre Stimme zitterte. »Natürlich hat er Geld mitgehabt, eine große Summe!«

»Mit welcher Bank arbeitet er denn?«

Sie sahen fragend auf Monika, die Stefan Rambin manchmal geschäftlich half. »Mit der Gewerbe-Vereinsbank meistens«, sagte sie, »aber manchmal auch mit anderen Banken. Soll ich Elm anfragen?«

Elm war Abteilungsvorsteher bei der Berliner Gewerbe-Vereinsbank und Stefan Rambins geschäftlicher Vertrauter. Er kam manchmal zu Besprechungen nach Michaelsbrück hinaus. Klaus kannte ihn auch vom Sportplatz her. Sie waren in der gleichen Vereinigung. »Ja, rufe Elm an. Er wird uns etwas sagen können. Vielleicht kennt er sogar diesen Agenten.«

Sie gingen hinein. Monika ließ sich mit Berlin verbinden.


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