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Das Auto hatte schon Oranienburg hinter sich. Agathe sprach kein Wort. Ihre Augen starrten auf den Rücken des Schofförs, der unverändert blieb. Nur in den Kurven krümmten sich die Falten seiner Windjacke ein wenig anders. Auch Klaus Rambin hatte wenig Lust zu sprechen. Erst in Lengenfeld würde sich ein Zipfel des unheimlichen Rätsels lüften.
Unendlich dehnten sich die Wälder. Gut eine halbe Stunde fuhren sie zwischen dürren Kiefern dahin. Der Blick verlor sich im Dunkel der unzähligen Stämme, die vorüberkreiselten. In kleinen Lichtungen lagen dürftige Dörfer. Gelbe Roggenfelder kamen von den Hängen der welligen Hügel angeschwommen. Unermeßlich fern schien dieses Land von allen Städten zu liegen. Einmal fuhren sie an einem See vorüber, dessen Schilfufer, mit braunen Erlen bewachsen, sich an dem Damm des Weges verlor. Wie sollte man hier die Spuren eines Menschen auffinden, der verschwunden war? Irgendwo im Schilf mochte er liegen oder auf dem Grund eines dieser vielen Seen, die die Landkarte als blaue Flecken zeigte, oder in dem dichten Gestrüpp, das aus tiefen Gründen aufquoll und sich gegen die Chaussee bauschte.
Klaus Rambin schloß die Augen. Er konnte das Andrängen dieser Landschaft nicht aushalten. Überall sah er Verstecke, Hinterhalte, heimliche Pfade. Schnurgerade Schneisen und verschwiegene Wege liefen von der Chaussee ab in den Wald hinein. Genau solch ein Weg war auf dem Kartenblatt, das sie in dem Atlas gefunden hatten, mit Bleistift nachgezogen worden. Vielleicht lag Stefan Rambins Leiche neben einen solchen Weg im Dickicht, überall konnte es sein. Überall liefen diese Wege ab, in denen sich der Blick verlor. Noch immer ragte der unbewegliche Rücken des Schofförs vor ihnen auf, wie eine Gebirgswand, die sich langsam vor ihnen herschob.
Als er die Augen geschlossen hatte, wurden seine Gedanken ruhiger und begannen um Stefan Rambin zu kreisen. Stefan Rambin war fort! Auf einmal begriff er die Tatsache: Stefan Rambin war fort und würde nie wiederkehren!
Er ertappte sich dabei, daß es fast wie ein Triumph in ihm aufklang. Er suchte das Gefühl zu dämpfen, warf einen verstohlenen Blick zu Agathe hinüber, die noch immer ohne Laut dasaß und vor sich hinstarrte. Plötzlich wunderte er sich, daß kein mißtrauischer Gedanke von dieser Frau zu ihm hinüberschlug. Hatte man so völlig vergessen können, was zwischen ihm und Stefan Rambin gespielt hatte? Seine frühe Knabenauflehnung gegen diesen Mann, den alle anderen vergötterten? Ein verstecktes Lächeln flog um seinen Mund. Wie weit war er heute entfernt von dem Haß, der seine Knabenjahre erfüllt hatte. Wirklich, er haßte ihn nicht mehr. Er hatte seinen Weg selbst gefunden. Das Geld, das Stefan Rambin ihm zum Studium vorgeschossen und das er widerwillig angenommen hatte, war zum größten Teil mit Zinsen zurückgezahlt worden, und mit der Schuldsumme hatte sich seine Abneigung gegen den Geber verringert. Und dennoch wollte das heimliche Frohlocken in ihm nicht zur Ruhe kommen.
Wenn Klaus an Stefan Rambin dachte, dann rollte sein ganzes Leben vor ihm ab. Kein Mensch hatte tiefer auf ihn eingewirkt. Die Gestalten der Eltern verloren sich im Nebel der Kindheit. Aber dann tauchte Stefan Rambins Gestalt bestimmend auf, der Mann mit den leuchtend grauen Augen. Damals hatte er nicht gewußt, aus welchen Gründen seine Abneigung gegen den Erfolgssicheren aufstieg, der keinen Widerspruch vertragen konnte. Vielleicht waren sie im tiefsten Grunde einander zu ähnlich. Je inniger der Knabe mit Michaelsbrück, dem Sägewerk und dem See, verwuchs, desto heftiger war seine Abneigung gegen den Beherrscher dieser Welt geworden, bis er schließlich in knabenhafter Wut den Stein gegen ihn geschleudert hatte, von dem die Narbe noch heute auf der Stirn des Getroffenen sichtbar geblieben war. Damals wurde Klaus aus dem Hause entfernt und nach Berlin in Pension gegeben.
Nie wieder hatte sich ein ähnlicher Wutausbruch bei ihm gezeigt. Es schien, als wäre mit seiner Entfernung von Michaelsbrück seinem Trotz die Nahrung entzogen worden. Ohne besondere Zwischenfälle absolvierte er das Gymnasium und die Universität. Nach dem juristischen Doktor war er in ein Handelshaus eingetreten, hatte durch außergewöhnliche Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit das Vertrauen seiner Vorgesetzten erworben und war in kurzer Zeit trotz seiner erst siebenundzwanzig Jahre zum juristischen Syndikus der Firma aufgestiegen. Auch Stefan Rambin mußte seine Fähigkeiten anerkennen. Er tat das in der geräuschvollen Art, mit der er alles anerkannte, was im Begriff stand, sich durchzusetzen.
Nur Klaus Rambin selber konnte beurteilen, wie stark sein Wesen durch Onkel Stefan bestimmt war. Äußerlich waren die beiden völlig verschieden. Stefan Rambin war hoch und schlank gewachsen, Klaus mittelgroß und eher breit. Auf den ersten Blick schien es, als wenn der Onkel der geistiger und komplizierter angelegte Mensch wäre, und nur der schärfere Beobachter erkannte in den unscheinbaren Zügen des Neffen den ernsten und problematischen Charakter. Der glänzenden Repräsentation, wie Stefan Rambin sie liebte, ging Klaus aus dem Wege. Er las viel und verbrachte seine freie Zeit größtenteils auf dem Sportplatz, der in der Nähe seiner Wohnung in Eichkamp lag. Aus einem fast schüchternen und keineswegs robusten Knaben hatte er sich allmählich zu einem selbstbewußten tüchtigen Sportler entwickelt. Er liebte die Einsamkeit und besaß kaum Freunde, eher Sportgenossen, die an ihm hingen und zu ihm aufsahen. Nur er selber wußte, daß diese Lebenshaltung aus einem bewußten Gegensatz zu Stefan Rambin hervorgegangen war. Ohne das Beispiel des Onkels wäre er vielleicht ganz anders und in vielem ihm ähnlicher geworden.
Aber auch so fand er bei sich selber immer noch genügend Ähnlichkeiten zwischen sich und Stefan Rambin. Von dem inneren Vergleich mit dem Onkel schien er nicht loskommen zu können. Wenn er in einer Konferenz aufstand, um seine Meinung zu vertreten, hörte er plötzlich Stefan Rambin aus sich sprechen, und manchmal stellte er sogar verwundert Übereinstimmungen ihrer Handschriften fest. Vielleicht hatten sie sogar die gleiche Art, die Menschen unter ihren Willen zu zwingen. Nur erreichte der Ältere alles mühelos durch bestrickende Liebenswürdigkeit, während es Klaus darin schwerer hatte. Klaus litt oft unter der Vorstellung, daß er Stefan Rambin vielleicht nur beneidete, und gerade in den letzten Wochen war aus einem ganz bestimmten Anlaß dieses Mißtrauen gegen sich selbst von neuem aufgetaucht.
Aber es war nicht nur der Gegensatz zwischen ihnen, über den Klaus nachdenken mußte, während er neben Agathe in dem Auto saß. Seit Wochen hatte er das Gefühl einer Krise, die sein ganzes Leben verwandeln mußte. Vielleicht hing auch das mit seiner letzten Begegnung mit Stefan Rambin in Berlin zusammen. Wochen voll innerer Unruhe lagen hinter ihm. Den ersten Teil seines Urlaubs hatte er, allen Menschen ausweichend, auf dem Sportgelände oder auf langen Wanderungen verbracht. Selbst Ellen Bandler, seiner Freundin, war er aus dem Wege gegangen.
Klaus hatte Zeiten, in denen er unter seiner Abhängigkeit von fremden und ihm, wie er fühlte, unterlegenen Menschen litt. In solchen Stimmungen beneidete er Stefan Rambin auch wegen seiner Unabhängigkeit und verstand nicht, wie wenig Gebrauch der Onkel von ihr machte, den sein Ehrgeiz im Gegenteil zu immer neuen Verbindungen und Abhängigkeiten verführte. Es konnte vorkommen, daß er sich selbst an Stefan Rambins Stelle träumte und die kaufmännischen Entwicklungsmöglichkeiten des Sägewerks und des Baugeschäfts durchdachte. Damals, als Klaus von Stefan Rambin ins Haus genommen war, hatte der Onkel in ihm den Nachfolger und Erben heranziehen wollen, und diese Vorstellung hatte sich in dem Knaben festgesetzt. Er bereute seine feindselige Haltung gegen den Onkel nicht. Das war ein Widerstand gewesen, der von innen her kam und dessen Berechtigung Klaus nicht anzweifeln konnte. Wenn er noch einmal vor der Wahl gestanden hätte, er würde sich nicht anders entschieden haben. Auch jetzt wäre ein Zusammenarbeiten zwischen Stefan Rambin und ihm unmöglich gewesen. Und dennoch kam er nie völlig von dem Traum los, in Michaelsbrück einmal als Herr auf eigenem Grund und Boden zu wirken. Das war der ängstlich geheimgehaltene Grund, weshalb er immer wieder im Sommer für eine Woche zu den Verwandten hinausfuhr. Jeder Teil des Holzplatzes war ihm vertraut. Er kannte die Leistungsfähigkeit jeder Säge und verfolgte mit Eifer die komplizierten Vorgänge auf dem Holzmarkt. Dabei war er sich vollkommen bewußt, daß aus solchen Träumen nie Wirklichkeit werden würde. Jeden Morgen erinnerte ein Blick in den Spiegel Stefan Rambin an den Steinwurf des Knaben, und immer wieder kam in ihren Unterhaltungen die alte Gegensätzlichkeit in ironischen Zwischenbemerkungen zum Vorschein. Die Stelle, die Klaus ursprünglich in dem kinderlosen Hause hätte einnehmen können, wurde von Monika Bandler eingenommen. Klaus war sich vollkommen darüber klar. Der Traum von Michaelsbrück war nur eine Spielerei, die er seinen Gedanken erlaubte.
Und doch! Von dem Augenblick an, als er von Stefan Rambins Verschwinden gehört hatte, stand es für ihn fest, daß das Erbe ihm jetzt zufallen mußte. Monika war noch nicht adoptiert worden. Ein Vierteljahr trennte Stefan Rambin von dem für eine Adoption vorgeschriebenen Alter von fünfzig Jahren, und es war mit Sicherheit anzunehmen, daß er kein Testament zu Monikas Gunsten hinterlassen haben würde. Wie ein Blitz schlug diese Überlegung in Klaus ein. Wenn Stefan Rambin jetzt wirklich etwas zugestoßen war, dann war er, sein einziger Blutsverwandter, neben Tante Agathe der Erbe.
Er versuchte, diesen Gedanken zurückzudrängen, aber immer wieder stieg er in ihm auf, bot sich in immer neuer Gestalt dar. Nein, für Monikas Stellung zeigte sich keine juristische Grundlage. Er selber, Klaus Rambin, war der Erbe!
»Ist es noch weit?« fragte Agathe neben ihm. Klaus schrak auf und sah nach der Karte. Sie fuhren durch ein Dorf. Es war über die Hälfte des Weges. Die blasse Frau an seiner Seite fiel in ihr Schweigen zurück. Noch immer ragte der Rücken des Schofförs unbeweglich vor ihnen auf.
Ein unendliches Mitleid mit Tante Agathe durchfuhr Klaus. Diese Frau ahnte nichts von den zahlreichen Seitensprüngen ihres Mannes, oder sie hatte gewaltsam die Augen davor geschlossen. Klaus liebte sie. Immer, auch als er mit Stefan Rambin am allerschlechtesten stand, war sie gleichmäßig freundlich zu ihm geblieben. Tante Agathe war für ihn der stete Mittelpunkt der Welt von Michaelsbrück. Zwischen Stefan Rambin und Monika bestand fast ein geheimes Bündnis gegen ihn. Onkel Stefan und Monika konnten sich mitten in der Unterhaltung Blicke des Einverständnisses zuwerfen, und Monika konnte plötzlich verstummen, wenn Klaus irgend etwas sagte. Agathe aber hielt zu ihm.
Vielleicht hatte sie anfänglich geglaubt, daß Klaus und Monika sich allmählich enger aneinanderschließen würden, aber die beiden gingen sich offensichtlich aus dem Wege. Klaus wollte zeigen, daß ihm nichts daran lag, mit Monika gutzustehen, die in Stefan Rambins Haus seinen Platz eingenommen hatte. Und dann war seine Freundschaft mit Ellen Bandler gekommen.
Wie merkwürdig waren sie alle miteinander verflochten! Monika kam nicht darüber hinweg, daß ihre Eltern sie wie ein überflüssiges Möbelstück abgetreten hatten. Man versuchte ihr klarzumachen, daß es zu ihrem eigenen Besten geschehen war. Geheimrat Bandlers hatten sechs Töchter und kein Vermögen. Man hielt es für ein großes Glück, das jüngste Kind bei den reichen Rambins unterzubringen. Eigentlich wäre ein Knabe als Erbe und Nachfolger für Stefan Rambin angemessener gewesen, aber nach den schlimmen Erfahrungen mit Klaus hatte Stefan Rambin den Gedanken, einen Jungen als Kind anzunehmen, entsetzt abgewehrt. ›Er soll mich wohl totschlagen!‹ soll er damals, des unglücklichen Steinwurfs gedenkend, ausgerufen haben. So war die vierjährige Monika nach Michaelsbrück gekommen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie Stefan und Agathe für ihre richtigen Eltern gehalten, bis sie durch die Ungeschicklichkeit einer Lehrerin erfuhr, daß sie in Wirklichkeit nicht Monika Rambin, sondern Monika Bandler hieß. Seitdem schloß sie sich noch enger an ihre Pflegeeltern, besonders an Stefan an, aber jede Verbindung mit Bandlers lehnte sie in schroffster Weise ab. Daß Klaus sich dann gerade mit ihrer Schwester Ellen anfreundete, bewirkte, daß sie sich noch ängstlicher gegen ihn verschloß. Wenn Klaus in Michaelsbrück war, unternahm sie lange Ritte auf ihrem Schimmel. Klaus hingegen ließ sich nur selten auf dem Tennisplatz sehen, wenn sie dort mit den Besuchern spielte.
Nur einmal hatten sie sich in einem Einzelspiel gegenübergestanden. Klaus war ihr weit überlegen, aber er mußte ihre guten Anlagen anerkennen. »Du solltest öfters mit mir spielen!« hatte er damals zu ihr gesagt, und zum erstenmal waren sie in gutem Einvernehmen durch den Garten gegangen, sich über Einzelheiten des Spiels unterhaltend. Es war sicher ungeschickt von Monika, daß sie Klaus in diesem Zusammenhang nach Ellen gefragt hatte und die Antwort einstecken mußte, daß sie sich mit Ellen als Spielerin nicht vergleichen könnte. Denn Ellen, die sich ganz auf Tennis geworfen hatte, spielte sogar weit besser als Klaus.
So war dieser erste und einzige Einigungsversuch zwischen ihnen gescheitert.