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86. Schluß

Es ist sehr schwer, von dem Schluß einer Geschichte wie die vorliegende zu sprechen. Eine solche Geschichte schließt sich eigentlich nie ab. Die Wenigen ausgenommen, über deren Lebensende berichten zu müssen wir so unglücklich waren, befinden sich alle Uebrigen in Fülle der Gesundheit, und wenn es unsere Zeit und die Geduld des Lesers erlaubten, so könnten wir aus dem ferneren Leben und Treiben der aufgetretenen Personen noch eine Menge der allerschönsten, zur Mittheilung geeigneten Sklavengeschichten auffinden. Ein Erzähler darf aber nicht gegen die Nachsicht seines Publikums sündigen, und es ist seine Schuldigkeit, sobald er glaubt, er habe sein Mögliches gethan, eine hübsche Gelegenheit zu ergreifen, um sich dem Leser zu empfehlen und sein Buch zu beschließen. Wir glauben dies in keinem passenderen Zeitpunkt thun zu können, als jetzt, und wollen nur mit wenigen Worten hinzufügen, was in der nächsten Zukunft sich mit einigen der Personen zugetragen, die in unserer sehr wahrhaftigen Geschichte aufgetreten. Wir können dies um so weniger unterlassen, da hierbei noch ein paar kleine Sklavengeschichten zu Tage kommen, deren Details sich der Leser, wenn er gleiche Verhältnisse bei sich oder Anderen sieht, am besten selbst auszumalen im Stande sein wird.

Gewöhnlich folgt auf eine Verlobung die Hochzeit. So war es auch bei dem Grafen Fohrbach und Arthur Erichsen der Fall. Obgleich die Freundschaft dieser Beiden in gleicher Stärke fortdauerte, so hatten sie sich doch in letzter Zeit nicht so häufig gesehen wie früher. Zufällig aber war die Hochzeit beider Paare an demselben Tage, und fast zur gleichen Stunde verließen sie die Stadt, um eine längere Reise anzutreten. Graf Fohrbach zog gen Norden, wo seine Familie weitläufige Güter besaß, Arthur aber nach Italien, nach dem herrlichen Lande, das er schon lange zu sehen gewünscht. Der Abschied Clara's von ihrem Vater war ziemlich schmerzlich gewesen, denn Herr Staiger meinte, bei seinem Alter könne die Trennung von einem halben Jahre wohl zu einer ewigen werden. Doch bestätigte sich diesmal die Vermuthung des alten Herrn nicht, Clara fand ihn vielmehr, als sie nach der angegebenen Zeit zurückkehrte, frisch und gesund wieder, obgleich nicht mehr in der Balkengasse, wo sie ihn verlassen. Die Kommerzienräthin hatte nämlich ihren Schützling dem Gemahl dringend empfohlen, und die Folge davon war, daß Herr Staiger auf dem Kassenamt des großen Bankierhauses angestellt wurde, wo er vermöge seiner Ordnungsliebe und Rechtlichkeit die vortrefflichsten Dienste leistete.

Was man so Brautvisiten nennt, hatten Clara und Arthur vor ihrer Abreise nicht gemacht; als sie aber zurückkamen und ihr Haus einrichteten, zeigten sie dies ihren Freunden und Bekannten, sowie auch auf den Wunsch der Kommerzienräthin denen des Erichsen'schen Hauses pflichtschuldigst an. Wenn sich aber manche stille Familie mit unversorgten Töchtern, die früher den Herrn Arthur Erichsen sehr hoch gehalten, sowie manche andere, die voll Neid und Mißgunst es der armen Clara nicht verzeihen konnten, daß sie nicht unter dem Schutze irgend einer Rangklasse geboren, von dem jungen Paare zurückzogen, so verursachte ihnen das doch durchaus keinen Kummer. Sie lebten in einem freundlichen und ausgewählten Kreise, und Arthur war Philosoph genug, um über schiefe Blicke und vornehm gerümpfte Nasen herzlich zu lachen.

Um noch einen Augenblick beim Hause des Kommerzienraths zu verweilen, so kehrte Herr Alfons wenige Tage nach der Verheirathung Arthur's von seiner Reise zurück. Doch hatte sich das Verhältniß zu seiner Frau gänzlich verwandelt; das Scepter, welches ihm an jenem Tage entfallen, hatte die kluge Frau ergriffen, und vom unumschränkten Herrn, auf dessen Winke und Stirnrunzeln sie sonst ängstlich Achtung gegeben, war er zum Sklaven herabgesunken, welcher sich den, obgleich nicht unbilligen Wünschen seiner Frau in aller Demuth fügte. Machte er je einmal einen Versuch, seine Ketten zu brechen, so trat die Kommerzienräthin in's Mittel, und wenn sie ihre spitzige Nase erhob, ihn mit den grauen Augen scharf anblickte und dazu auf dem Tische zu trommeln begann, so räumte er achselzuckend das Zimmer und begab sich in sein Comptoir, wo ihn dann oftmals der Kommerzienrath zu trösten suchte, indem er sprach: »Glauben Sie mir, es ist weit angenehmer für uns, wenn man die Weiber machen läßt; meine Frau hat mich und die Kinder nun schon an die dreißig Jahre regiert und ich habe mich recht wohl dabei befunden. Uebrigens sind die Metalliques und die Fünfprozentigen gestiegen, was eigentlich doch die Hauptsache ist.«

Die Scheidung des Dr. Erichsen von seiner Frau war unerwartet auf ein Hinderniß gestoßen. Dieses Hinderniß bestand in der Weigerung der Madame Bertha selbst. Wir wissen, daß sie sich zu ihrer Mutter begeben, um sich, wie sie sagte, von ihrem Manne nicht länger wie eine Sklavin behandeln lassen zu müssen. Sie hatte sich ihr elterliches Haus und sich selbst noch ganz so wie früher gedacht, fand aber in Beiden gewaltig viel verändert. Sie konnte es nicht vergessen, daß sie ein Hauswesen gehabt und zwei liebe Kinder, und es noch viel weniger ertragen, daß sie, welche bei sich unbedingt die Erste gewesen, nun bei ihrer Frau Mama die Dritte sein sollte. Wir sagen die Dritte, denn Mama, alt und grämlich geworden, hatte sich bei der Verheirathung ihrer Tochter eine Haushälterin zugelegt, ein großes, sehr dürres Frauenzimmer mit unbeschreiblich scharfer Zunge, welche das Hauswesen und ihre Gebieterin nicht nur beherrschte, sondern sogar tyrannisirte. Madame Bertha war noch nicht vier Wochen da, als sie sich schon unsäglich elend fühlte, denn die Launen der Mutter waren unerträglich, und die dürre Haushälterin schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, beständig von den Freuden des Ehestandes zu phantasiren, wobei sie versicherte, eine geschiedene Frau sei ein Unding und man wisse gar nicht, zu welcher Klasse der menschlichen Gesellschaft man sie eigentlich zählen solle. Hierauf fing Madame Bertha an, sich ihrem Hause wieder zu nähern, indem sie ihre Kinder häufig aber heimlich sah. Das ließ der Doktor, der es erfuhr, wohl geschehen; auch hätte er sich mit seinem weichen Herzen gern seiner Frau wieder genähert, doch als Arthur abreiste, hatte dieser ihm das Versprechen abgenommen, bis zu dessen Zurückkunft keinen Schritt zu thun, der von der Doktorin als annähernd betrachtet werden könnte, indem er gesagt: »Wenn du zu bald nachgibst, so hast du in einem halben Jahre wieder dieselbe Geschichte.« –

Herr Beil hatte von seinem Freunde Arthur den herzlichsten Abschied genommen, bevor er die Residenz verließ, um dem Auftrag des Herrn von Brand gemäß nach dem Gute der Baronin von W. zu fahren, deren Vermögen er in Zukunft zu verwalten hatte. Vorher überbrachte er aber noch das bewußte Paketchen der Tochter des Präsidenten, die dasselbe im Beisein ihrer Mutter erwartungsvoll öffnete. Es enthielt ein reiches Armband in Brillanten mit der Bitte des Barons, dieses Andenken von einem Freunde zu nehmen, dem leider traurige Verhältnisse nicht erlaubt, der schönen Auguste mehr als dies sein zu können. Fräulein Auguste hatte sich übrigens von dem harten Schlage, der sie betroffen, noch nicht gänzlich wieder erholt. Bei dem gewissen Hofball war die Mutter leider zu besorgt gewesen, die Brautschaft ihrer Tochter allzuvielen Menschen zu verkündigen, und da nun der Präsident, dem Rathe seiner Gemahlin folgend, des Baron Brand nur als solchen gedachte, so sah sich Auguste genöthigt, Kondolationen entgegenzunehmen, die sich übrigens nicht lange nachher in Gratulationen verwandelten, als sie eine neue Brautschaft antrat, die diesmal ein glücklicheres Ende nahm.

Unmöglich können wir dem geneigten Leser verschweigen, daß es ferner den Bemühungen des Herrn Beil in seinen jetzigen besseren Verhältnissen gelungen war, seinem Freunde, dem ehemaligen Lehrling August, eine erträgliche Stelle zu verschaffen. Obgleich August ein gutes Gemüth hatte und nicht rachgierig war, so gehörte es doch zu seinen besonderen Vergnügungen und er rechnete es fast zu seinen Feiertagen, wenn er einen Bestellzettel oder dergleichen der Firma Johann Christian Blaffer und Compagnie zu überbringen hatte. Dies Geschäft war von zwei jungen Leuten angekauft worden, welche der eingegangenen Bedingung gemäß den ehemaligen Chef der Handlung als letzten Commis beibehalten mußten. Die Gefühle, mit welchen Herr Blaffer an seinem Pulte saß, brauchen wir nicht zu schildern; beinahe wahnsinnig preßte er seine mageren Hände vor die Stirne, wenn August in das Comptoir trat, und er sich nun um so lebhafter der früheren Zeiten erinnerte, seines Lehrlings und des verschwundenen Mädchens, von welchem man übrigens nichts mehr gehört.

Als Graf Fohrbach am Tage seiner Hochzeit die Stadt verließ, geschah dies in einem großen, schweren Reisewagen, auf dessen hinterem Bock der Jäger Franz Karner saß, sowie Henriette, die Kammerjungfer der jungen Gräfin. Da Diener und Dienerin sich erst kürzlich kennen gelernt hatten, so fand zwischen ihnen keine lebhafte Unterhaltung statt. Sie blickte rechts und er links, zuerst auf die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, dann auf die Pappeln der Allee und was ihnen sonst noch begegnete. Auf der zweiten Station – der Ort hieß Königshofen – sprang Graf Fohrbach aus dem Wagen und fragte seinen Jäger, der ihm den Schlag öffnete: »Nicht wahr, da hinaus ginget ihr?« Dabei zeigte er auf den Wald, der sich hinter dem Dorfe erhob. – »So ist's, Euer Erlaucht,« erwiderte der Jäger, und als er wieder auf seinen hohen Sitz geklettert war, blieb er aufrecht stehen und starrte lange, lange nach dem Walde hinüber – er hätte gar zu gern die Lichtung noch einmal gesehen. Der Wagen rollte aber unaufhaltsam dahin, und bald legten sich andere Berge und Wälder zwischen ihn und jenen verhängnißvollen Platz. Derselbe ward aber doch Veranlassung, daß Franz mit der Kammerjungfer ein Gespräch anknüpfte. Sein Herz war zu voll, es war ihm ein Bedürfniß, von jenem unglücklichen Morgen sowie von einem gewissen Baron Brand, der hier geendet, mit dem Mädchen zu sprechen. Wie erstaunte er aber, daß diese die Geschichte fast so genau wußte wie er selbst, ja daß sie den Baron Brand zu kennen und die innigste, herzlichste Theilnahme an seinem Schicksal zu nehmen schien! Ein Wort gab das andere, und da Leute, welche auf einem engen Wagensitze so den ganzen Tag miteinander fahren, leicht zu Mittheilungen geneigt sind, so erzählten sie sich Beide noch im Laufe des Nachmittags ihre Schicksale, daß er sowohl Kammerjungfer als Jäger an ein und demselben Morgen dem Grafen Fohrbach empfohlen.

So fuhren sie dahin und es war spät am Nachmittage, als der Wagen vor einem Wirthshause umgespannt wurde, in dem sich ziemlich viele Gäste befanden, welche durch ein Harfenmädchen unterhalten wurden, die mit lauter Stimme allerlei lustige Lieder sang. Als die Künstlerin den Wagen heranrollen hörte, kam sie vor das Haus, fuhr aber plötzlich wieder zurück, als sie das Gesicht der Dame im Wagen gesehen hatte. Doch bemerkte man, wie sie ihre Harfe in das Zimmer hinstellte, und dann dieses sowie das Haus durch eine Hinterthüre verließ. Gleich darauf fühlte Henriette, daß sie Jemand an ihrem Mantel zupfe. Sie wandte sich um und schaute in das lustige Gesicht ihrer ehemaligen Gefährtin, welche ihr lachend die Hand reichte. »Siehst du,« sagte dieselbe, »uns Beiden ist es nach Wunsch gegangen. Du fühlst dich glücklich in den Fesseln deines Dienstes, und ich mich nicht minder mit meiner Harfe in der prächtigen Freiheit.«

Der Jäger war nicht wenig überrascht, Nanette, die er wohl kannte, hier wiederzusehen, und auch das Mädchen schien sich herzlich über die Begegnung zu freuen. »Es ist auch sonst noch ein Bekannter von uns hier,« flüsterte sie ihm zu, »Matthias, aber er liegt noch immer krank an seiner Wunde darnieder. Freilich geht's ihm besser, doch hat ihn die Nachricht, daß man den Wirth zum Fuchsbau eingesteckt, und daß er, den er so sehr geliebt, elend umgekommen sei, wieder auf's Neue sehr darniedergeworfen.«

»Sag' ihm meinen Gruß,« antwortete Franz, »und zu gleicher Zeit, daß die Nachricht von ihm falsch sei. Er ist wohl verschwunden, aber nicht elend umgekommen.«

»Das wird ihn erheitern,« versetzte das Harfenmädchen. »Jetzt aber lebt wohl, eure Pferde sind angespannt.«

»Leb wohl!« sagten Henriette und der Jäger, und Beide drückten der Anderen herzlich die Hand. Letzterer ließ seine Geldbörse darin zurück, indem er sagte: »Es ist für Matthias, er soll sich pflegen, und wenn er das Vergangene vergessen kann, so wird es mir vielleicht möglich sein, später mehr für ihn zu thun.«

Dahin flog der Wagen, Jäger und Kammerjungfer sprachen lange nichts miteinander, aber in dem Wirthshause ertönte gleich darauf wieder lustig wie früher Harfe und Gesang. –

Was nun den Fuchsbau anbelangt, nach dessen finsteren Räumen uns der geneigte Leser schon öfters freundlich begleitet, so wurde er vom Staate angekauft und zu einem Arbeitshause für weibliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft eingerichtet, welche durch bösen Lebenswandel der wachenden Gerechtigkeit Veranlassung gaben, sich um ihr Privatleben zu bekümmern. Leider können wir aber nicht verschweigen, daß sich noch vor Ablauf eines Jahrs, von dem Zeitpunkt an gerechnet, an welchem unsere wahrhaftige Geschichte schließt, einige unserer Bekannten dort ein Rendezvous gaben, und zwar Madame Becker, Madame Wundel und deren Tochter Emilie, leider jedoch nicht zu Kaffee und Punsch, wohl aber zu Wasser und Brod und sehr dünner Erbsensuppe. Das uns wohl bekannte Gemach mit der braunen Decke und den gleichen Holzwänden gehörte zur Wohnung des Aufsehers, doch liebte dieser das Gemach nicht besonders. Er behauptete, es sei unheimlich da, und wenn er bei fest verschlossenen Fenstern und Thüren zuweilen am Kamin sitze, so spüre er hinter sich einen Zugwind, von dem er durchaus nicht ermitteln könne, woher er komme. Deßhalb vermied er endlich dies Zimmer, verschloß es am Ende gänzlich und sprach nur achselzuckend davon.

Der Wirth zum Fuchsbau war allerdings eingesteckt worden, auch hatte man ihm für einige Zeit ein wohlverwahrtes Quartier verschafft, ihm aber weiter nichts anhaben können. Herr Scharfer leugnete hartnäckig, beweisen konnte man ihm nur, daß er zweideutige Gesellen beherbergte, auch der Diebshehlerei nicht fremd gewesen, und so kam er mit einem halbjährigen Gefängniß davon. Er verließ dasselbe mit noch stärkerem Backenbart, im Uebrigen aber sehr abgemagert.

Nicht so gut erging es dem Herrn Sträuber. Nach und nach kamen die meisten seiner kleinen Liebhabereien und Phantasien an den Tag. Seine Taschendiebereien und Gelüste nach den Ohrringen wehrloser Kinder hätten ihn aber wohl nur auf ein paar Jahre in's Zuchthaus gebracht; doch wie auf dieser Welt Eines dem Anderen folgt, so erschien nach und nach die Korrespondenz, welche er im Auftrag des Meister Schwemmer für den schwunghaft betriebenen Kinder- und Menschenhandel geführt. Darauf wurde das Verhältniß dieser beiden würdigen Herren selbst näher beleuchtet, und Herr Sträuber vermochte es im Laufe der Untersuchung nicht, sich von der Anschuldigung frei zu machen, als habe er in Gemeinschaft mit der Dame Schwemmer, dem natürlichen Laufe vorgreifend, dem Ehegemahl der letzteren früher zu den Freuden und Leiden des Jenseits verholfen. Es war eine Strafanstalt für schwere Verbrecher, welche eine ihrer stillen Zellen dem Herrn Strauber öffnete. Er mußte den schwarzen Frack und die baumwollenen Handschuhe für immer ablegen, sein vornehmer Anstand und seine feine Bildung verschwanden gänzlich unter dem groben Sträflingsgewand, und da sein hochfliegender Geist sich lange nicht herablassen wollte, die Handgriffe des Wollspinnens zu erfassen, so war die verdrießliche Folge hievon, daß er Dunkelarrest, Hunger und Prügel kennen lernte – sehr unangenehme Zuthaten zum Gefängnißleben.

Mademoiselle Therese hatte bei jener Theatervorstellung, die so traurig für die unglückliche Marie geendet, zum letzten Mal getanzt. Sie war um ihren Abschied eingekommen, hatte ihn auch erhalten und reichte nun dem Herrn Berger ihre Hand. Daß sie den Entschluß, mit ihrem Gemahl ein kleines Stück Sklavenleben aufzuführen, im weitesten Umfange verwirklichte, kann uns der geneigte Leser auf's Wort glauben. Doch schien sich Herr Berger nicht übel dabei zu befinden, wenigstens nahm er körperlich zu und wurde aus einem dürren, grämlichen Manne ein wohlbeleibter freundlicher Herr. Therese dagegen blieb sich gleich und behielt ihre schöne Taille.

Die Hochzeit des Paares war wenige Tage, nachdem Arthur abgereist, mit außerordentlichem Glanze gefeiert worden. Die Tänzerin hatte befohlen, daß eine Deputation ihrer ehemaligen Kolleginnen dabei sein müsse, vor allen Dingen aber Schwindelmann, Herr Hammer, Richard und Schellinger. Fritz, der Theaterfriseur, war nicht so glücklich gewesen, eine Einladung zu bekommen, hatte es aber doch nicht unterlassen, das Haar der schönen Braut wohl zum letzten Mal, wie er seufzend gesagt, an ihrem Hochzeitstage zu ordnen. Daß Therese in ihrem weißen Atlaskleide, den Spitzenschleier im grünen Myrthenkranz, wie eine Fürstin aussah, versteht sich von selbst. Herr Berger hörte auch mit Wohlgefallen, wie man ihre prächtige Gestalt bewunderte und ihn glücklich pries. Auch der Hochzeitsschmaus ging sehr lustig vorüber, und unter allen Anwesenden sah man nur zwei Gesichter mit trüben Mienen. Das waren Richard und Schwindelmann; Letzterer versicherte fast weinend, man könne es gar nicht glauben, wie ihm jetzt sein Geschäft verleidet werde. »Die Clara fort, die arme Marie nicht mehr da, und jetzt auch noch Mademoiselle Therese, die uns verläßt! Es ist Alles aus,« seufzte er, »nichts mehr bei dem Ballet; solche, wie diese Drei kommen nicht wieder!« Dabei sprach er die Absicht aus, sich nächstens zur Stelle des Anführers der Statisten zu melden, indem er meinte: »Die wechseln ohnedies jeden Tag und da hängt man doch sein Herz an gar nichts.« Was Richard anbelangte, so konnte man ihn eigentlich nicht zu den Hochzeitsgästen rechnen, denn er kam nur auf wenige Augenblicke, um der Braut zu gratuliren und sich dann wohl für immer von ihr und den andern Freunden zu verabschieden. Er hatte seine Stelle beim Theater aufgegeben und war im Begriff, nach Amerika auszuwandern. »Hier thut sich's nicht mehr,« sagte er zu Therese, »und wenn ich das Theater nur von außen ansehe, so drückt es mir die Brust zusammen und zerbricht mir fast das Herz.« Es war mit dem schönen und kräftigen Manne seit jener Zeit eine große Veränderung vorgegangen. Seine glänzenden Augen waren eingefallen, seine sonst so blühenden Wangen blaß geworden, und er, der sonst so rührig war wie Keiner, konnte nun stundenlang in irgend eine Ecke starren, an seiner Unterlippe nagend. Er drückte der schönen Braut herzlich die Hand, sprach einige Worte mit dem alten Herrn Hammer und winkte alsdann Schwindelmann und Schellinger, die sich für eine kleine halbe Stunde entschuldigten und dann mit ihm fortgingen.

Es war in später Nachmittagsstunde, und die Drei schritten nebeneinander durch die Straßen dahin, Richard aufrecht in der Mitte, zu seiner Rechten Schwindelmann, der besonders wehmüthig gestimmt war und von Zeit zu Zeit heftig schluckte, zu seiner Linken der Garderobegehilfe, welcher den Oberkörper vornüber hielt und seiner Gewohnheit gemäß die Hände auf dem Rücken hatte. Schweigend gingen sie so miteinander fort, durch eine Straße um die andere, endlich durch das Thor, bis sie einige hundert Schritte vor demselben an ein eisernes Gitter kamen, durch welches man allerlei Kreuze und Steine blinken sah. »Folgt mir nur,« sagte Richard mit leiser Stimme, »ich weiß schon, wo sie liegt.« Damit schritten sie über die Gräber dahin und kamen endlich an einen kleinen Hügel, auf welchem ein einfaches Kreuz stand, über das ein frischer Immergrünkranz hing. Hier blieben alle Drei mit gefalteten Händen stehen, der alte Schellinger zog die Augenbrauen in die Höhe und bemühte sich, seine Wehmuth zu verbergen, während dem weicheren Schwindelmann die Thränen über die Wangen herabtropften. Der Himmel war den ganzen Tag mit finsteren Wolken bedeckt gewesen, die sich jetzt eben am Horizont ein wenig erhoben und der glühenden Abendsonne erlaubten, einen letzten glänzenden Blick auf das einsame Grab zu werfen. Dabei erhob sich ein leichter Wind, der Kranz von Immergrün rauschte. – – »Amen!« sprach Richard. Dann bückte er sich nieder, brach ein paar Zweige Immergrün ab und nahm eine Hand voll Erde von dem Grabe. »Das soll man mir später einmal in das letzte Kopfkissen nähen,« sagte er dann.

Schwindelmann wischte sich die Augen, und als sich die Drei zum Weggehen anschickten, zeigte er auf ein eingesunkenes Grab, nicht weit von dem anderen und sagte: »Dort liegt die arme Nähterin, wißt ihr, dieselbe, der ihr damals geholfen, ihr Kind wieder zu verschaffen.«

»Wo?« fragte der Zimmermann.

»Hier, Richard.«

Da war kein Kreuz zu sehen, nur ein kaum bemerklicher Erdhügel ohne Blumen, selbst ohne Gras.

»Wo ist denn das Kind geblieben?« fragte Richard nach einer Pause.

»O es ist gut versorgt worden,« entgegnete Schwindelmann. »Herr Arthur Erichsen hat sich seiner angenommen und es geht ihm ganz vortrefflich.«

Bei diesen Worten zuckte ein gewaltiger Schmerz auf dem Gesichte Richards, und er sprach mit dumpfer Stimme: »Die Marie hat mir einmal erzählt, daß jene Nähterin ihr gesagt: ›Wenn du einmal glücklich verheirathet bist und du siehst mein armes Kind an einer Ecke stehen, so schenke ihm ein Almosen.‹ – O Gott! und nun liegen Beide hier!«

Schweigend, wie sie gekommen, schritten die Drei wieder nach der Stadt zurück, durch die dunkeln Straßen bis an den Gasthof, wo die Hochzeit gehalten wurde. Hier war es glänzend erleuchtet, und lustige Tanzmusik schallte in die Nacht hinaus.

»Ich mag nicht mehr hinaufgehen,« meinte Richard; »sagt meinem Vater, daß ich ihn zu Haus erwarte. Euch seh' ich auch wohl noch. Um elf Uhr fährt der Wagen ab, und bis dahin wird die Geschichte oben fertig sein.« Er reichte Beiden eine Hand, und schritt alsdann, ohne sich umzusehen nach Hause.

*

Die freundlichen Leser einer längeren Geschichte wie die vorliegende sind den Theilnehmern an einer Landpartie zu vergleichen. Beim ersten Grauen des Morgens, sobald man die Thore der Stadt hinter sich hat, hier beim Anfang des ersten Kapitels, ist die Schaar der Lustwandelnden dicht geschlossen; wohlgeordnet und emsig geht es fort über Berg und Thal, Sonnenschein oder Regen entgegen, und wie dort das lachende, muntere Völkchen über die heiße Chaussee dahinzieht oder durch den Schatten des Waldes, so laufen hier emsig die blitzenden Augen über die Blätter des Buchs, durch die Linien frisch und wohlgemuth. Bei manchem der da draußen Wandelnden ebenso wie bei den Lesern ist indessen der Reiz der Neuheit bald vorbei; sie blicken seufzend auf den Weg, den sie noch zurückzulegen haben, und die bunten Bilder, die sich vor ihnen aufrollen, sind ihnen schon entleidet. Diesem ist die Fläche, die er durchwandern muß, zu einförmig, Jenem zu abwechselnd; dem Einen scheint die Sonne zu hell, der Andere ärgert sich über die finsteren Wolken, die am Horizont emporsteigen, auch gefallen ihm nicht die Gesichter, die ihm begegnen, oder die Kleidung der Leute, denen sie angehören; bald scheinen sie ihm zu geputzt, zu geziert, bald gar zu sehr bedeckt mit dem Schmutze dieses Lebens. Unmuthig seufzt der Spaziergänger auf der staubigen Straße und der Leser mit dem Buche in der Hand. Er findet Kameraden, die wie er denken und die sich stillschweigend verbinden, langsam zurückzubleiben. Manche werden schon nach den ersten Kapiteln zu Marodeurs, Andere bei der ersten Rast, hier am Schluß des ersten Bandes. Die Zurückbleibenden folgen nicht mehr dem Winke des Voranmarschirenden, sie lagern hier und dort an der Straße, und da böses Beispiel ansteckend ist, so werden der Marodeurs immer mehrere, je mehr man sich dem Ziel der Reise nähert. Viele gehen nicht weiter als bis zum Schluß des zweiten Bandes, Andere schauen noch in den dritten hinein; da aber der Anfang desselben nicht ganz ihren Erwartungen entspricht, so schlagen sie ihn ungeduldig zu und wenden sich mißmuthig ab. Wenige halten aus bis zum Schluß; diese Wenigen aber sind die Freunde des Führers, und wenn er sich, am Ziele angekommen, nun ebenfalls ausruhend niederläßt und zurückblickt auf den Weg, den er durchlaufen, so belobt er die freundlich, die fest bei ihm ausgehalten, und entschuldigt den langen Marsch, den er ihnen zugemuthet, indem er ihnen sagt: Wenn derselbe auch vielleicht nicht so ganz nach ihren Wünschen ausgefallen sei, so habe doch gewiß Jeder etwas gefunden, was sein Herz erfreut, sei es nun ein glänzender Stein, eine bunte Blume, ein Blick in den düsteren Wald oder auf ein offenes, von der Sonne beschienenes Thal. Dabei bedankt er sich für gütige Theilnahme und versichert, wenn er nächstens wieder einen Spaziergang vorschlage, so wolle er sich nach besten Kräften bemühen, eine schönere Gegend zu finden, einen angenehmeren Pfad mit noch mehr Abwechslungen, durch Wärme, Kälte, Sonne, Regen, Staub, Nässe, Licht und Schatten – eine wahre Musterkarte, auf der jeder sich aussuchen könne, was ihm gerade am meisten behage oder was am besten für ihn passe. Und das sind auch für diesmal meine letzten Worte an dich, freundlicher und wohlgeneigter Leser!


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