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81. Gesellschaftliches

Wieder einmal war es Nachmittags zwei Uhr längst vorüber, und wieder einmal stand das Kaffeegeschirr auf dem Tisch, an dem die Kommerziellräthin saß, gänzlich unberührt. Wenn dies vorkam, so konnte man es als ein untrügliches Zeichen ansehen, daß irgend eine Störung vorgefallen war. Aus den leblosen Gegenständen des Hauses ließ sich auf diese Art eher etwas errathen, als aus der lebenden Hauptperson – der Kommerzienräthin selbst. Denn diese saß in ihrer Sophaecke starr und aufrecht wie immer, mit unbeweglichen Gesichtszügen und für jeden Uneingeweihten war durchaus keine Aufregung, von welcher Art auch immer, an ihr zu merken. Wer sie aber genauer kannte, der sah wohl, daß sie die Augen häufig schloß und öffnete, auch abwechselnd mit ihrem gewöhnlichen Husten zuweilen heftig schluckte. Mit der rechten Hand hielt sie, wie sie immer zu thun pflegte, ihr Schnupftuch, die Linke bedeckte einige Papiere, die vor ihr auf dem Tische lagen.

Marianne stand am Fenster, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet und ihre Blicke waren auf den Boden geheftet. Der Kommerzienrath zeigte im Gegensatz zu den Damen mehr Leben. Er hatte die Hände unter seine Frackschöße gesteckt und brachte die rechte gelegentlich vor, um mit derselben in der Luft umher zu fahren, seine Reden bekräftigend und begleitend. Ueberhaupt sprach er heute energischer als sonst, hütete sich aber wohlweislich, dabei seine Frau anzusehen, denn er wußte wohl, daß einer jener scharfen Blicke aus den grauen Augen ihn leicht aus der Fassung zu bringen im Stande war; er wandte sich daher auch nur an Marianne, selbst wenn er etwas sagte, was nur an die Kommerzienräthin gerichtet sein konnte.

»Summa Summarum denn,« sprach er mit großer Entschiedenheit, »versteht ihr die Sachen nicht und könnt euch nicht denken, wie lähmend es für alle Geschäfte ist, eine Hand entbehren zu müssen und einen Kopf, der schon seit Jahren Alles überwachte, und, wenn auch allerdings unter meiner Leitung, fast das Ganze besorgte. Glaubt mir nur, ein solcher Theilnehmer eines Geschäfts, wie Alfons, war wie ein Generalhauptbuch, man brauchte nur irgendwo anzuklopfen und man hatte augenblicklich die Antwort. Das fehlt mir,« fuhr er achselzuckend fort; »ich werde auch alt, kann mich an so Manches nicht mehr erinnern, weßhalb Vieles nur so so besorgt wird; mit einem Wort, darunter leidet der Kredit des Hauses.«

Die Räthin warf ihrem Mann einen bedeutsam fragenden Blick zu, da er ihn aber nicht sah, so hustete sie auffallend, was er verstand und deßhalb augenblicklich hinzusetzte:

»Natürlicherweise meine ich bloß den Kredit, den die Geschäftsführung bedingt, das pünktliche und augenblickliche Besorgen aller Aufträge, welches sonst bei uns Mode war und worein wir unseren Stolz setzten. – Mögt ihr es nehmen, wie ihr es wollt: Ich habe schon zweimal an Alfons geschrieben und ihn ersucht, zurückzukommen. – Ah! man vernachlässigt eine immense Firma wie die unsrige nicht wegen solcher Bagatellen.«

Die Räthin trommelte leise auf dem Papiere unter ihrer Hand und Marianne fragte schmerzlich: »Bagatellen, Papa? Das sind aber doch eigentlich keine Bagatellen.«

»Nun, nun, ich meine in geschäftlicher Beziehung,« verbesserte sich der alte Herr, »habe ich da Unrecht? Was Teufel genirt es die großen Banken, ob mein Schwiegersohn einmal einen dummen Streich der Art gemacht hat! Nicht so viel!« Dabei hatte er den Muth, über seine Handfläche zu blasen. »Und meine Wechsel sind gesucht wie keine anderen.«

Jetzt endlich sprach die Räthin; zuvor aber hustete sie leicht, dann sagte sie: »Was dein geschäftliches Leben anbelangt, so magst du vielleicht Recht haben, in unser gesellschaftliches dagegen hat diese Geschichte einen schweren Riß gethan. Und das kommt daher, weil unser Haus von jeher voranleuchtend war, was Sitte und Anstand anbelangt, eine glatte, glänzende, polirte Fläche, und deßhalb sieht man auf ihr jedes Stäubchen.«

»Und dieser Riß in gesellschaftlicher Beziehung,« lachte krampfhaft der alte Herr, »macht dich so bodenlos unglücklich? Es könnte zum Lachen sein, wenn es nicht zum Weinen wäre – einer Gesellschaft, die, um mich deines Bildes zu bedienen, auf der glatten, polirten Fläche das geringste Stäubchen entdeckt und nun sich Mühe gibt, dieselbe mit dem Essig der bösen Reden und dem Scheidewasser der Verleumdung total mit Rost zu überziehen. Und hat man das nicht gethan?« fuhr er hitziger fort. »Ist man bei dem stehen geblieben, was man, leider Gottes! von den unseligen Geschichten unseres Hauses erfahren? Hat man nicht versucht, uns Allen etwas aufzubringen? Mit Arthur anzufangen, der freilich nur ein Maler ist und bei dem es schon leicht wurde, einen Haken zu finden; aber auch über deine arme Tochter Marianne hat man die Achseln gezuckt; in den Kaffeeklatschgesellschaften ist dies arme sanfte Weib als eine Xantippe hingestellt worden, die ihrem Manne das Leben verleidet und ihn so zu dem Skandal getrieben. O, diese Gesellschaft!« rief er abermals und fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft umher. »Hat sie vielleicht meinen Doktor geschont, diesen braven Kerl, der nie ein Wasser getrübt? Haben sie ihm nicht nachgesagt, er sei eine liederliche Pflanze? – Ja, ja,« fuhr er fort, als er bemerkte, wie ihn Marianne erstaunt anblickte, »Eduard hat ein paar arme Familien zu seinen Kunden, deren Kinder er zu Weihnachten mit Spielwaaren beschenkt; das hat man sich achselzuckend und hohnlachend in der gehässigsten Weise mitgetheilt. Aber weiter! O, ich sehe so ein gallsüchtiges Gesicht vor mir, so eine Person, wie sie die Achseln zuckt und sagt: ›Wissen Sie, Frau Hofräthin, natürlich so ein Arzt, der hat alle Gelegenheit; aber zu bunt soll er es doch getrieben haben, der Herr Doktor Erichsen.‹ – Hol sie alle der –! Und haben sie dich,« wandte et sich im vollsprudelnden Strom seiner Rede an die Räthin, »haben sie dich im Frieden gelassen, mein Schatz? Gott bewahre! Du warst die Mutter dieser sauberen Familie und es ist dir lange gelungen, alle diese Unanständigkeiten zuzudecken.« Hier schöpfte er tief Athem, setzte seine beiden Arme in die Seite und fuhr dann nach einer Pause fort: »Aber Eins hat mich amüsirt, daß sie nämlich über mich gesagt, ich sei nicht so schlimm, sei von jeher ein lustiger, alter Herr gewesen und wenigstens kein Heuchler.«

»Aber um Gotteswillen! Papa, woher weißt du alle diese schrecklichen Geschichten? Das kann dir doch Niemand in's Gesicht gesagt haben.«

»Freilich hat man mir's in's Gesicht gesagt, aber weißt du, darin hat man eine eigene Manier; es kommt so eine schleichende Kanaille, nicht um dir zu sagen: ›Herr Kommerzienrath, Der und Der hat das über Sie gesagt, fassen Sie ihn!‹ O nein! sondern er spricht mit niedergeschlagenen Augen von der verderbten Welt, von der Sucht, Jeden zu verleumden, sieht dich dabei achselzuckend an, seufzt kurz, geberdet sich so auffallend, daß du deutlich siehst, er habe was auf dem Herzen. Du fragst ihn; er läßt dich lange bitten. Endlich mißt er dir das Gift tropfenweise zu, indem er spricht: ›Man sagt so allerlei, man will das und das wissen, man glaubt dies, man glaubt das,‹ und schlägt dir so eine Ohrfeige nach der anderen hin mit lauter ›Man's‹, die ungreifbar sind. – ›Gott soll mich bewahren,‹ sagt er auf dein Drängen, ›daß ich Personen nenne, ich will in keine Geschichten hinein kommen; aber daß man allgemein spricht, was ich Ihnen vorhin erzählt, das können Sie mir auf mein Wort glauben.‹ So geht er fort, nachdem er dir einen Dolch in's Herz gestoßen; und an der Ecke schaut er sich um, ob du noch nicht wankest oder hinfallest. – Und wegen solchem Volke sollen wir uns grämen?« fragte er schließlich mit einem Tone, so entschieden, wie man ihn eigentlich nicht an dem alten Herrn gewöhnt war. »Ich nicht!«

Die Kommerzienräthin hatte aufmerksam zugehört, obgleich sie sich ihrem Gesichte nach ebenso gut mit etwas ganz Anderem hätte beschäftigen können. Sie hustete leicht und erwiderte: »Es ist das wahr, was du eben gesprochen.«

»Nun, Gott sei gelobt, daß du es endlich einsiehst!«

»Hat mir doch die Wasser,« fuhr die Räthin fort, ohne auf die Worte ihres Gemahls zu achten, »gerade in Betreff Eduards einen wahrhaft impertinenten Brief geschrieben.«

»Du hast da überhaupt schöne Korrespondenzen,« schaltete der alte Herr händereibend ein.

Und Marianne setzte mit leiser Stimme hinzu: »Madame Wasser ist ganz auf die Seite meiner Schwägerin Bertha getreten.«

»Um sie auszuhorchen und viel Böses über uns zu hören, denn –!« rief der alte Herr. Doch machte ihn ein Blick seiner Frau verstummen.

Diese hatte ihren Kopf drohend erhoben, als sie sich so unterbrochen sah, und sagte dann, nachdem sie leise auf die Briefe getrommelt: »Die Wasser schreibt mir, es sei doch ein Bischen stark von Eduard gewesen, das bewußte Kind der Person in sein eigenes Haus zu bringen. Was man über dieses Kind denke, habe er schon daraus entnehmen können, daß sämmtliche Dienstboten des Hauses – vortreffliche Dienstboten, wie die Wasser sagt – darauf hin augenblicklich gekündigt hätten.«

Der Kommerzienrath lachte krampfhaft hinaus, er hatte dazu den Moment benutzt, als die Räthin schwieg und einen der vor ihr liegenden Briefe entfaltete.

– »Ich habe es von jeher für meine Pflicht gehalten,« las die Räthin aus diesem Brief, »Ihnen nur die Wahrheit zu sagen; deßhalb erlaube ich mir auch, Ihnen ein paar Worte zu bemerken, was die Einladung anbelangt, welche Sie für die nächste Woche an die Meinigen ergehen ließen. Nehmen Sie mir nicht übel, hochverehrteste Frau Räthin, ich kann sie für dieses Mal nicht acceptiren, denn es ist mir zu schmerzlich, dort Leute zu sehen, die hinter Ihrem Rücken die Nase rümpfen, die Ihnen freundlich in's Gesicht sind und unter sich die gehässigsten Dinge über Ihr Haus aussagen; ja recht gehässige Dinge. – Und was das Schlimmste ist, beste Frau Rathin, man kann ihnen noch nicht einmal in Allem widersprechen. Sie wissen, wie schätzenswerth es mir stets war, in Ihrem Hause so gut und freundlich aufgenommen worden zu sein. Aber – doch erlassen Sie mir das Uebrige; o könnten Sie sehen, wie sehr es mich angegriffen hat, Ihnen die vorliegenden Zeilen zu schreiben! Im Uebrigen bin ich wie immer mit alter Freundschaft

Ihre

Albertine Wasser,
verwittwete Tutelarräthin.«

»Ein vortrefflicher Brief das,« meinte der Kommerzienrath. »Aber da du einmal bei der Korrespondenz bist, so laß uns auch hören, was deine theure Freundin Louise schreibt.«

Die Bitte des Gemahls wäre eigentlich überflüssig gewesen, denn Madame Erichsen hatte schon unaufgefordert das andere Billet eröffnet und las:

»Liebe Lotte! Du hast uns auf nächste Woche zu einer Soirée eingeladen und, wie ich höre, sollen viele Leute kommen. Nimm mir nicht übel, aber ich würde das an Deiner Stelle nicht thun. Die traurigen Geschichten Deines Hauses sind noch zu neu und die Leute sagen, das entwickele sich noch immer mehr. Wie ich denke, liebe Lotte, weißt Du, aber wir Beide können nun einmal die Welt nicht anders machen. Ich schreibe Dir eilig, damit Du Deine Einladungen noch nicht machst. Wenn die Menschen nur nicht so böse wären! Aber glaube mir, Viele haben die Probe der lebenden Bilder und die Geschichte mit der Doktorin F. noch lange nicht vergessen. Daß ich am allerwenigsten auf Stadtgeklatsch etwas gebe, brauche ich Dir wohl nicht zu sagen; auch wundert mich gar nichts mehr, denn die Menschen sind zu bösartig, und wenn auch ich gewiß nicht dazu beigetragen habe und beitragen werde, dergleichen Klatschereien zu verbreiten, so kann ich Dir doch nicht verschweigen, daß in der That das Gerede geht, Du beabsichtigest, um der ganzen Gesellschaft zu zeigen, daß Du Dich um ihre Meinung gar nicht kümmerst, uns Deine neue Schwiegertochter zu präsentiren, die sogenannte Braut des Herrn Arthur. Soll ich Dir nochmals wiederholen, daß dergleichen Verleumdungen auf mich nicht den geringsten Eindruck machen? Ich halte das für überflüssig; denn Du weißt, wie sehr ich bin und bleibe

Deine treue Freundin
Louise.«

Die Hand der alten Dame zitterte leicht, während sie die Briefe zusammenfaltete und vor sich hinlegte.

»Und das schreiben deine bewährtesten Freundinnen, Mama?« fragte schmerzlich Marianne.

»Es ist doch ein wahres Sprichwort,« bemerkte zornig der alte Herr, »Gott bewahre mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden will ich schon fertig werden. Und die sogenannten Feinde unseres Hauses, eigentlich nur die Feinde von Mama,« setzte er mit Nachdruck hinzu, »wie haben sie sich benommen, seit diese traurigen Geschichten ruchbar wurden! Ich will nur an den Doktor und namentlich an die Doktorin F. erinnern. – Gesteh' es mir, Charlotte,« wandte er sich an seine Frau, »die neuliche Unterredung mit der Letzteren, die liebevollen Worte, die sie zu dir sprach, haben selbst dich ergriffen und gerührt.«

»Warum selbst mich?« fragte strenge die Räthin, ohne dabei einen Zug ihres Gesichts zu verändern.

»Ah! selbst dich – das kann man in dem Falle doch wohl sagen,« meinte behutsam der alte Herr. »Du hattest doch ein Vorurtheil gegen die Doktorin.«

»Ja, ich hatte es,« erwiderte nach einer Pause die Räthin. Und als sie nach diesen Worten in ihr Sacktuch hinein hustete, klang dieser Husten viel weicher, auflösender als sonst.

»Nun, wenn ich recht verstanden habe,« entgegnete etwas heiterer Herr Erichsen, »so war das ein gutes Wort, das Mama eben aussprach.«

»Und Mama hat so Recht darin,« sagte liebevoll Marianne, indem sie sich dem Sopha näherte. »Glauben Sie mir, die Doktorin F. ist eine herrliche, vortreffliche Frau.«

Die Räthin schaute ihre Tochter mit einem einigermaßen argwöhnischen Blicke an.

»Und höheren Orts sehr gelitten,« fügte wichtig der Kommerzienrath bei. »Ich weiß bestimmt, daß sie zuweilen in die kleinen Cirkel der Frau Herzogin kommt.«

Die Räthin schaute ihren Mann an.

»Und mir ist das sehr angenehm,« fuhr Marianne fort, »denn ich bin überzeugt, die Doktorin wird denen die Geschichten unseres Hauses auf wahre und gute Art auseinandersetzen.«

Der Blick der Räthin, den sie jetzt auf ihre Tochter warf, war nicht mehr argwöhnisch, ja man hätte glauben können, sie nicke mit dem Kopfe, doch war dies, wenn es wirklich geschehen, so undeutlich, daß man es nicht recht behaupten konnte.

»Was übrigens die höhere Gesellschaft anbelangt,« sagte der Kommerzienrath, indem er sich in die Brust warf, »so kennt man dort das Haus Erichsen, und wenn wir gewollt hätten, würde es uns ein Kleines gewesen sein, uns dort hinein zu lanciren, zum furchtbaren Aerger deiner Freundin Wasser und deiner treuen Louise. – Wie steht Arthur mit all den Leuten?« fuhr er nach einer Pause eifriger fort. »Vortrefflich! Und selbst wenn er jenen sonderbaren Streich ausgeführt hätte –«

Die Räthin schaute ernst auf ihren Mann.

»Nun ja, ich sage, wenn er ihn ausgeführt hätte, so hätte ihm das bei den vernünftigen Leuten da oben nicht den geringsten Schaden gethan.«

Der Blick der Räthin wurde fragender.

»Weißt du, Charlotte, man kann über Alles sprechen. Die Sache ist, wie ich höre, vorüber. Nun gut, Arthur erzählte mir neulich, daß ihm einer seiner Bekannten, Graf Fohrbach, Adjutant Seiner Majestät und Sohn Seiner Excellenz des Herrn Kriegsministers, der im Begriff steht, eine der Hofdamen Ihrer Majestät zu heirathen, das schöne Fräulein von S. – eine alte Familie – gesagt, Arthur soll sich nur auf ihn, den Grafen, verlassen – er wolle – im Falle – daß Arthur –« Hier stockte der Kommerzienrath, denn der Blick seiner Frau war außerordentlich scharf geworden.

»Und was denn?« fragte sie ungeduldig.

»Nun, sich verheirathen mit –«

»Nun denn, mit –?«

»Du weißt ja schon, Charlotte, mit jener Tänzerin. Man setzt ja nur den möglichen Fall, und in dem Falle würde sich die Gräfin Fohrbach ein Vergnügen daraus machen, die Madame Erichsen bei sich zu sehen.«

Die Räthin schüttelte den Kopf und sagte in bestimmtem Tone: »Unmöglich!«

»Natürlich, für deine treuen Freundinnen wäre so etwas unmöglich, namentlich für solche, die selbst mit einem verdächtigen Herkommen zu kämpfen haben und die von jeher des weitesten Mantels der christlichen Liebe bedurft, um ihre Blößen zu bedecken. Aber man spricht ja vergeblich darüber; die Sache ist vorbei.«

»Der arme Arthur!« seufzte Marianne.

»Arthur ist eine noble Seele,« fuhr der alte Herr mit einem Anflug von Rührung fort, »Arthur ist selbständig. Er konnte sagen: ›Das ist einmal mein Glück und ich will glücklich sein.‹«

»Und ungehorsam gegen seine Eltern,« versetzte streng die Räthin.

»Allerdings, aber ich bin fest überzeugt, jenes arme Mädchen – sie hätte nichts gegen unseren Willen gethan.«

Hier lächelte die Räthin zum ersten Mal während der Unterredung, aber es war ein unangenehmes Lächeln, ein spöttisches Lächeln.

»Gewiß, Mama,« sagte Marianne in festem Tone, »sie würde das nicht gethan haben. Das Mädchen hat einen festen, herrlichen Charakter.«

»Und wer hat euch das gesagt?« fragte mißtrauisch die Räthin.

Vater und Tochter wechselten schnell einen Blick, worauf Letztere fortfuhr: »Eduard sprach mit uns darüber; er kam zufällig als Arzt in das Haus.«

»Wie so – zufällig?« fragte noch immer argwöhnisch die Räthin.

»Ganz zufällig!« nahm Herr Erichsen das Wort. »Du erinnerst dich doch der Geschichte mit dem Kinde, welches Eduard zu sich in's Haus nahm und das zu so schlimmem Gerede Veranlagung gab. Nun, man kann den armen Wurm doch nicht auf die Straße werfen und da erbot sich denn Arthur, es in jene Familie zu thun.«

Die Räthin trommelte leise auf den Tisch und sagte dann:

»Das sind saubere Geschichten. Nun, sie werden Herrn Arthur schön empfangen haben!«

»Sehr schön,« erwiderte ernst Marianne; »liebevoll nahmen sie das verwaiste Kind auf, obgleich sie selbst nicht viel haben, und Mamsell Clara behandelt es ganz wie ihre eigenen Geschwister. – So sagte nämlich Eduard,« setzte sie hastig hinzu, als sie bemerkte, daß ihr die Mutter einen sonderbaren Blick zuwarf.

»Und Eduard sieht öfters nach dem Kinde,« fuhr der Kommerzienrath fort, »aber in letzter Zeit auch nach ihr selber – nach der Tänzerin nämlich. Und er meint, das Mädchen leide furchtbar, und er hat mir neulich unwillig gesagt – ja, ich kann es dir nicht verschweigen, Charlotte, wenn gleich – auch dein Unmuth –« Hier schien sich der Fluß seiner Rede vor dem strengen Angesicht seiner Gattin abermals im Sand verlaufen zu wollen. Doch munterte ihn ein Blick Mariannens auf und er fuhr muthig fort: »Eduard sagt also, es sei – eine Schande, daß man ein so liebliches und gutes Geschöpf so unglücklich und langsam dahinwelken sehen müsse.«

Die grauen Augen der Räthin schauten bald den alten Herrn bald Marianne an; doch war der Blick derselben nicht mehr ganz so scharf und kalt wie bisher. Auch wurde der Husten immer auflösender, und – wenn man sich so ausdrücken darf – trommelten ihre Finger nicht mehr in Dur, sondern in Moll. Nach einer Pause sprach sie jedoch: »Ihr schmiedet da ein artiges Komplott gegen mich; Arthur wird euch sehr dankbar dafür sein.«

»Ich habe gedacht,« erwiderte Marianne, »daß Sie so sprechen würden, Mama. Aber bei Allem, was mir und Ihnen heilig ist, schwöre ich Ihnen zu, daß Arthur mit uns nie über diesen Gegenstand geredet. Ja er vermeidet es, die Sache zu berühren, und gab mir schon einige Mal zur Antwort: Laß das ruhen, es ist vorüber.«

»Das ist brav von Arthur,« meinte die Räthin mit sanfterer Stimme, »daß er so den Willen seiner Mutter respektirt. – Aber was will denn Eduard, daß er sich der Sache so annimmt?«

»Der handelt auch nicht ganz aus eigenem Antriebe und noch weniger im Auftrage Arthur's. Du weißt, welche große Stücke der Leibarzt des Königs auf deinen Sohn hält; nun, der hat ihn neulich wegen der Geschichte vorgenommen.«

»Ei sieh doch!« sagte erstaunt die Räthin. »Wenn der mit seinem ewigen Spott sich jener Demoiselle ernstlich annimmt, da möchte freilich etwas Absonderliches dahinter sein.«

»Das habe ich mir auch gedacht,« fuhr der alte Herr trocken fort, »aber ich kann dir sagen, Charlotte, daß der alte Leibarzt jenes Mädchen schätzt und liebt. Er hat sie am Todtenbette eines kleinen Schwesterchens von ihr kennen gelernt und sprach darüber wahrhaft enthusiastisch. Das sei ein reiches und edles Herz, meint er, ein Gefühl, warm und rein, wie er selten welches gesunden, kurz ein Geschöpf, über das man die Hände wehklagend zum Himmel erheben möchte, daß die Verhältnisse es hinderten, glücklich zu sein und glücklich zu machen.«

»Nun,« versetzte die Räthin mit etwas schärferem Tone, »dazu könnte ja bei dem Leibarzte Rath werden; er hat ja selbst zwei Söhne; vielleicht ließe sich da was arrangiren.«

Marianne warf ihrem Vater einen wahrhaft trostlosen Blick zu und auch dieser zuckte die Achseln, Beide, wie sie glaubten, ungesehen von der Mama. Doch hatten deren graue Augen blitzschnell nach rechts und links geguckt, starrten aber jetzt wieder gerade vor sich hin, als sie sagte: »Es ist bedauerlich, daß meine Angehörigen, die mich umgeben, so leicht durch den äußern Schein zu bestimmen sind. Bei dieser Sache ist es wahrhaftig ein Glück, daß Arthur so respektabel ist und sich meinen Wünschen, meinen vernünftigen Gründen ohne Weiteres fügt.«

»Was mir eigentlich unbegreiflich ist,« fuhr dem alten Herrn heraus, »denn wer das Mädchen einmal gesehen, versteht nicht, wie man es selbst den Willen der Eltern zulieb so leicht aufgeben kann. Mir ist das, namentlich bei dem Charakter Arthur's, gänzlich unverständlich.«

Die Räthin sah lächelnd vor sich nieder.

»Aber Arthur leidet ebenfalls sehr,« meinte Marianne; »das sieht man ihm deutlich an. Er hat sich in letzter Zeit sehr verändert; glauben Sie mir, Mama, wenn er Ihren Befehlen folgt, so wird ihm sein Gehorsam Zeitlebens nachgehen, und wer weiß, ob er nicht später einmal bedauert, gehorsam gewesen zu sein!«

Die Räthin hatte leise auf ihre Briefe getrommelt, sich dann mit dem Schnupftuche die Stirne abgewischt und entgegnete nun nach einem ziemlich langen Stillschweigen: »Ja, Arthur ist recht gehorsam gewesen, und es ist das, wie schon gesagt, sehr respektabel von ihm. Er vertraut seiner Mutter, von der er weiß, daß sie fest an ihren Grundsätzen hängt, der Leidenschaft nicht leicht Gehör gibt und vor allen Dingen selbst prüft, ehe sie einen einmal gefaßten Beschluß zu ändern pflegt.«

Die letzteren Worte waren mit einem ganz andern Ausdruck gesprochen worden, fast warm und gefühlvoll, so zwar, daß der Kommerzienrath seine Tochter erstaunt anblickte, worauf diese einen tiefen Athemzug that, sich niederbückte und, während sie sanft die Hand auf den Arm ihrer Mutter legte, diese auf die Stirn küßte. Die Kommerzienräthin raffte ihre Briefschaften zusammen, erhob sich von dem Sopha, wobei sie lächelnd sagte: »Die Sitzung ist aufgehoben, aber ich will euch nicht verschweigen, daß es mir leichter um's Herz ist, als vor einer Stunde, wo ich mit diesen beiden Briefen in's Zimmer trat. Da war ringsum für mich Alles schwarz bezogen, jetzt hat sich's etwas aufgeklärt und es ist als schimmerte ein kleiner Lichtstrahl in mein Herz. – – Komm, Marianne.«

Damit gingen die beiden Damen fort, der Kommerzienrath blieb allein zurück und verhalf sich nachträglich noch zu einer Tasse wenn gleich schon ziemlich kalten Kaffees. Dabei aber schien er plötzlich guten Humors geworden zu sein und es war rührend und komisch zugleich, wie er nach genossenem Kaffee zum Zimmer hinaus tänzelte.

 


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