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83. Clara

Vielleicht war es zufällig, daß Arthur sich an diesem Nachmittage in der Nähe der Balkenstraße befand, genug, Therese, die aufmerksam umherspähte, erblickte ihn wenige Straßen von dem Hause Clara's entfernt; sie klopfte dem Kutscher an die Fensterscheiben und ließ halten.

Arthur, welcher sich bei seinem Namen gerufen hörte, näherte sich dem zweisitzigen Wagen und war nicht wenig erstaunt, die schöne Tänzerin in demselben zu sehen. Sie theilte ihm auch gleich lachend den Zweck ihres Umherfahrens mit, stellte ihm den Herrn Berger vor, nannte auch diesem den Namen des Malers und fragte dann, ob er nicht Zeit habe, sie einen Augenblick zu begleiten. Sowohl Arthur als Herr Berger sahen bei dieser Aufforderung das schmale Coupé an und Ersterer sagte zu Therese, so angenehm es ihm auch wäre, sie zu begleiten, so fürchte er doch sehr, sie in ihrem Platz zu derangiren.

»Aber ich muß Sie sprechen und zwar auf der Stelle sprechen,« erwiderte hartnäckig die Tänzerin; »ich habe Ihnen Wichtiges mitzutheilen. Und was den Platz anbelangt, da kann man schon Rath schaffen, Berger ist wohl so gut und setzt sich für ein paar Minuten draußen zum Kutscher. Du kannst deinen Regenschirm aufspannen, dann erkennt dich Niemand, man hält dich höchstens für einen Lohnbedienten.«

»Aber,« meinte Arthur leise, »Sie verlangen zu viel.«

»Und was soll der Kutscher denken, mein Kind!« versetzte Herr Berger. Doch hatte er den Schlag schon halb geöffnet, um hinaus zu steigen.

»Machen Sie nur keine Umstände,« rief die Tänzerin dem Maler zu. »Kommen Sie geschwind herein. – Und was den Kutscher anbelangt,« wandte sie sich an den Andern, der schon draußen auf dem Tritte schwebte, »so kannst du ihm meinetwegen sagen, es sei dir hier im Wagen zu warm gewesen und du wollest draußen ein wenig frische Luft schöpfen. Weißt du, Berger,« fuhr sie leise fort, indem sie sich zum Wagen hinausbeugte, »ich mag dem Kutscher nicht laut zurufen, daß er nach der Balkenstraße, dem Hause Clara's, zurückfahren soll, das kannst du besorgen.«

»Das hätte ich thun können und doch wieder in den Wagen hineinsteigen,« entgegnete der Armenpfleger in kläglichem Tone.

»Aber es ist besser so,« sagte Therese und zog den Schlag hinter ihm zu.

Arthur war lächelnd in den Wagen gestiegen. Herr Berger hatte den Bock erklettert, seinen Regenschirm aufgespannt und bot neben dem Kutscher nichts Auffallendes. Er sah in der That aus wie ein Lohnbedienter und schielte auch wie ein solcher, dessen Geschäft es ist, die Fremden auf alle Merkwürdigkeiten rechts und links aufmerksam zu machen, zuweilen hinter sich in den Wagen.

»Ich komme soeben von Clara,« begann Therese in demselben. »O Herr Erichsen, wenden Sie sich nicht unmuthig weg! Glauben Sie mir, Sie haben dieses gute und edle Mädchen unverantwortlich behandelt. Sagen Sie mir um Gotteswillen, Sie sind doch auch schon mit vielen Leuten umgegangen, Sie haben doch auch Menschenkenntniß. Schauen Sie ihr doch in das klare und unschuldige Auge, kann der Blick trügen? Glauben Sie wirklich, Clara sei fähig gewesen, Sie zu hintergehen? – Die gute Clara, mit dem Gemüth eines Kindes, die nicht einmal weiß, was Betrug ist! O ich möchte fast sagen: Sie verdienen dies Herz nicht, das Sie so leichtsinnig weggeworfen.« Und nun erzählte sie ihm in aller Eile, ohne ihn zu Worte kommen zu lassen, was soeben in der Wohnung der Wittwe Wundel vorgefallen, und beschwor ihn, jetzt sogleich hinauf zu gehen, er werde die ganze saubere Gesellschaft noch beisammen finden und es werde ihm nicht schwer werden, von denselben das Geständniß wiederholt zu erhalten.

Damit hielt der Wagen vor dem bekannten Hause und als Arthur, der mit klopfendem Herzen den Worten Theresens gelauscht, nun die dunkle Thüre mit den ausgetretenen Stufen vor sich sah, über die er so oft voll Freude und Glück auf- und abgestiegen war, die er darauf tief betrübt so lange vermieden, für ihn eine Ewigkeit, obgleich er das Haus selbst vermittelst der umliegenden Straßen unaufhörlich umkreist, sowohl bei Tag als bei Nacht, als er nun wieder davor stand, glaubend an die Worte der Tänzerin, da schwand aller Groll, aller Argwohn aus seinem Herzen, eine unendliche Liebe für Clara erfüllte es mehr als vordem, und nach herzlichem Dank und Gruß gegen Therese sprang er in den dunklen Hausflur hinein.

Die schöne Tänzerin blickte ihm ein paar Sekunden nach, dann fuhr sie mit der Hand über die Augen und sprach zu sich selber: »Das ist mein schönstes Hochzeitsgeschenk. Ach! die Versöhnung da oben muß entzückend sein. Wie glücklich werden sich diese Beiden fühlen, zu einander hingezogen, innig verbunden durch gleiche herzliche Liebe.« Hierauf legte sie sich seufzend und nachsinnend in die Ecke des Wagens, doch hatte sie vorher an die Scheiben geklopft und dem Herrn Berger gesagt: »So, nun kannst du wieder herein kommen.«

Arthur gelangte übrigens nicht so schnell in den oberen Stock; je höher er stieg, desto mehr Gedanken häuften sich auf sein Herz und hingen sich schwer an seine Schritte. Er gedachte jenes Abends, wo er an des Grafen Stelle das junge Mädchen empfangen, er bemühte sich, die Figur derselben auf's Genauste in seiner Phantasie festzustellen, und nachdem er das zum ersten Mal seit jenem Vorfalle ruhig gethan, begriff er selbst nicht mehr, daß er Jene mit Clara habe verwechseln können. Dann dachte er auch eifrig darüber nach, wo er sie nach jenem Abende wieder gesehen und ob er da wohl eine Spur von Befangenheit, irgend etwas Verlegenes in ihrem Betragen gegen ihn bemerkt. Ach! er erinnerte sich jetzt genau, daß sie ihm den andern Tag mit offener Stirn und ehrlichem Blick wie immer entgegen gesprungen war, daß sie ihm freudig beide Hände dargereicht und daß sie darauf schüchtern wie immer und halb erröthend seinen etwas stürmischen Kuß geduldet. Ach! und diese süßen Küsse, er hatte sie so lange entbehren müssen, er hatte so lange nicht mehr in ihr gutes, liebes Auge geblickt! Jetzt kam ihm sein ganzer Argwohn wie ein Wahnsinn vor, jetzt konnte er es nicht begreifen, warum er nicht gleich offen und ehrlich mit Clara gesprochen, ihr seine Unterredung mit dem Grafen Fohrbach mitgetheilt und ihr gesagt: wie kann das zusammenhängen? Noch viel weniger aber begriff er, daß er nicht gleich nach jenem schrecklichen Tage, wo er sie zum letzten Mal an der Leiche der unglücklichen Marie gesehen, zu der Wundel geeilt war, die ihm von Madame Becker als Unterhändlerin genannt worden war. Kopfschüttelnd und unzufrieden mit sich selbst stieg er die Stufen hinauf.

*

Clara hatte sich wieder an ihre Arbeit niedergesetzt, sobald Therese vorhin das Zimmer verlassen. Doch wollte ihr dieselbe nicht mehr so von der Hand gehen wie vor der Unterredung. Sie war in den letzten Tagen ruhiger geworden, sie hatte die Erinnerung an jene schreckliche Stunde gewaltsam zurückgedrängt, und diese trat nun zugleich mit dem stärkeren Klopfen ihres Herzens allmählig wieder lebendiger und schrecklicher vor sie hin. Warum hatte sie sich von jenem Augenblick überwältigen lassen, warum hatte sie, statt seinen Vorwürfen gegenüber zu schweigen, nicht ruhig eine Erklärung verlangt über das, was er ihre Treulosigkeit genannt? – Sie wußte es selbst nicht. Es war vielleicht eine richtige Eingebung des Moments gewesen, es war ihr weiblicher Stolz, der sich im Gefühle gekränkter Unschuld dagegen empört hatte. Ach! und wie hatte sie gelitten nach jener Unterredung; wie war ihr die ganze Zukunft finster erschienen, wie alles Glück von ihr gewichen – und nirgends, nirgends ein Hoffnungsstrahl! Jetzt – sie wußte selbst nicht warum – regte sich in ihrem Herzen ein Gefühl, als sei vielleicht noch nicht Alles verloren, als würde die Nacht in ihrem Gemüthe nicht ewig währen, als könne auch für sie noch ein neuer Tag anbrechen, nochmals die Sonne hell und glänzend aufsteigen.

Herr Staiger, der vor sich seine Tochter in tiefen Träumereien sah, hatte die Feder wieder ergriffen und schrieb langsam fort, nicht ohne zuweilen einen Blick auf Clara zu werfen.

Die Kinder hatten während des Besuchs diesen aufmerksam betrachtet und Marie hatte zum großen Ergötzen des Bübchens den Gang und die Haltung der zukünftigen Madame Berger nachgeahmt, worauf sich Karl veranlaßt sah, die Rolle des Armenpflegers zu übernehmen. Er knöpfte sein Jäckchen bis unter das Kinn zu, holte sich des Vaters Hut aus der Ecke und schaute unverwandt in denselben hinein, wobei er so steif als möglich auf und ab ging. Dann nahm er einen kleinen Fußschemel, trug ihn zwischen Vater und Clara an den Tisch und setzte sich selbst darauf, wobei er die Haltung des Herrn Berger auf so komische Art karrikirte, daß der Vater, der zufällig aufblickte, herzlich zu lachen anfing. Auch Clara, die hierdurch aus ihren Träumen aufgeschreckt wurde, mußte lächeln, als sie die kleine Figur vor sich sitzen sah, die, den Kopf steif in die Höhe haltend, sie unverwandten Blicks betrachtete.

»Es ist eigentlich nicht schön von dir, Karl,« sagte der alte Mann, »daß du Leute nachmachst, die uns besuchen. Man nennt das: Jemand verspotten; und aller Spott thut weh.«

»Aber ich will Niemand verspotten,« sagte das Bübchen, »ich habe nur Clara zum Lachen bringen wollen, denn sie schaut immer so betrübt vor sich hin und bekümmert sich gar nicht mehr um mich.«

»Das kannst du gewiß nicht sagen,« erwiderte Clara, indem sie die Arme in den Schooß sinken ließ, »ich bekümmere mich um dich gerade so viel wie sonst.«

Der Kleine schüttelte mit dem Kopfe.

»Nicht?« fragte Clara, »und warum glaubst du das?«

»Du spielst nicht mehr mit mir,« sagte Karl. »Du hast mir schon lange nicht mehr aus dem Bilderbuche vorgelesen, auch keinen Schlitten mehr gemacht und die Bilder, die mir Herr Arthur geschenkt, willst du gar nicht mehr ansehen.«

Als Clara hierauf schwieg, sprach Herr Staiger: »Das wird Alles wieder kommen; Clara wird dir wieder Schlitten machen und auch wieder die Bilder ansehen.«

»Aber Herr Arthur hat lange keine Bilder mehr gebracht,« meinte Marie, die hinzugetreten war. »Warum läßt er sich nicht mehr sehen?«

»O ich hab' ihn gestern gesehen,« sprach eifrig das Bübchen.

»Du wirst dich irren,« versetzte Clara, indem sie erröthend mit dem Kopfe schüttelte.

»Nein, ich irre mich nicht! Er stand gestern am Ende unserer Straße; ich konnte ihn von der Hausthüre aus gut sehen.«

»Und warum riefst du ihn nicht?« fragte Marie.

»Als ich das thun wollte, ging er gerade fort,« versetzte Karl. »Er muß mich nicht gesehen haben.«

»Gewiß, so ist es,« meinte Clara traurig, »er hat dich nicht gesehen. Er weiß nicht mehr, daß wir hier wohnen.« So ruhig sie dies anscheinend sagte, so stockte doch ihr Athem, als sie die Worte aussprach, ihre Augen füllten sich mit Thränen, und sie war nicht im Stande, den bunten Faden, den sie in der Hand hielt, einzufädeln. Dienstfertig drängte sich die kleinere Schwester näher, und als sie ihr Faden und Nadel aus der Hand genommen hatte, was Clara ruhig geschehen ließ, faßte diese mit beiden Händen den Kopf des jungen Mädchens und drückte ein paar innige Küsse auf das blonde Haar desselben.

Diesen Moment mochte Karl nicht so vorbeigehen lassen; er sprang von der andern Seite an den Stuhl der Schwester, faßte sie mit dem Arm sanft um den Leib und sagte, er wolle auch eine Nadel einfädeln, um einen Kuß zu bekommen.

Clara hatte sich gerade in herzlicher Liebe zu ihm niedergebeugt, hatte ihn wiederholt auf die kleinen frischen Lippen geküßt und ihn nothgedrungen zu sich emporgehoben, da er sich an sie hing und seine Arme um ihren Hals geschlungen hatte, wobei er lauter jubilirte und lachte als gerade nothwendig war, als die junge Tänzerin sah, daß ihr Vater sich mit einer Verbeugung eilig vom Tische erhob und der Thüre zuschritt, welche langsam geöffnet wurde. Auch vernahm sie eine Stimme, welche sagte: »Bitte um Entschuldigung, aber ich klopfte mehrmals, was man wahrscheinlich nicht gehört hat.«

Es war eine ältliche Dame, von der diese Worte ausgingen, in einfacher Kleidung, der man aber ansah, daß sie den höheren Ständen angehörte. Sie hatte ein ernstes, würdevolles Gesicht, eine etwas spitze Nase und lebhafte graue Augen, mit denen sie aufmerksam das Zimmer und namentlich die Gruppe am Tische zu betrachten schien.

Der armen Clara war es zu Muthe, als träte das Verhängniß in Person, Vergangenheit und Zukunft, drohend vor sie hin. Sie hielt das Bübchen fest in ihren Armen, ja sie drückte es an sich und zwar so, als wollte sie Schutz bei demselben suchen vor etwas Erschrecklichem, was in der nächsten Sekunde über sie hereinbrechen müsse. Sie kannte die alte Dame wohl, obgleich sie nie ein Wort mit ihr gewechselt. Aber mit welchem Interesse hatte sie dieselbe betrachtet in der Kirche, auf der Straße, im Theater, wenn die Tänzerin an der uns bekannten Oeffnung im Vorhange stand und nicht davon wegzubringen war, wenn die Dame droben in ihrer Loge saß! Da war sie wie festgebannt und mußte unverwandten Blickes hinaufsehen. O sie waren so kalt und theilnamlos, diese Züge, nicht eine Miene bewegte sich in dem Gesicht, kaum merklich nickte sie rechts oder links, wenn sie auf einen ganz ergebenen Gruß dankte. Ja, wenn sie gesprochen, so wischte sie sich mit ihrem Sacktuch die Lippen ab, und wenn sie längere Zeit stillschwieg, was meistens vorkam, so hielt sie die spitzen Finger der linken Hand unbeweglich auf die Logenbrüstung. Wie oft hatte sie ihn – Arthur, über diese Frau gefragt, ob sie zu Haus auch so einsilbig und verdrießlich sei, ob sie denn nie freundlich spreche oder gar lache, und es hatte sie ein kleiner Schauder überflogen, ja ein Schauder, trotzdem es sie auch glücklich gemacht hatte, wenn er zu ihr sagte: »Du wirst sie ja noch kennen lernen, Clara. Ihr Herz ist gut, auch teilnehmend, und sie hat dieses allzuernste und gemessene Wesen nur so angenommen; gewiß, sie kann auch freundlich sein und sogar lachen.« Wie oft hatte das junge Mädchen von dieser Dame geträumt! Und dann war sie ihr immer als böser Engel erschienen, hatte die magere Hand zwischen sie und Arthur gestreckt, hatte mit dem Kopfe geschüttelt, und darauf war Alles, Alles aus gewesen. Wenn alsdann Clara in diesen Träumen auch flehend ihre Hände nach Arthur ausstreckte, und, verzweiflungsvoll seinen Namen rufend, vorwärts strebte, ihn wieder zu erreichen, so war es doch, als treibe eine gewaltige Luftströmung die beiden Liebenden auseinander, immer weiter und weiter, bis sein Bild undeutlich wurde, ein Schatten und dann ganz erblaßte, obgleich das Bild der alten Dame gleich lebendig, gleich starr, drohend und ernst in der Mitte stehen blieb. – Ah! und ihr Blick war dann gerade so wie jetzt, als sie nun in Wirklichkeit in's Zimmer trat.

Herr Staiger war ihr entgegen gegangen, hatte der für ihn Unbekannten eine respektvolle Verbeugung gemacht, und war, als diese mit einem einfachen Kopfnicken erwidert wurde, händereibend und etwas verlegen an die Seite getreten, eine Anrede erwartend. Die Dame blickte aber eben so unverwandt auf Clara, auf das Bübchen und auf Marie, die sich ebenfalls an die ältere Schwester geschmiegt, als erstere sie unaufhörlich ansah. Mochte sie nun den entsetzten Blick der Tänzerin bemerken, und ihr die weit aufgerissenen Augen der kleinen Kinder etwas komisch vorkommen, genug, sie wandte sich mit einem etwas freundlicheren Gesichtsausdruck zu Herrn Staiger, indem sie ihm sagte: »Ich habe mir erlaubt, Sie in einer gewissen Angelegenheit zu besuchen, wenn Sie nämlich ein paar Augenblicke für mich übrig haben.«

Der alte Mann verbeugte sich abermals, rieb sich wiederholt und noch verlegener die Hände, denn ihm kam die Idee, als setze die Dame voraus, sie müsse nothwendig von ihm gekannt sein, was denn aber durchaus nicht der Fall war. Dabei murmelte er etwas von großer Ehre, vielem Vergnügen, und als die Dame hierauf langsam in das Zimmer hinein dem Tische zuschritt, leerte er rasch einen Stuhl, indem er Bücher und Papiere mit dem Arm auf den Boden niederstrich.

In demselben Verhältnis in dem sich die Dame dem Tische näherte, ließ Clara das Bübchen auf den Boden gleiten und erhob sich langsam von ihrem Stuhle. Dabei sah sie sehr bleich aus und ihre Hand, die sie auf den Tisch gestützt hatte, zitterte heftig, auch holte sie mühsam Athem, und als sie nun der Näherkommenden eine tiefe Verbeugung machte, schoß ihr das Blut in's Gesicht, und eine plötzliche Röthe überflog ihre vor einer Sekunde noch so blassen Züge.

Die Dame ließ sich ruhig auf dem angebotenen Stuhle nieder, und als Herr Staiger, der ehrerbietig neben ihr stehen geblieben war, sich nun ein Herz faßte und sie unverkennbar fragend ansah, sagte sie: »Sie scheinen mich nicht zu kennen; ich bin die Frau des Kommerzienraths Erichsen.«

Sobald der alte Herr diesen Namen gehört, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, blickte die Dame mit einem wahren Erschrecken an und brachte mühsam die Worte hervor: »Oh! – das ist zu viel Ehre!«

Die Kommerzienräthin schien übrigens gar keine Antwort zu erwarten und auch seine Worte nicht zu hören, denn sie sah unverwandt auf Clara, welche vor diesem ernsten Blick zuerst ihre Augen niederschlug, sie aber dann im Gefühl ihres redlichen und unschuldsvollen Herzens langsam wieder erhob und die Räthin ehrfurchtsvoll, aber fest anschaute.

»Das ist Ihre Familie?« sprach diese nach einer Pause, während welcher sie alle Anwesenden der Reihe nach betrachtete.

»Das ist meine Familie, jawohl, Frau Kommerzienräthin,« entgegnete Herr Staiger, der nicht im Stande war, sich so rasch von seinem Erstaunen zu erholen, und der häufig nach Clara hinüber blickte, um vielleicht auf dem Gesichte derselben lesen zu können, was das wohl zu bedeuten habe. »Es ist meine Familie,« wiederholte er. »Das ist meine Tochter Clara, das die kleine Marie, und das ist Karl.«

»Und dort die Kleine?« fragte die Räthin.

»Ist eine arme Waise,« versetzte Herr Staiger, »ein verlassenes Kind, das auch hier so bei uns ist.«

»Für dessen Unterhaltung Sie sorgen?« fragte Madame Erichsen.

»O ja,« sagte lächelnd der alte Mann. »Aber es ist nicht der Rede werth; das kleine Ding macht uns weder Kosten noch Mühe.«

»Und Ihre Frau?« forschte die Räthin weiter.

»Ist schon vor einigen Jahren gestorben; es war das hart für mich, doch ließ mir der liebe Gott da meine Clara heranwachsen, und sie vertrat Mutterstelle bei den kleinen Geschwistern – ja wohl!«

»Sie sind aber nicht viel zu Hause, Mademoiselle?« wandte sich Madame Erichsen an die Tänzerin. »Wie ich mir sagen ließ, haben Sie den ganzen Vormittag Ihre Geschäfte außerhalb demselben, und Abends ist auch Ihre Zeit meistens beschränkt.«

Clara zuckte unmerklich zusammen, als die Räthin nun zum ersten Male ihre Worte direkt an sie richtete; doch waren diese Worte ziemlich weich, ja freundlich gesprochen, weßhalb sie es auch vermochte, nach einem tiefen Athemzuge zu antworten. »Unsere Verhältnisse sind klein,« sagte sie, »und da ist auch die Arbeit gering. Wir haben zwei Zimmer, wenig Bedürfnisse, und dafür finde ich Zeit genug.«

»Und haben wohl noch Muße, daneben andere Sachen zu arbeiten?« bemerkte Madame Erichsen. »Lassen Sie doch sehen. Sie machen da eine superbe Stickerei.« Bei diesen Worten streckte sie ihre Hand aus, und Clara reichte ihr die angefangene Arbeit. Doch flammte eine tiefe Röthe auf ihrem Gesicht auf, als die Räthin nun gleichmüthig ein paar Nadeln herauszog, welche die halbfertige Stickerei zusammen hielten, diese auseinander rollte, und ein Sophakissen zeigte von wirklich herrlicher Arbeit, auf's Sauberste ausgeführt. Es war ein Blumenkranz auf blauem Grunde, in der Mitte prangte deutlich und verrätherisch ein großes A.

»In der That eine schöne Arbeit,« sprach die Räthin; »das ist wohl der Anfangsbuchstabe des Namens Ihres Vaters?« sagte sie nach näherem Betrachten, ohne aufzublicken.

Die Tänzerin kämpfte gewaltig mit sich selbst, sie unterdrückte einen tiefen Seufzer und erwiderte mit leiser Stimme: »Ja, gnädige Frau.«

Jetzt schaute diese in die Höhe; sie schien eine andere Antwort erwartet zu haben, und blickte deßhalb forschend auf das Mädchen. Als aber Clara schweigend die Augen niederschlug, schüttelte sie lächelnd den Kopf und wandte sich an die kleine Marie, welche ihre ältere Schwester offenbar verwundert ansah. Dabei deutete die Räthin mit ihrem langen Zeigefinger auf das verhängnißvolle A und sagte: »Du, Kleine, was soll der Buchstabe heißen?«

Einen Augenblick blieb sie die Antwort schuldig und schaute, wie Rath erholend, bald Clara, bald ihren Vater an. Doch zuckte dieser leicht mit den Achseln, jene aber schien es zu vermeiden, dem Blicke des Kindes zu begegnen.

»Nun?« fragte die Räthin abermals, »was heißt das?«

»Es heißt Herr Arthur,« entgegnete das kleine Mädchen.

»Und wer ist Herr Arthur?« forschte die Dame weiter. »Weißt du das nicht?«

»Aber ich weiß es,« sprach mit einem Male das Bübchen, indem es seinen Kopf hinter dem Arme Clara's hervorstreckte. »Herr Arthur ist mein Freund, der Herr Erichsen, der mir sehr schöne Drachen macht und Bilderbücher mitbringt. Er ist aber lange nicht da gewesen; warum, das weiß ich nicht.«

»So, er ist lange nicht dagewesen?« versetzte die Räthin mit weicherer Stimme und blickte abermals angelegentlich auf die Stickerei.

Clara schrak ordentlich zusammen, als das Bübchen jenen Namen genannt; Herr Staiger rieb sich stärker die Hände, hustete verschiedene Male und sagte: »Allerdings besuchte uns Herr Erichsen zuweilen, doch in der letzten Zeit gar nicht mehr; vordem hatten wir eine gemeinschaftliche Arbeit, wenn ich mich so ausdrücken darf; ich übersetzte Onkel Tom's Hütte und Herr Arthur machte die Illustrationen dazu für die Buchhandlung Johann Christian Blaffer und Compagnie.«

Die Kommerzienräthin hatte langsam ihr Tuch vor den Mund genommen und während sie hinein hustete, blickte sie lange und forschend auf Clara.

Diese hatte sich gefaßt; obgleich ihre Hand noch leicht zitterte und ihre Gesichtszüge bleicher waren, als vorhin, so hielt sie doch ihre Blicke nicht mehr niedergeschlagen, sondern schaute die alte Dame offen und ehrlich an. Sie fühlte ihr Unrecht, daß sie Arthur anfänglich verleugnet, sie wollte das nicht mehr thun, mochte auch daraus erfolgen, was da wolle, und wenn auch ihre Lippe schwieg, so sprach desto beredter ihre Auge. Dabei wollen wir gestehen, daß die Räthin diese Sprache verstand, ja sie erkannte in dem glänzenden Blicke die klare und reine Seele des Mädchens, sie las in der Gluth, welche aus diesen schönen Augen aufblitzte, ihre grenzenlose Liebe zu Arthur, und die Thränen, welche dieselben einen Moment nachher verschleierten, diese Thränen des Schmerzes waren ebenfalls für sie keine Räthsel mehr. Hatte doch das Bübchen gesagt, Herr Arthur sei in der letzten Zeit gar nicht mehr gekommen.

Es war das ein eigenthümlicher Moment, und wir nehmen an, daß die Räthin, ihrer Gewohnheit gemäß, gern auf den Tisch getrommelt hätte, doch saß sie etwas zu weit von demselben entfernt. Herr Staiger räusperte sich gelinde, und Marie, sowie das Bübchen, zogen sich scheu zurück und blickten mit Furcht und Grauen in das strenge Gesicht der Dame. Doch wurden diese Züge auch allmählig weicher und weicher, und wir glauben annehmen zu dürfen, daß Clara die Gunst der Räthin gewonnen. War dieselbe doch mit der Absicht hieher gekommen, versöhnend aufzutreten, hatte sie ihrem Sohne doch schon die Leidenschaft für die Tänzerin verziehen, wegen seines Gehorsams, seiner kindlichen Liebe zu ihr, wie sie meinte, der er seine Liebe geopfert! Sie hatte wohl bemerkt, wie schmerzlich es seinem Herzen gewesen, dem Mädchen zu entsagen, und sie hatte das nicht recht begreifen wollen. Jetzt aber, wo sie Clara vor sich sah, wo deren gewinnendes Aeußere seinen Zauber auch auf ihr Herz ausgeübt, verstand sie es vollkommen, wie Arthur schmerzlich gekämpft, welches Opfer er ihr gebracht. Daß auch noch andere Schatten zwischen diesen beiden reinen Seelen getreten waren, wußte sie freilich nicht; sie schrieb Alles Arthur's kindlicher Liebe für sie zu, und da es ihrem Stolze schmeichelte, daß der Sohn ihr dieses große Opfer gebracht, so hatte sie beschlossen, eben diesen Stolz aus ihrem Herzen zu verbannen und Arthur glücklich zu machen. Auch wollen wir nicht verschweigen, daß zugleich mit diesen edlen Gefühlen auch die Bitterkeit gegen die Kreise, in denen sie sich bisher bewegt, mitgeholfen hatte, den Entschluß zu fassen. Daneben hatte auch Eduard und Marianne, ja selbst der Kommerzienrath mitgewirkt, nicht zu übersehen der Kommerzienräthin vertrauteste Freundin, die Tutelarräthin Wasser, welche in allen ihren Kreisen verbreitet hatte, mit dem Hause Erichsen gehe es stark abwärts, denn sie wisse aus bester Quelle, Arthur werde eine Tänzerin heirathen, – Arthur, auf den sich so manche Töchter der verschiedenen Rangklassen Hoffnung gemacht, Arthur, für den die Tutelarräthin selbst eines ihrer Wässerchen bestimmt!

Die Pause, die wir hier in unserer Erzählung gemacht, fand auch in Wirklichkeit in der, obgleich ohnedies vorher schon spärlichen Unterhaltung der Anwesenden in der Staiger'schen Wohnung statt. Daß ein Augenblick der Erklärung heranrücke, fühlten Vater und Tochter wohl. Es war eine Pause der peinlichsten Ungewißheit, es sollte jetzt ein Moment kommen, entscheidend für das Glück oder Unglück zweier Leben.

Die Kommerzienräthin hatte die Stickerei wieder zusammengerollt, und selbst die Nadeln wieder sorgsam eingesteckt, dann sagte sie mit ruhiger Stimme: »Beendigen Sie Ihre Arbeit so bald als möglich – Clara,« – bei diesem Worte blickte sie in die Höhe – »und wenn Sie dieselbe beendigt haben, so bringen Sie sie mir.«

Das waren an sich unbedeutende Worte, welche die Dame gesprochen, doch war es Clara gerade, als habe sich der Himmel geöffnet und als habe ein Engel ihr tausend Worte des Trostes und der Hoffnung zugerufen. Sie preßte ihre Hände auf das wildschlagende Herz, sie blickte innig und dankend in die Höhe, als wolle sie dort etwas Sichtbares erspähen, die mächtige Hand, welche Segen auf sie herabgestreut. – Ach! und doch waren diese Worte nur ein vorübergehender Sonnenblick, und gleich darauf verhüllten wieder schwarze, drohende Wolken ihren schönen heiteren Himmel. Sie gedachte jener Stunde am Sarge der unglücklichen Marie, sie hörte seine vernichtenden Worte – es war ja Alles für sie verloren! Und im Uebermaß des tiefen Schmerzes drückte sie ihre Hände vor die Augen und weinte laut hinaus. Freude und Schmerz hatten gleich heftig ihre Seele erfaßt, und da nun der Letztere die Oberhand behielt, so fühlte sie sich um so tiefer von der Höhe herabgestürzt, auf welche sie die tröstlichen Worte der Mutter Arthur's erhoben.

Da fühlte sie mit einem Male, daß zwei Hände die ihrigen erfaßten und sanft von ihrem Gesichte wegzuziehen versuchten, und als sie das fühlte, zitterte sie heftig, denn aus diesen Händen strömte eine Wärme auf die ihrigen über, eine Wärme, die sich ihrem Gesichte mittheilte und dieses plötzlich tief erglühen ließ. Fest und innig hatte Jemand ihre Finger erfaßt und zog sie ihr langsam vom Gesichte herab. Aber es durchschauerte sie so dabei, daß sie unwillkürlich die Augen schließen mußte, doch nur auf eilten Moment, eine Sekunde, denn darauf vernahm sie eine bekannte Stimme, die ihr leise und schmeichelnd sagte: »Meine gute, gute Clara – mein innig geliebtes Mädchen!«

Es war ganz sonderbar, als sie nun die Augen öffnete, daß sie Niemand vor sich sah, ja, sie mußte die Blicke herabsenken, um Jemanden wahrzunehmen, der zu ihren Füßen lag, der abwechselnd ihre Hände küßte, dann wieder flehend zu ihr aufblickte und dazwischen sprach: »O meine gute, gute Clara, verzeihe mir – verzeihe mir, mein unschuldiges Mädchen; ich habe Alles erfahren.«

Wie sich Arthur in das Zimmer geschlichen, war Allen unbegreiflich; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er da war, und daß er voller Freuden da war, glücklich und selig. Jetzt sprang er hastig in die Höhe, ohne Clara's Hand loszulassen, vielmehr zog er sie hastig zu seiner Mutter hin, die in Ermanglung eines Tisches sanft auf die zusammengewickelte Stickerei trommelte. »Das ist meine Clara!« rief er jubilirend, »nicht wahr, eine liebe und schöne Clara, und nicht wahr, Mama, Sie haben nichts mehr gegen uns Beide!«

Hierauf hustete die Kommerzienräthin laut und geräuschvoll, aber sie that es in diesem Augenblicke nur, um ihre heftige und unschickliche Rührung zu verbergen. Herr Staiger genirte sich weniger, denn obgleich sein Mund lächelte, flossen ihm doch die Thränen über die Wangen herab, so daß die kleine Marie ganz bestürzt darüber war und alle Anwesenden der Reihe nach erstaunt ansah. Das Bübchen allein schien von der Wiederkunft Arthur's nur die praktische Seite zu bedenken; es schaute äußerst vergnügt auf seinen Freund und sah im Geiste eine Menge ungeheurer Bilderbücher, sowie Drachen mit den allerlängsten Schwänzen.

Wir, die wir dies niederschreiben, und der geneigte Leser, der es liest, befinden uns in dem Falle, als ständen wir gerade vor der geöffneten Thüre der Staiger'schen Wohnung und als sähen wir, selbst unbemerkt, all' diese Glückseligkeit, all' diese leuchtenden Augen, all' diese Thränen der Freude. Wenn uns auch Niemand übel nehmen wird, daß wir mitfühlend einen Augenblick stehen blieben, die schöne Gruppe betrachtend, Mancher hoffend auf ein ähnliches Glück, so halten wir es doch für passend, gleich darauf still vorüberzugehen, nachdem wir leise die Thüre vor jedem ferneren neugierigen Blicke verschlossen, und somit auch dieses Kapitel beendigt haben.

 


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