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Der Brief, den Herr Blaffer an jenem denkwürdigen Abend dem Herrn Staiger geschrieben hatte, war der Post übergeben worden und glücklich an seine Adresse gelangt. Der alte Mann hatte bedenklich den Kopf geschüttelt, nachdem er ihn gelesen, aus tiefster Brust dazu geseufzt und bei sich überlegt, ob er seine Tochter Clara davon in Kenntniß setzen solle oder nicht. Doch sah er wohl ein, daß sich ein solch trauriger Umschwung in ihren Verhältnissen vor der Tochter nicht lange würde verheimlichen lassen, denn leider kannte er für den Augenblick keine anderen Quellen, welche im Stande gewesen wären, ihm die verkümmerte Einnahme zu ersetzen. Er lächelte, wenn er an all' die schönen Träume dachte, denen er sich in den letzten Wochen so leichtsinnigerweise hingegeben.
Clara las den Brief des Buchhändlers, ohne eine große Bewegung zu verrathen, doch zitterte ihre Hand, als sie ihn wieder zusammenfaltete und dem Vater zurückgab. »Und was meinst du?« fragte sie mit lautloser Stimme. »Sollte das wohl von ihm kommen?«
Herr Staiger hätte hierauf um Alles in der Welt kein Ja geantwortet; er fühlte wohl, daß das ein neuer Dolchstoß für das unglückliche Mädchen gewesen wäre. Er entgegnete also: »O nein, meine gute Clara; wer weiß, wie das zusammenhängt! Mich hat Herr Blaffer nie leiden können, und wenn Herr Arthur mit uns nicht zerfallen wäre, so hätte mir der Andere meine Arbeit vielleicht doch genommen.« – So sagte er, dachte aber anders; er ahnte vielmehr einen Zusammenhang, ohne sich klar zu werden, worin dieser eigentlich bestehe. Ja, es gab Augenblicke, wo er Arthur für schuldiger hielt, als dieser in der That war.
Leider machte sich die entzogene Arbeit und das hiedurch verminderte Einkommen nur zu bald in der Haushaltung der armen Leute fühlbar. Obendrein hatten sich die Ausgaben des Herrn Staiger wegen des kleinen Mädchens noch vermehrt, und dabei wollte er sich nicht dazu verstehen, für die Unterhaltung desselben das Geringste anzunehmen, obgleich Doktor Erichsen, der, wie wir wissen, zuweilen in das Haus gekommen, ihm das dringend angeboten hatte. »Das war früher nicht ausgemacht,« hatte ihm der alte Mann geantwortet; »ich nahm das Kind gerne auf, weil es arm und hilflos in der Welt dastand; auch sind die Kosten für dasselbe ja nicht der Rede werth. Und dann,« hatte er mit sehr gezwungenem Lächeln hinzugesetzt, »sind wir nicht so arm, als der Herr Doktor wohl glauben, und es ist uns wahrhaftig ein Vergnügen, auch etwas Gutes zu thun.«
Eigentümlich war es, daß Clara das fremde Kind außerordentlich lieb gewonnen hatte. Ihr war es wie ein Geschenk Arthur's, und wenn sie neben ihm saß, ihm sein Kleidchen geordnet oder seine Haare geglättet, so versank sie oft in Träumereien und dachte: »Ich erziehe mir hiemit einen lebendigen Zeugen meiner Unschuld. Das Kind wird größer und älter werden, es wird fühlen und begreifen, wie ich Arthur geliebt und noch liebe, denn ich habe ja keine Ursache, das hier vor den Meinigen zu verschweigen; es wird auch schon noch sehen, was hier bei uns geschieht, wie hier so gar nichts Heimliches und Unrechtes vorfällt, wird erkennen, daß ich ja nie im Stande gewesen bin, treulos zu werden und wird dann – vielleicht wohl erst nach langen, langen Jahren,« fügte sie mit trübem Lächeln bei, »im Stande sein, ihm das alles zu sagen und ihm so die Augen zu öffnen – über das Unrecht, das er an mir begangen.« – Wohl hätte ihm Clara das alles selbst sagen können, denn wenn Arthur seit jenem Vorfall auch nicht mehr in das Haus kam, so fühlte sie wohl, daß er ihren Weg zum Oefteren durchkreuzte. Wenn sie in den Theaterwagen stieg oder denselben an der Thüre ihres Hauses verließ, so begann ihr Herz heftiger zu schlagen, der Athem stockte ihr zuweilen plötzlich und sie vermied es alsdann, rechts oder links zu schauen. Sie wußte auch ganz genau, daß es nur des geringsten Zeichens von ihrer Seite bedürfe, nur ein Stehenbleiben, einen Blick um sich her, um ihn augenblicklich heran zu ziehen. Doch das wollte sie gerade vermeiden. Sie war zu stolz, sie fühlte sich zu sehr verletzt, um nach dem, was er ihr Alles gesagt, eine Erörterung herbeizurufen, wenn sie eine solche auch zuweilen herbeiwünschte. Aber diesen Wunsch hatte sie nur, wenn sie allein war, wenn sie trotz des dunkeln Zimmers ihr Gesicht noch hinter ihren Händen verbarg, damit Niemand sehen möge, wie ihre Lippen schmerzlich zuckten, wie die Thränen unaufhaltsam aus ihren Augen herabflogen.
Die kleine Schwester Clara's war schon verständig genug, um weder diese noch den Vater zu befragen, warum sich ihr Leben so plötzlich geändert habe. Sie dachte sich, es müsse eine Ursache haben, daß namentlich die Küche des Hauses noch unendlich einfacher, als dies früher geschehen, besorgt wurde. Das Bübchen dagegen konnte dies gar nicht begreifen und verlangte fast jeden Tag Aufklärungen, warum denn beinahe gar kein Fleisch mehr käme, und immer Kartoffeln' mit Suppe abwechselten. »Ihr seid alle sehr dumm,« sagte es, »daß ihr es nicht besser haben wollt, und morgen verlange ich einen Kalbsbraten, übermorgen Kuchen und dann so fort.«
Vater Staiger konnte seine Klagen in diesen Fällen nur beschwichtigen, wenn er ihm irgend ein Märchen erzählte. Er hatte jetzt leider auch recht viele Zeit zum Märchenerzählen, denn wenn er auch durch die Rekommandation eines alten Bekannten eine kleine Arbeit erhalten hatte, so war diese doch nicht der Art, daß sie seinen Geist in Anspruch nahm. Es waren nämlich ein paar Abschriften, die er zu besorgen hatte, und bei deren Anfertigung ihm volle Muße blieb, seinem kleinen Sohn auf alle möglichen Fragen zu antworten.
Da die Jahreszeit schon vorgerückt und es nicht mehr so kalt war, so hatte Herr Staiger seinen Tisch näher an's Fenster gebracht und so konnte er auch Abends länger schreiben, ohne ein Licht anzünden zu müssen. Ihm gegenüber saß Clara mit einer Stickerei beschäftigt, eine Stickerei, die sie in besseren Tagen angefangen, und die sie nicht lassen konnte, langsam zu vollenden. Marie hatte sich des kleinen Kindes angenommen und zeigte ihm Bilder in einem großen, halb zerrissenen Buche – ein Amüsement, welches das Bübchen durchaus nicht mehr befriedigte. »Das ist Alles dummes Zeug,« sagte er mit großer Bestimmtheit, »und das brauche ich nicht mehr anzusehen, denn ich weiß es genau. Auch ist Alles nicht wahr, was in dem Buche steht, und es gibt keine Riesen, die kleine Buben auffressen. Ich habe noch nie einen lebendigen gesehen.«
»Das glaube ich wohl,« entgegnete lächelnd Herr Staiger, »diese Riesen lassen sich auch nur sehen, wenn die Kinder über alle Beschreibung unartig sind. Und ich hoffe, so arg schlimm bist du doch nicht.«
»O er ist schon schlimm genug,« bemerkte die kleine Schwester, »denn er hat gestern meiner Puppe das linke Bein ausgerissen und hat ihr auch den Kopf abgeschlagen.«
»Das ist aber sehr häßlich von dir, Karl,« sprach Clara. »Jetzt hast du alle deine eigenen Sachen entzwei gemacht, und nun verdirbst du auch die von Marie!«
»Die Puppe war nicht mehr schön,« erwiderte der Knabe, »und wollte auch nicht Seiltanzen.«
»Kannst denn du Seiltanzen?« fragte der Vater.
»O ja, wenn ich will, – aber ich will nicht. Und es ist auch nicht war, wenn Clara sagt, ich mache meine Spielsachen entzwei; das Schönste, habe ich doch noch.« Bei diesen Worten griff er in die Tasche seiner Höschen und zog den Rest einer Mundharmonika hervor, auf welcher er auch sogleich zu blasen anfing und die kläglichsten Töne hervorbrachte. Glücklicherweise liebte er sehr das Piano, und wenn er einen Ton so lange anhielt, bis fast gar nichts mehr zu hören war, so blickte er zu gleicher Zeit wie in tiefe Gedanken versunken nachsinnend vor sich hin, als wolle er den Ton verfolgen, der sich scheinbar in weite, weite Fernen verlor. Plötzlich verstärkte er ihn, brach dann schrillend ab und sagte: »Clara, ich habe Hunger.«
»Das ist man bei dir gewohnt,« antwortete die ältere Schwester trübe lächelnd. »Du bist ein kleiner Fresser, der an nichts anderes denkt. Jetzt sind es kaum ein paar Stunden, daß wir zu Mittag gegessen haben; wie kannst du schon wieder Hunger haben?«
»Weil ich keinen Kaffee mehr bekomme wie früher,« erwiderte finster das Bübchen; »da hat man doch auch den Nachmittag was zu thun gehabt.«
»Ich denke mir,« meinte der Vater, »du hättest gern alle Stunden mit Essen und Trinken abgewechselt.«
»Das hätte ich auch,« entgegnete Karl, »und immer was Besseres.«
»Und wenn du nun das Allerbeste gehabt hättest, was es gibt, dann –?«
»Dann –« wiederholte der Knabe, ohne zu verstehen, was der Vater eigentlich sagen wollte, denn von einem Kulminationspunkt hatte er noch keine Idee.
»Dann wäre es dir ergangen wie den beiden Fischersleuten, die im Wassertopfe wohnten.«
»Und den kostbaren Zauberfisch fingen,« rief Marie.
»Ganz richtig,« versetzte Herr Staiger, indem er seine Feder niederlegte und gedankenvoll an die Decke blickte. »Die wollten auch immer etwas Besseres, zuerst Geld, dann ein Haus, dann Fürst werden, dann König und zuletzt Pabst. Das erhielten sie und wurden auch Alles nach und nach, als aber die Frau des Fischers endlich der liebe Gott selbst werden wollte – pumps dich! da hatten sie nichts mehr und mußten wieder in ihrem Wassertopfe wohnen und trockenes Brod essen. – Das ist ein verständiges Märchen,« fuhr der alte Mann träumerisch fort, »und wir Alle haben etwas von den Fischersleuten in uns. Heute begnügen wir uns mit einer einfachen Mahlzeit, morgen ist uns die bessere nicht mehr gut genug, denn wir wünschen alsdann auch dazu ein stattliches Zimmer, endlich ein Haus und obendrein noch gar einen Titel.«
»Ich glaube nicht, daß ich so wäre,« sagte Clara. »O, ich hätte eine Grenze gewußt, bei der angekommen ich vollkommen glücklich und zufrieden gewesen wäre!«
Der alte Mann blickte seine Tochter bewegt an, dann entgegnete er: »Ich verstehe dich wohl, mein armes Kind, aber wenn auch damit für jetzt der Horizont deiner Wünsche abgeschlossen wäre, so glaube mir zu deinem Troste, daß, wenn du alles das erreicht hättest, doch die Zeit gekommen wäre, wo neue Wünsche dein Herz bewegt hätten.«
Clara wollte etwas erwidern, doch wandte sie ihren Kopf plötzlich gegen die Kammer vor dem Wohnzimmer, wo man deutlich vernahm, daß dort die Thüre geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Darauf klopfte es ziemlich laut und vernehmlich, so daß sich die kleine Marie beeilte, »Herein!« zu rufen.
Die Thüre öffnete sich und es erschienen zwei Personen auf der Schwelle, eine Dame und ein Herr, von denen sich die Erstere lachend der Tänzerin näherte, und ehe diese aufstehen konnte, freundlich ihre Hände ergriff. Es war Mademoiselle Therese, die lustig und strahlend hereintrat und sich augenblicklich auf den Stuhl niederließ, den ihr Herr Staiger hinstellte, ohne sich dabei viel um ihren Begleiter zu bekümmern, der, den Hut in der Hand, ziemlich schüchtern an der Thüre stehen geblieben war. Es war das ein Mann, vielleicht in den Vierzigen, ziemlich dürr, mit einem ernsten, eingefallenen Gesichte, hoch emporgezogenen Augenbrauen und etwas herabhängender Unterlippe. Sein Haar war einfach zurückgekämmt, und da er hiebei den Kopf etwas geneigt trug, so gab ihm das ein demüthiges Aussehen, welches noch unterstützt wurde durch die etwas gebeugte Haltung des Körpers und die verlegene Art, mit welcher er seinen Hut in beiden Händen so hielt, daß sich seine Blicke in denselben hinein, man möchte fast sagen: verkriechen konnten. Auf Momente erhob er die Augen und dann fuhr aus ihnen ein eigentümlicher Blitz über die Tänzerin. Dieser Herr trug einen braunen Ueberrock bis an den Hals zugeknöpft, so daß man nichts sah als eine weiße Halsbinde, wodurch übrigens die kahle Gesichtsfarbe ein wenig aufgefrischt wurde.
Therese hatte sich nach Clara's und ihres Vaters, sowie auch nach dem Befinden der Kinder erkundigt, auch gesagt, sie habe schrecklich viel zu thun und wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, während welcher Zeit ihr Begleiter in der Nähe der Thüre verharrte. Erst als sich Clara erhob, um denselben zu begrüßen und ihn mit einem Blick auf Therese zu bitten, gefälligst näher treten zu wollen, wandte diese den Kopf herum und sprach leichthin: »Du brauchst dich hier gar nicht zu geniren, Berger, das ist Herr Staiger und meine gute Freundin Clara; wir sind hier ganz unter uns. Dort ist ein Stuhl, den kannst du dir mitbringen. – Mein Bräutigam,« wandte sie sich mit einer Handbewegung an Herrn Staiger, dann warf sie den Kopf etwas in die Höhe und fuhr ernster fort: »Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, liebe Clara, daß ich meine Brautvisiten mache. – Gott! es ist das schrecklich langweilig,« setzte sie leiser hinzu.
»Ah! da gratulire ich,« versetzte herzlich Herr Staiger, indem er dem Bräutigam die Hand schüttelte und demselben dabei mit einem kleinen Rucke zum Sitzen verhalf, denn Herr Berger schwebte einige Sekunden lang über dem Stuhle, und schien es für passend zu halten, auf diese Art die Gratulation in Empfang zu nehmen.
»Da hast du viel zu thun,« sagte Clara nach einer Pause, während welcher sie den Bräutigam und ihre schöne Freundin einen Augenblick forschend betrachtet.
»Es geht so,« erwiderte Therese in nachlässigem Tone; »ich habe anfänglich gar keine Besuche machen wollen, aber Berger meint, es sei nothwendig, und ich meines Theils habe mir auch die neue Verwandtschaft ein bischen ansehen wollen. – Und das war in der That der Mühe werth,« platzte sie nach einigen Sekunden lachend heraus. »Du hättest die Gesichter sehen sollen! Berger hat eine große, und auch was man so nennt, eine vornehme Verwandtschaft: wohlhabende Kaufleute, ja Regierungs- und Kanzleiräthe. Ich sage dir, Clara, ein paar von diesen Damen schnitten mir Gesichter, als müßten sie Rhabarber verschlucken; aber wie du mich kennst, hat mich das ungeheuer amüsirt. Nicht wahr, Berger, ich habe mich gar nicht blöde benommen?«
»O nein,« erwiderte der Bräutigam, wobei er seinen Hut herumdrehte und nun angelegentlich die obere Fläche betrachtete. – »Du hast ihnen recht gut gefallen.«
»Das will ich meinen,« fuhr Therese lachend fort. »Auch ich bin so ziemlich mit ihnen zufrieden; ich habe sie meiner ganzen Gnade versichert, und wenn sich deine Verwandtschaft gut aufführt, so soll sie mit mir zufrieden sein.«
»Und Sie werden bald heirathen?« fragte Herr Staiger, der den Bräutigam schon eine Zeitlang theilnehmend betrachtet hatte.
Dieser schielte zu dem alten Herrn hinüber und erwiderte: »O ja, recht bald – wenn Therese will.«
»Das versteht sich von selbst. Man muß doch mit der Geschichte einmal ein Ende machen. Ich hoffe, liebe Clara, du erhältst mich in deiner Freundschaft. Hast du einen Augenblick für mich übrig?« setzte sie leise hinzu; »ich hätte dir etwas zu sagen, was nur uns allein angeht.«
»Du weißt,« entgegnete Clara erröthend, »daß wir außer der Kammer draußen nur dieses Zimmer haben. Wenn du mit mir dorthin gehen willst –«
»O das ist gar nicht nöthig,« versetzte die Andere, indem sie sich erhob, »komm, treten wir an den Ofen.« Das hatte sie Alles in gedämpftem Tone gesprochen, und setzte nun mit lauter Stimme hinzu: »Berger, du wirst dich einen Augenblick mit Herrn Staiger unterhalten; ich habe mit Clara etwas abzumachen.« Damit nahm sie diese unter dem Arm und trat mit ihr an den Ofen. Herr Berger begann, dem erhaltenen Winke gemäß, augenblicklich über das Wetter zu sprechen, und meinte, es sei noch immer recht kalt, doch da jetzt der Winter vorbei sei, habe man Hoffnung, daß, dem gewöhnlichen Laufe der Dinge nach, nun doch am Ende das Frühjahr erscheine.
Therese stützte die rechte Hand auf die kleine Kinderbettlade, die hinter dem Ofen stand, und sah ihrer Freundin so fest und forschend in die Augen, daß sie dieselben niederschlug. »Nun wie steht's mit deiner Sache?« fragte sie darauf.
Clara erhob den Blick, schüttelte leicht mit dem Kopfe und entgegnete mit sanftem Tone: »Ich weiß von nichts, will auch von nichts wissen.«
»Und er hat gar nicht einmal den Versuch gemacht, dich zu sprechen?« versetzte die Andere, wobei sie den Kopf ärgerlich in die Höhe warf. »Nicht einmal den Versuch gemacht?«
»O doch,« sagte Clara nach einem kleinen Stillschweigen, wobei ihre Blicke abermals den Boden suchten. »Wie es mir scheint, machte er zuweilen den Versuch, mich zu sehen; aber ich weiche ihm aus und vermeide ihn.«
»Daran thust du nicht ganz unrecht, aber du mußt es nicht zu weit treiben.«
»Was ist denn da noch weit zu treiben?« sprach Clara schmerzlich. »Wer weiß, warum er mir in den Weg tritt! Vielleicht, um seine Vorwürfe zu erneuern, wenn ich dieselben anhören wollte.«
»Vielleicht auch thut ihm sein Betragen leid und er möchte dich um Verzeihung bitten.«
Clara schüttelte den Kopf mit einem trüben Lächeln. »O nein,« sagte sie, »er kam ja öfters hierher in unsere Wohnung und weiß gewiß, daß ich ihm hier für ein offenes, ehrliches Wort gerne Rede stehen würde.«
»Er wird sich scheuen; er weiß nicht, wie du ihn empfangen würdest. Du mußt schon ein bischen nachgiebiger sein, mein Kind. Weißt du,« fuhr Therese fort, indem sie ihren Shawl ordnete und denselben fest um ihre schlanke Taille zog, »es ist leider einmal so in der Welt, und wenn man noch so sehr in seinem Rechte ist, so muß man sich doch zuweilen beugen und schmiegen, und immer das Ziel im Auge behalten, das man am Ende erreichen will.«
Clara preßte die Hand auf ihr Herz und erwiderte: »Ach! Therese, glaube mir, ich habe kein anderes Ziel mehr vor Augen als das, welches uns allen gemeinschaftlich ist. O er hat mein Herz gebrochen; ich fühle das; und nur die größte Wonne, die reinsten Freuden wären vielleicht im Stande, es zu heilen. Aber dergleichen habe ich ja nicht mehr zu erwarten; hätte er mit mir über irgend etwas einen kleinen Streit angefangen, hätte er mich heftig wegen Fehler oder Unarten gezankt, ich wäre ihm dankbar dafür gewesen, aber er hat mir in kaltem Tone vorgeworfen, ich sei ein treuloses Geschöpf, und dabei hat er mir Worte gesagt, so fürchterlich, daß ich sie nicht vergessen kann. Es ist mir, als ob sie irgend ein böser Geist beständig neben mir ausspräche, und Nachts werden sie zu Träumen und quälen mich entsetzlich. – O das ist unerträglich!« fuhr sie nach einer Pause fort, während welcher sie ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hatte. »Ich sehe ihn immer und immer vor mir stehen, wie er, mich verwünschend, die Hände gegen mich ausstreckte und wie er sagte: ich zerreiße dieses Band; hier vor der todten Marie sage ich mich feierlich von dir los. – Ah! entsetzlich!«
Therese hatte ihre Hand ergriffen, das arme Mädchen sanft an sich gezogen und drückte nun den Kopf derselben auf ihre Schulter nieder. Dabei küßte sie ihr innig das schwarze Haar und ließ sie eine Weile so ruhen, ehe sie ihr leicht den Kopf wieder erhob, und sie auch alsdann herzlich auf die thränenden Augen küßte.
»O du bist wirklich gut,« sagte Clara, »du hast ein braves, fühlendes Herz.«
»Ich bin vielleicht nicht so schlimm, als man glaubt,« entgegnete die schöne Tänzerin, und dabei zuckte ein wehmüthiger Zug um ihren Mund. »Aber,« setzte sie entschlossener bei, »keine Klagen, keinen Schmerz, liebe Clara! Für jetzt bin ich noch nicht da, um mit dir zu weinen; das kann später geschehen. Jetzt wollen wir einen Moment deine Angelegenheit ruhig in's Auge fassen, um zu ergründen, was da vorgefallen sein könnte. – Daß er die Sache nicht vom Zaune gebrochen hat, ist klar; weißt du, liebes Kind, wenn man sich mit einer Geliebten entzweien will, ohne Ursache zu haben, bloß weil sie einem nicht mehr gefällt, so besorgt man das auf andere Art. Nein, hier ist etwas vorgefallen.«
»Aber ich habe nichts gethan,« sprach Clara erschrocken.
Auf das hin faßte Therese lächelnd ihre beiden Hände, sah ihr in die Augen und erwiderte: »Das brauchst du mir nicht zu sagen, mein gutes Geschöpf. Herr Arthur ist sehr unerfahren, oder sehr dumm, daß er dich, mein Engel, mit deinem offenen Gesicht, und deinen klaren, ehrlichen Augen irgend etwas Schlimmen beschuldigen konnte. Es ist das rein unbegreiflich. Aber weiter! Antworte mir ein bischen genau auf meine Fragen: Hast du vielleicht in der letzten Zeit oder auch früher Jemand bemerkt, der sich für dich lebhaft interessirte, der dir nachgegangen wäre, der es versuchte, dich zu sprechen, dir Briefe oder auch vielleicht Blumen geschickt? Aber thue mir den Gefallen, liebes Kind, und genire dich nicht vor mir; ich muß Alles wissen.«
Clara lächelte einen Augenblick unter ihren Thränen hervor und entgegnete: »Ach, es ist mir hart, über so etwas zu sprechen, aber ich weiß wohl, daß du es gut mit mir meinst. – Ja, es hat sich wohl Jemand, wie du es nennst, für mich interessirt, mir auch Blumen geschickt, sogar einmal ein Billet, doch habe ich es nicht angenommen.«
»Das ist gleichviel. Und wer war das?«
»Graf Fohrbach.«
»Ah! der Adjutant seiner Majestät,« sagte Therese mit einem komischen Ausdrucke. »Nicht so übel; sieh! sieh! Das ist ein Faden, an dem wir uns halten können. Und Arthur kennt den Grafen?«
»O ja, sehr genau. Sollte der vielleicht über mich gesprochen haben?«
»Nichts Schlimmes, wenn du, wie du sagst, nichts mit ihm zu thun hattest. O du brauchst es nicht zu betheuern, ich kenne dich. Graf Fohrbach ist einer der anständigsten jungen Leute der Stadt. Und die Scene, die du mit Arthur hattest, ging bei der Becker vor sich? Was machte Herr Erichsen da?«
»Ich weiß es nicht,« versetzte Clara. »Darüber habe ich dich schon fragen wollen. Was hat er wohl da zu thun gehabt?«
Therese zuckte die Achseln und erwiderte: »Die Becker ist ein schlimmes Weib und treibt ein für junge Mädchen sehr gefährliches Handwerk. Doch das verstehst du nicht ganz. Daß sie auch für den Herrn Grafen Fohrbach kleine Unterhandlungen zu führen hatte, weiß ich ganz genau. – Es wäre möglich,« sagte sie nachdenkend, »daß sich der Graf wegen dir – du brauchst nicht zu erschrecken – an die Becker gewendet. Ja, bei Gott! das wäre möglich, daß die ihm etwas vorgeschwindelt und Arthur das erfahren. Das ist ein kleines Licht. – Und die Becker ist dir nie in den Weg getreten?« fragte sie nach einer Pause.
»O nein, bei uns war sie nie. Aber, halt einmal! Hier im Hause ist sie doch einmal gewesen.«
»Und das ist schon lange?«
»Um Weihnachten, glaube ich. Da war sie hier nebenan bei der Frau Wundel, die dort mit ihren beiden Töchtern wohnt.«
Therese blickte einen Augenblick in die Höhe, dann fragte sie: »Frau Wundel, – wer ist das?«
»Es ist eine sonderbare Familie,« erwiderte Clara achselzuckend. »Was sie eigentlich treiben, weiß ich nicht, sie ist eine Wittwe, arm, und lebt wie ich glaube von Unterstützungen.«
»Ah! da muß mein Bräutigam sie kennen,« versetzte Therese eifrig und rief alsdann laut: »Berger, kennst du eine Familie Wundel?«
Der Gefragte wandte den Kopf herum, nickte und entgegnete: »O ja, ich kenne sie – sehr, sie muß hier in diesem Hause wohnen.«
»Was sind das für Leute?« forschte die Tänzerin weiter.
Herr Berger zuckte mit den Achseln, machte ein saures Gesicht und sagte: »Sogenannte verschämte Hausarme, aber unter uns bemerkt, nicht viel daran, haben jedoch Konnexionen, denen sie Unterstützungen aller Art zu erpressen wissen.«
Therese warf ihrer Freundin einen bedeutsamen Blick zu, dann fuhr sie fort: »Werden wir dieser Familie einen Besuch machen?«
»Es lag das durchaus nicht in meiner Absicht,« gab der Bräutigam in bestimmtem Tone zur Antwort. »In dienstlicher Eigenschaft muß ich zuweilen hingehen, aber es ist mir das unangenehm genug.«
»So gehe einmal in dienstlicher Eigenschaft hin,« sagte das schöne Mädchen. Und als sie Herr Berger einigermaßen erstaunt, und fragend anblickte, fügte sie mit erhobenem Kopfe bei: »Ich wünsche das, mein Lieber. Nimm dir ein paar Gulden in die Hand und thue so, als habest du ihnen irgend eine Unterstützung zu bringen.«
»Und du?« fragte Herr Berger mißtrauisch.
»Nun, ich begleite dich,« meinte Therese lachend. »Habe ich doch auch meine Freude am Wohlthun.«
Nach diesen Worten erhob sich der Bräutigam förmlich und steif, doch schien er ziemlich an Gehorsam gewöhnt zu sein, denn er versuchte keine weitere Widerrede. Er schüttelte dem Herrn Staiger freundlich die Hand, machte Clara eine tiefe Verbeugung und schritt zur Thüre hinaus, gefolgt von Therese, die ihre Freundin nochmals auf die Stirne küßte, wobei sie ihr sagte: »Noch ist vielleicht nicht Alles verloren, gute Clara, ich will deine Angelegenheit in die Hand nehmen.«
– – Hätte die Familie Wundel eine Ahnung davon gehabt, mit welch' ungewöhnlichem Besuch sie die Aussicht hatte erfreut zu werden, so würde sie ihr Zimmer in andere Verfassung gebracht haben oder hätte ihre Thüre fest verschlossen gehalten, und das würdigste Mitglied derselben, Madame Wundel, hätte nicht auf so bereitwillige Art »Herein!« gerufen, als von draußen sehr bescheiden angeklopft wurde. Leider geschah dies zu der unglückseligen Stunde, als die brave Wittwe im Gefühl ihrer Dankbarkeit gegen Madame Becker diese zu einer guten Chokolade eingeladen hatte. Auf dem Tische dampfte eine angenehme Kanne dieses vortrefflichen Getränks, rings umher Wohlgeruch verbreitend, daneben stand ein Teller mit prächtigem Backwerk, sanft gebräunter Gugelhopfen, welcher von oben durch den darauf gestreuten Zucker wie ein Schneegebirge aussah, auch freundlich glänzender Zwieback, sowie etwas Kräftigeres: Butterbrot mit einigem Fleischwerk. Der Ofen verbreitete eine behagliche Wärme, und ein Kesselchen mit warmem Wasser, welches auf der Kohlengluth stand, und neben demselben am Boden eine Flasche Punschessenz, zeigten deutlich an, daß Madame Becker ihr Lieblingsgetränk der sanften Chokolade vorzog. Sie mochte auch schon mehrere Gläser davon zu sich genommen haben, denn ihre Wange war sanft geröthet, sie schluckte häufig ohne Ursache und ihr Lachen war mehr ein Grinsen zu nennen, auch blickte sie still in das Punschglas hinein und summte die Melodie eines bekannten Liedes. Dabei befand sich die Frau in Trauer, doch gab ihr lachendes Gesicht einen starken Gegensatz zu der schwarzen Farbe ihrer Kleider. Neben ihr saß Madame Wundel bestens aufgeputzt und strahlte vor Wohlbehagen; sie schien soeben eine Tasse Chokolade geleert zu haben und schmatzte noch vergnügt mit den Lippen. Emilie war beschäftigt, den Gugelhopfen zu zerschneiden und nur die jüngere Tochter Louise schien am wenigsten Antheil an der Gesellschaft zu nehmen, denn sie saß auf einem Stuhle an der unteren Seite des Tisches und hatte ihren Arm nachlässig und solchergestalt über die Lehne gelegt, daß sie den Anderen zur Hälfte den Rücken zudrehte.
Es klopfte also, Madame Wundel rief: »Herein!« und die Thüre öffnete sich. –
Wären aber in diesem Augenblicke der selige Becker und der selige Wundel erschienen, mit himmlischen Feierkleidern angethan und bereit, ihre theuren Hälften in's bessere Jenseits abzuholen, das Entsetzen hätte nicht größer sein können, als beim Anblick des Armenpflegers, der seinerseits nicht weniger erstaunt war, seine Unterlippe noch tiefer herabhängen ließ und die Augenbrauen bis an die Grenzen der Möglichkeit hinauf zog.
Madame Wundel, gänzlich außer sich, ohne alle Geistesgegenwart und so überrascht jeder Verstellung unfähig, ließ beide Hände auf den Tisch sinken und starrte mit einem trostlosen Blicke den Eintretenden an. Emilie behielt mehr ihre Fassung und machte den vergeblichen Versuch, den Gugelhopfen vom Tische verschwinden zu lassen, doch war ihre Bewegung zu heftig und rechts und links fielen die aufgeschnittenen Stücke über Tassen und Tischtuch dahin. Louise allein beharrte in ihrer Stellung, ja sie zuckte mit den Achseln und lächelte höhnisch.
Madame Becker, die den Armenpfleger wohl kannte und deshalb vollkommen das Entsetzen ihrer Freundin begriff, faßte, auch wohl von dem starken Getränk ermuthigt, sich am schnellsten wieder, schüttelte ihre Nachbarin am Arme und sagte mit ihrem breiten, gemeinen Tone und etwas sehr schwerer Zunge: »Ach, Wundel, erschreck' Sie nur nicht so, der Herr Armenpfleger wird es wahrhaftig nicht übel nehmen, wenn arme Kreaturen, wie wir sind, sich einmal einen vergnügten Tag machen. – Was könnt Ihr auch dafür,« setzte sie mit einem pfiffigen Blinzeln hinzu, »daß es mir nun einmal in den Kopf gekommen ist, Euch mit Chokolade und was Gutem zu traktiren!«
»Ja, was kann ich dafür!« sprach die Wundel nach einem tiefen Athemzuge, indem sie begierig diesen Rettungsanker ergriff. »Die Becker ist eine so gute Seele, eine so brave Frau und denkt gern an uns arme Leute. Ach Gott!« fuhr sie fort und schlug ihre Augen scheinheilig auf, »wie käme auch sonst was so Gutes an uns!«
»Das mißgönnt uns der Herr Armenpfleger gewiß nicht,« sagte auch Emilie etwas gefaßter.
Die erstaunten Blicke des Herrn Berger fuhren indessen, auf's Höchste überrascht, auf dem ganzen Tisch umher; ihm war es unfaßlich, daß verschämte Hausarme ein solch' angenehmes Leben zu führen im Stande seien, und wenn es ihm unbegreiflich war, woher Madame Wundel das Geld zu diesen Ausgaben nahm, so glaubte er doch nicht den Worten der Becker, namentlich nicht, als er in das Gesicht seiner Begleiterin blickte, die mit einem unnachahmlichen, höchst ergötzlichen Lächeln die Gesellschaft am Tische betrachtete.
»Einen Stuhl! – Zwei Stühle! –« schrie nun plötzlich Madame Wundel, indem sie hastig aufsprang. »Der Herr Armenpfleger thun uns die Ehre an, sich einen Augenblick an unsern schlechten Tisch zu setzen.«
Auch Emilie schnellte auf die Seite und Madame Becker erhob sich schwerfällig. »Ist es nicht wie ein Fingerzeig von Oben,« sagte diese lallend, »daß Ihr heute Euer Zimmer in so guter Verfassung habt, wo Ihr so schönen Besuch bekommt? Ach! und auch Fräulein Therese,« fuhr sie knixend fort; »jetzt weiß ich, weßhalb Euch der Herr Berger die Ehre anthut, – es ist eine Brautvisite, ja wahrhaftig, eine Brautvisite.«
Madame Wundel, die noch immer nicht recht ihre Sprache gefunden hatte, knixte zu wiederholten Malen und Emilie wiederholte mit einem bitterbösen Lächeln und einem Seufzer das Wort: »Brautvisite.« Louise war unterdessen ebenfalls aufgestanden und hatte zwei Stühle an den Tisch gestellt.
Herr Berger ließ sich auf einen derselben zögernd nieder, auch ließ er sich erst nieder, als er sah, daß Therese es sich auf ungenirte Art bequem machte, mit vornehmem Kopfnicken den dargebotenen Platz annahm und darauf die Damen der Reihe nach musterte.
»Nein, die Ehre und das Vergnügen!« sagte jetzt auch Madame Wundel, indem sie die Hände zusammenschlug. »Hätte ich mir das doch nicht träumen lassen! Und wollen Fräulein Therese die Gnade haben, meinen ganz ergebenen Glückwunsch anzunehmen, ebenfalls der Herr Armenpfleger nicht weniger, und wollen versichert sein, daß es mir das größte Vergnügen macht, Sie auf Ihrer Brautvisite zu sehen. – Ein schönes Paar,« sagte sie scheinbar leise zur Becker, doch so laut, daß man es allenfalls im Nebenzimmer gehört hätte.
Therese that aber natürlich nicht dergleichen, vielmehr blickte sie die Wundel so unbefangen wie möglich an und versetzte: »Ja, wir machen unsere Brautvisiten und da wir zufällig im Hause waren, ja auf demselben Stockwerke, so fand es mein Bräutigam für angemessen, auch Ihnen, Madame Wundel, die Sie ihm als eine stille christliche Frau bekannt sind, ebenfalls einen Besuch zu machen.«
Der Armenpfleger spitzte seinen Mund wie eine Karpfe, ließ die Augen einen Moment über den Tisch und das darauf befindliche Backwerk hingleiten und senkte sie dann auf seinen Hut hinab, wo er emsig die Firma des Fabrikanten studirte.
Madame Wundel hustete leicht und sprach: »Ah! Fräulein Therese waren also schon im Hause, schon auf demselben Stocke?«
»Allerdings,« entgegnete diese, »und zwar bei meiner besten Freundin, Clara Staiger – die Sie ja wahrscheinlich kennen,« fuhr sie nach einer Pause lächelnd fort.
»O ja, wir kennen sie vom Aus- und Eingehen,« meinte die würdige Wittwe, indem sie auf dem Tisch ihre Hände übereinander legte. »Wie man sich so kennt, als Nachbarn oberflächlich.«
»So, nur oberflächlich?« erwiderte die Tänzerin, aber obgleich sie das Wort nur einmal aussprach, so schien es doch an alle Anwesenden gerichtet zu sein und sie blickte jede derselben der Reihe nach scharf an. »Sie ist ein sehr braves und geordnetes Mädchen, meine Freundin,« sagte sie darauf wie fragend.
»Das ist sie,« bekräftigte die Madame Wundel, »das ist sie, bei Gott, der Neid muß es ihr nachsagen.«
»Solid, sehr solid,« meinte die Becker; doch lächelte sie dazu auf eigenthümliche Art. Und Emilie setzte etwas boshaft hinzu: »Ein wahres Muster; man könnte sie allen jungen Mädchen zum Exempel vorstellen.«
In diesem Augenblicke wechselte die Wittwe mit Madame Becker einen Blick, der, so schnell das auch vor sich ging, von Therese nicht unbemerkt geblieben war.
»O ich weiß, wie gut und lieb sie ist,« fuhr die Tänzerin fort. »Aber,« setzte sie sehr langsam und mit scharfer Betonung hinzu, »um so auffallender ist es, daß trotz allem dem Unangenehmes über ihren Lebenswandel verbreitet wurde – ja, absichtlich verbreitet wurde.«
»Ah!« machte die Wittwe mit gut gespieltem Erstaunen, »ist das die Möglichkeit! Habt Ihr was davon gehört, Becker? Oder du, Emilie? Ja die Menschen sind schlimm.«
Natürlicherweise wollte Niemand etwas davon vernommen haben, und um diesen unangenehmen Gesprächsgegenstand zu unterbrechen, legte Madame Wundel ihren Mund in recht süße Falten und fragte, ob sie nicht die Ehre haben könne, dem Herrn Armenpfleger oder Fräulein Therese mit einer Tasse Chokolade aufzuwarten?
Herr Berger verneinte das eifrigst, Therese aber nahm es an. Und sie hatte ihre guten Gründe dafür. Hatte sie dann doch ein paar Augenblicke, in denen sie nicht zu sprechen, nur zu hören brauchte; und sie bedurfte einige Zeit zum Nachdenken. Louise hatte eine Tasse geholt, sie vor Therese hingestellt und dabei nicht ermangelt, ihr eigens zu gratuliren, was sie vorhin im allgemeinen Chorus unterlassen. Dazu sagte sie: »Es wird Clara gewiß gefreut haben, Sie so bei sich zu sehen, denn Clara ist gut und nimmt den innigsten Antheil daran, wenn es ihren Bekannten wohl geht.« Madame Wundel unterließ nicht, ihrer Tochter einen mißbilligenden Blick dafür zuzusenden, daß sie ihre Nachbarin wieder erwähnte, doch kehrte sich diese nicht im Geringsten daran, vielmehr fuhr sie fort: »Es ist wahr, Fräulein Clara hat in den letzten Tagen Unangenehmes gehabt; ich weiß nicht, ob sie Ihnen davon sagte.«
»O ja, sie sprach mir davon,« entgegnete Therese. »Ich glaube, es betraf einen Vorfall im Hause der Madame Becker dort, an dem Tage, wo Marie begraben wurde. Wie war doch die Geschichte?«
»Wie wird das gewesen sein!« erwiderte nach einigem Zögern die Becker, wobei sie verlegen die Achseln zuckte. »Ich weiß es selbst nicht mehr genau, es betraf einen jungen Herrn.«
»Herrn Arthur Erichsen,« versetzte Therese. »Er hat, so viel ich weiß, ein kleines Verhältniß mit Clara und beschuldigte nun das arme Mädchen – gerade in Ihrem Hause – einer Untreue, glaube ich, die sie gegen ihn begangen.«
Madame Becker hatte ihren Arm auf den Tisch gestützt, vorher aber einen starken Zug aus dem Punschglase gethan, dann blinzelte sie mit ihren etwas röthlich unterlaufenen Augen und meinte: »Nun ja, es muß etwas derart gewesen sein; wild genug hat er sich angestellt, und wenn er mit mir so hart gesprochen hätte, würde ich ihm anders die Wege gezeigt haben – so einem Naseweis.«
»Uebermüthig ist er schon,« versetzte die schlaue Tänzerin. »Was wird's gewesen sein! Eine Eifersüchtelei! Hat sich vielleicht die Clara sonstwo ein wenig den Hof machen lassen?«
»Versteht sich!« rief die Becker erzürnt und klopfte auf den Tisch. »Da kommt so ein junger Mensch her, spricht was von guten Absichten und meint nun, dann dürfe ein anderer rechtschaffener Cavalier so ein Mädchen gar nicht mehr ansehen.«
»Aber Fräulein Clara läßt sich auch von sonst Niemand ansehen,« sagte ängstlich Madame Wundel, mit einem bedeutungsvollen Seitenblick auf ihre Tochter Emilie, welche die Zähne auf einander biß und die Becker giftig ansah.
Diese trank ihr Glas vollends leer, schnalzte mit der Zunge und sprach: »Hat sich was zum Ansehen! Daran stirbt man nicht und das schadet auch Niemand. Die Clara wäre eine rechte Gans, wenn sie sich von dem Maler da hofmeistern ließe.«
»Aber sie thut es doch,« bemerkte erzürnt die Wundel. »Clara ist die Tugend selbst, und einer von den jungen vornehmen Herren würde schön ankommen, wenn er sich in ihre Nähe wagen wollte.« Bei diesen Worten stieß sie ihre Nachbarin heftig unter dem Tische mit dem Fuße an, doch hatte sich diese schon zu tief mit dem Punsche eingelassen, um diese Berührung für mehr als eine zufällige zu nehmen.
»Und ich sage, die Clara hatte Recht, den Maler zu verabschieden,« rief sie mit schwerer Zunge. »Da ist der Herr Graf doch ein anderer Mann, und mich freut es, daß sie ihn erhört.«
So schwer diese Worte auch die Tänzerin trafen, so verzog sich doch keine Miene ihres Gesichtes, ja sie trank lächelnd ihre Chokolade, nicht ohne einen Blick auf Emilie zu werfen, die ihre Hände zusammenballte und in höchster Wuth die alte Schwätzerin gegenüber mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
»Aber was faselt Ihr für dummes Zeug!« sagte Madame Wundel, die mühsam an sich hielt. »Wie könnt Ihr über meine Nachbarin, über Mamsell Clara, über die genaue Freundin unserer zukünftigen Frau Armenpflegerin so etwas aussagen! Von was schwätzt Ihr denn eigentlich?«
Therese hatte ihre Tasse ruhig hingesetzt und warf dann leicht ein: »Wir wissen wohl, wovon Madame Becker spricht, von dem Verhältniß Clara's mit dem Grafen Fohrbach.«
»Das ist's,« sprach die Becker mit lallender Zunge. »Und das ist ein schönes Verhältniß, ein dauerndes Verhältniß. O Wundel, Ihr solltet Euch Eurer Arbeit nicht schämen; Ihr habt doch große Mühe damit gehabt und die Sache geschickt angefangen. Ehre dem Ehre gebührt!«
»Daß Euch der –« sprach die würdige Wittwe und wollte hinzusetzen: Ihr betrunkenes Weibsbild! – »Wie könnt Ihr so garstiges Zeug plappern? Ich bin eine ruhige Wittfrau; was hätte ich mit Euren Geschichten für Arbeit gehabt! Was gehen uns Eure schmutzigen Verhältnisse an! Nicht wahr, Emilie? Was hätten wir für Euch geschafft!«
»Oho!« rief die Becker und ihr Auge funkelte zornig, »seh' mir Einer die würdige Wittfrau! Jetzt nennt sie das ›schmutzige Verhältnisse‹, womit sie ein so schweres Sündengeld verdient.«
Der Armenpfleger hatte seine Augen langsam aus dem Hute erhoben, blickte achselzuckend gen Himmel und sagte alsdann zu seiner Braut mit leiser Stimme: »Ich glaube, es wäre besser, wir verließen diese Wohnung.« Dabei begann er sich von dem Stuhle zu erheben.
Therese aber zog ihn eifrig wieder nieder, that als wolle sie ihr Sacktuch aufheben, das ihr entfallen und flüsterte ihm zu:
»Es ist ein gutes Werk, Berger, wenn du noch einige Augenblicke bleibst. Hier gilt es, schlechte Menschen zu entlarven und einem unglücklichen Mädchen zu helfen.«
Unterdessen hatte sich Madame Wundel sowie Emilie über den Tisch hinübergebeugt und blickten Madame Becker an, ganz mit dem zärtlichen Ausdruck eines Paares wilder Katzen, die begierig sind, einer Freundin die Augen auszukratzen. Louise hielt sich fern, sie hatte sich an's Fenster gestellt und blickte hämisch lachend auf die Gruppe am Tische.
»Pfui!« rief Emilie nach einer Pause, »schämt Euch, Becker, über Euer ungewaschenes Maul!«
»Larifari,« entgegnete diese laut lachend; »ich brauche mich nicht zu schämen, ich wohne am Kanal in der Kaserne, stehe für mein Geschäft ein und heiße Becker. Ich leugne nicht, was ich treibe; schämt ihr euch selbst, ihr – verschämte Hausarme,« setzte sie, plötzlich sehr ernst werdend, hinzu; und dann kreischte sie: »Seh' mir Einer die Wundel an! Hat bei meinem Geschäft schweres Geld verdient und will sich nun meiner schämen! O du Weibsstück!«
Die Wundel war mit ihrer Tochter Emilie in die Höhe gesprungen und es schien einen Augenblick, als wollten sich diese Bekenntnisse edler Seelen in einen erbitterten Kampf verwandeln. Doch erblickte die Wittwe vor sich das ernste, mißbilligende Gesicht des Armenpflegers, deßhalb faßte sie sich mit übermenschlicher Anstrengung, schluckte einige Mal heftig, stützte beide Fäuste auf den Tisch und sagte alsdann: »Herr Armenpfleger! – Gott soll mich bewahren, daß ich Reden, wie das Weib da eben verführt, vor Ihren Ohren auf mir sitzen ließe. O nein!« rief sie mit einem Anflug erkünstelter Wehmuth, »was habe ich arme Wittfrau sonst als Ihre Meinung, Herr Armenpfleger! Stehe ich ohne Sie nicht ganz verlassen da in dieser Welt mit meinen beiden armen Würmern, ohne Hilfe, ohne Verdienst –«
»Ohne Verdienst!« hohnlachte die Becker. »Hat Sie von mir nicht schweres Geld für das Geschäft bekommen! Aber bei Ihr bleibt nichts – Sie ist wie ein Sieb – Sie –« Hier stockte das Weib plötzlich in ihrer Rede, und wir glauben nicht, aus plötzlich eingetretenem Zartgefühl, vielmehr veranlaßt durch die Faust der Mademoiselle Emilie, welche drohend hinter dem Stuhl der Sprechenden stand. Auch duckte sich diese scheu zusammen und schien, obgleich zu spät, zu fühlen, daß sie sich hier zu Eins gegen Drei befand.
»Hören Sie also,« fuhr Madame Wundel im Tone gekränkter Unschuld fort. »Ja, es ist wahr, dieses Weib da forderte mich auf, ihr in einer ihrer unsauberen Geschichten zu helfen.«
»Sie sollten vermitteln zwischen Clara und dem Grafen Fohrbach?« fragte die Tänzerin.
»Ja!« schrie die Becker, indem sie, sich dann nach Emilien umsehend, mit der Faust kräftig auf den Tisch schlug. »Und sie that es, sie lieferte mir das Mädchen.«
Die würdige Wittfrau warf einen Blick an die Decke des Zimmers, dann sagte sie achselzuckend und mit großer Milde: »Herr Armenpfleger, man muß es der Frau verzeihen, sie geht zu viel mit gemeinem Volke um, sie hat keine Idee davon, daß es noch rechtliche Menschen gibt, die so viel als möglich Unheil zu verhüten suchen.«
»Und Sie verhüteten also das Unheil?« forschte die Tänzerin.
»Ach ja, Fräulein Therese,« fuhr Madame Wundel fort: »Und ich glaube, es ist keine meiner schlechtesten Thaten. Das Weib wandte sich freilich an uns, wir aber kannten Fräulein Clara, wie Sie sie selbst kennen, und nur in der Absicht – gewiß nur in der Absicht, um die Becker von ihrer Spur abzuleiten, unternahmen wir die unangenehme Kommission –«
»Ein Rendezvous zu vermitteln,« sagte Emilie, indem sie sich vordrängte.
»Und kam zu Stande?« fragte Therese.
»Ja, es kam zu Stande!« rief triumphirend die Becker. »Glauben Sie mir, wenn dies Weib seine Krallen einmal einschlägt, da hält sie fest.«
»Es kam allerdings zu Stande,« bemerkte Madame Wundel nach einem abermaligen Blick an die Zimmerdecke, »aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Clara gänzlich aus dem Spiele blieb.«
»Ah, ich verstehe!« sprach Therese freudig. »Ich danke Ihnen für diese Aufklärung.«
Madame Becker ihrestheils schien das nicht sogleich zu verstehen. Endlich aber begriff auch sie, daß die Wundel sie geprellt und eine Andere zu dem bewußten Rendezvous geschickt worden war. Wie sie langsam zu dieser Erkenntniß kam, verwandelten sich alle ihre Gesichtszüge. Anfänglich war sie hohnlachend dagesessen, jetzt aber fiel ihre Unterlippe schlaff herab, ihre Augen stierten ein paar Momente starr vor sich hin; dann aber blitzte das Feuer des Zorns in ihnen auf, ihre Lippen schloßen und öffneten sich krampfhaft, und schäumend sagte sie: »Also so wollt Ihr meine noble Kundschaft verderben! – Ihr Pack!« Dabei hatte sie sich langsam erhoben, hatte ihr Gesicht mit einem unbeschreiblich frechen Ausdruck auf Zollweite dem der Wittwe genähert, welche, wie das Vögelein vor dem Blicke der Schlange leider nicht im Stande war, zurückzuweichen. Leider sagen wir, denn in der nächsten Sekunde brannte eine so ungeheure Maulschelle auf der Wange der Madame Wundel, daß diese laut aufkreischend in ihren Stuhl zurückfiel. Es war eigentlich komisch anzusehen, wie im gleichen Augenblicke der Armenpfleger von seinem Sitz emporschnellte, Therese am Arme ergriff, mit zwei Schritten die Stubenthür erreicht hatte und das Zimmer verließ. Erst hinter der abgeschlossenen Thüre blieb er tief athmend stehen und setzte bedächtig seinen Hut auf.
»Gott sei Dank!« jubelte Therese, »daß das so gekommen ist. Glaube mir, Berger, um keinen Preis der Welt wollte ich das eben nicht gehört haben. War dir die Scene unangenehm?«
»Sie hat auch für mich ihr Gutes,« erwiderte bedächtig der Armenpfleger, indem er seine Schreibtafel herauszog, darin blätterte und durch den Namen der Wittwe Wundel einen sehr dicken Strich machte.
Daß übrigens Madame Becker dem rächenden Geschick ebenfalls nicht entging, brauchen wir dem geneigten Leser nicht zu versichern. Wenn sich auch Louise Wundel von dem Kampf, der nun erfolgte, fern hielt, so waren doch die Wittwe und Emilie kräftig genug, um der Madame Becker einen gehörigen Denkzettel zu geben.
Die Tänzerin blieb zaudernd auf der Treppe stehen. »Gern möchte ich Clara sprechen,« sagte sie, »doch ist es besser, ich versuche es, den Herrn Erichsen zu finden. – Komm, Berger.«
Beide stiegen nun vollends die Stufen hinunter, setzten sich in den Wagen, der drunten auf sie wartete, und fuhren davon.