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Vor dem Hause, welches der Baron Brand in dieser Eigenschaft bewohnte, hielt ein schwerer Reisewagen, vollständig bepackt und bespannt; die Laternen waren angezündet, die beiden Postillone standen neben ihren Pferden, und ein Diener in einfacher Reiselivrée hatte den Schlag geöffnet und irgend etwas herausgenommen, welches er einer Kammerfrau einhändigte, die auf dem hohen Hintersitze des Wagens dicht in einen Mantel mit Kaputze eingewickelt saß. Darauf schloß der Bediente den Schlag, zog die Ledermütze in's Gesicht und sagte zu dem einen Postillon: »Jetzt wird's bald losgehen, es kann keine Viertelstunde mehr dauern.« Nach diesen Worten nahm er zwei Mäntel, die er über den Schlag gelegt hatte, einen großen und einen kleinen, auf den Arm, und stieg die Treppen hinauf.
Der Baron befand sich in seinem kleinen Salon, er stand hier neben seinem hohen Fauteuil, in welchem die Baronin von W. saß. Obgleich es in dem Zimmer sehr warm war, so saß diese doch zusammengekauert da, als friere sie, und dabei hielt sie den Kopf tief auf die Brust herabgesenkt. Neben ihr stand ein uns wohlbekannter kleiner Knabe, der seine Hände um einen ihrer Arme geschlungen hatte, den Kopf fest an ihre Schulter drückte und zugleich aufwärts schaute in das Gesicht des Herrn von Brand, der zuweilen mit den Fingern durch das dichte, krause Haar des Kindes fuhr, wobei sich ein trauriges Lächeln auf seinen Zügen bemerklich machte.
»So wären wir also fertig,« sagte der Baron nach einer Pause. »Du gehst nach Dornhofen, dessen Kauf ich gestern in Richtigkeit brachte. Beil wird mit den nothwendigen Papieren und allem Uebrigen wahrscheinlich schon morgen folgen. Wie ich heute vom Grafen Fohrbach vernahm, von dem Kriegsminister nämlich, ist deine Scheidung von dem General schon so gut wie ausgesprochen; in ein paar Wochen, meine liebe Schwester, bist du frei.«
Bei diesen Worten faßte die schöne Frau nach ihrem Kinde, drückte ihre Lippen auf seine Stirn, dann sprach sie mit leiser Stimme: »Aber, Henry, du bist mir immer noch eine Antwort schuldig. Warum schickst du mich von hier fort? Oder, wenn du es für besser hältst, daß ich jetzt nicht in der Residenz bleibe, warum gehst du selbst nicht mit? Steinfeld weiß ja um die traurige Geschichte unseres Hauses, und daß du mein Bruder bist. Ich weiß nicht, Henry, wie mir ist, aber ich meine, ich sollte dich nicht aus den Augen lassen, ja, ich spreche es aus, da ich überzeugt bin, daß du nicht abergläubisch bist – es ist mir immer, als drohe dir ein Unglück. Du hast Feinde.«
»Aber er hat auch Waffen,« sagte der Knabe, der seinen Kopf aus den Händen der Mutter losgemacht hatte und muthig in die Höhe schaute. »Du hast recht scharfe Waffen, nicht wahr? Und wenn man die hat, braucht man sich vor keinen Feinden zu fürchten.«
»Waffen habe ich allerdings,« erwiderte der Baron dem Kinde, da er es vermeiden zu wollen schien, die Fragen seiner Schwester direkt zu beantworten. »Doch gibt es Feinde,« setzte er hinzu, indem er den Kopf mit einem trüben Lächeln schüttelte, »gegen die man keine Waffen gebrauchen kann.«
»Warum nicht?« fragte der Knabe. Und die Baronin seufzte tief.
»Man ist deßhalb doch nicht wehrlos,« fuhr der Baron fort, während er sich hoch aufrichtete. »Weißt du, mein Sohn, wenn die Feinde mit den Waffen in der Hand kommen, so geht man ihnen gerade so entgegen; fassen sie uns aber mit List, Falschheit und Heuchelei, so stellen wir ihnen das Gleiche entgegen; und da fragt es sich dann immer noch, wer der Klügste ist?« »O, du bist der Klügste,« sprach entschieden das Kind und öffnete seine großen Augen weit. »Herr Beil hat es immer gesagt.«
Der Baron nickte mit dem Kopfe, doch antwortete er erst nach einem kleinen Stillschweigen, wobei er gedankenvoll vor sich hinblickte: »O ja, ich war zuweilen recht klug, aber dafür auch wieder so unklug, daß oft eine Stunde zerstörte, was ich in langen Tagen vorher mühsam aufgebaut. – Doch da führen wir ein Gespräch, welches meine Behauptung rechtfertigt; so etwas ist unklug für eine Abschiedsstunde.«
»Ja, für eine Abschiedsstunde,« sagte Frau von W. mit leisem Ton. Dann hob sie plötzlich den Kopf in die Höhe, faßte mit ihren beiden Händen die Rechte des Barons und sprach mit einer Stimme, welche das tiefe Weh ihres Herzens verrieth: »Aber ich sehe dich bald wieder, Henry, nicht? – In den nächsten Tagen, das versprichst du mir?«
»Ich glaube, daß ich dir das versprechen kann,« erwiderte ruhig der Baron, »wenn mich nämlich alle meine Entwürfe und Pläne nicht im Stiche lassen und meine Voraussetzungen nicht trügen.«
»Aber bald, Henry.«
»Ich denke wohl, meine gute, gute Lucie. Doch es ist acht Uhr,« sagte er beinahe unruhig. »Wenn du noch länger zögerst, wirst du sehr spät ankommen.«
»Warum treibst du mich so von dir?« fragte sie mit weicher Stimme. »O, ich hätte dir noch so viel zu sagen, was mir im Augenblicke gar nicht in den Kopf kommen will; aber wenn du mir bis morgen Zeit läßt, so wird mir Alles wieder einfallen.«
»Zeit bis morgen!« versetzte er lächelnd. »Ich kenne das, nein Lucie, für heute muß es geschieden sein. – Für heute, und für morgen,« setzte er mit plötzlich veränderter Stimme hinzu. »0 mein Gott!« Bei diesen Worten beugte er seinen Kopf tief herab und drückte seine Lippen fest und innig auf die weiße Stirne seiner Schwester. – »Ja, meine geliebte Lucie,« sagte er nach einer längeren Pause, »gehe jetzt, denn sonst ist des Abschiednehmens kein Ende. Und doch, da du gehst, ist es mir, als sänke meine Lebenssonne unter und ließe mich in schwarzer Nacht allein.«
Frau von W. war rasch aus dem Fauteuil aufgestanden und hatte beide Arme um den Hals ihres Bruders geschlungen. »Henry!« flehte sie, »laß mich nicht abreisen, laß mich bei dir bleiben! Warum willst du nicht vor der Welt erklären, daß du mein Bruder bist? O, laß uns zusammen ein friedlich-stilles Leben führen!«
»Das ist zu spät!« entgegnete er nach einer Pause. Doch war der Ton, mit dem er das sagte, so eisig kalt, so schrecklich, und dabei der Blick seiner Augen so wild und starr, daß die arme Frau ihn erschreckt betrachtete.
»Nicht dieses Wort, Henry,« bat sie, »nicht diesen Blick. Du versinkst wieder in deine seltsamen Träumereien. Starre nicht so vor dich hin. Es ist ja Niemand da, der dich und mich bedroht.«
»Sagt' ich nicht, es sei zu spät?« fuhr er nach einem längeren Stillschweigen empor, und setzte darauf in leichterem Tone hinzu, als er in die bleichen, schreckensvollen Züge seiner Schwester blickte: »Zu spät, sagt' ich? Ich wollte sagen: Spät genug. Und das ist es auch, meine gute Lucie. – Der Zeiger der Uhr steht auf Acht; so lebe denn wohl, mein Kind, so lebe wohl, meine Schwester, so lebe wohl, mein Alles, was ich auf dieser Welt habe!«
Nach diesen Worten, die er leidenschaftlich herausgestoßen, machte er sanft ihre Hände von seinem Nacken los, drückte dieselben schweigend an seine Lippen, schaute einen Augenblick mit zusammengebissenen Lippen in die Höhe, und dann beugte er sich schnell zu dem Knaben herab, den er in seine Arme nahm und unzählige Mal auf die frischen Lippen und die leuchtenden Augen küßte.
»Adieu, Lucie! adieu, ihr Lieben.« – Und als traue er seiner eigenen Stärke nicht, klingelte er heftig mit einer Glocke, die auf einem der Tische stand, und als der Kammerdiener erschien, sagte er: »Den Mantel für die Frau Baronin.« – Der alte Diener verbeugte sich, ging hinaus und ließ die Thüre offen, unter welcher nun der Bediente erschien, den wir vorhin unten am Wagen gesehen.
Noch einmal wandte sich die Baronin ihrem Bruder zu und reichte ihm beide Hände, die er an seine Lippen drückte. Noch einmal küßte er den Knaben innig auf die Stirn, dann schritt er der Thüre zu, begleitete die Baronin an die Treppe und kehrte in sein Zimmer zurück. – Da aber wurde sein Schritt so wankend, daß er sich mit der einen Hand fest am Tische halten mußte, während er sich mit der anderen über die Augen fuhr. Es überfiel in ein Schwindel, doch dauerte er nur ein paar Sekunden, worauf es dem Baron möglich war, an das Fenster zu treten. Er drückte seine brennende Stirn an die kalten Scheiben und blickte auf den Wagen nieder, der soeben von dem Bedienten geschlossen wurde. Die Postillone schwangen sich in die Sättel – er sah noch einmal das Gesicht der Schwester, die auswärts schaute, ihn suchte, fand und darauf auch das Kind an das Fenster des Wagens hob. Dann zogen die Pferde an und der Wagen rollte davon. – »O haltet! haltet!« sagte er droben, der einsam zurückgeblieben. »Ich Thor, sie nicht noch eine halbe Stunde länger gehalten zu haben! – – Und doch, es ist besser so. Leb wohl – leb wohl auf ewig!« – – –
»Der Augenblick hätte mir eigentlich erspart werden können,« sprach er nach einer Pause halblaut zu sich selber, »wie noch mancher andere, der auch nicht angenehm sein wird, durch eine sicher treffende, mitleidige Kugel, deren so viele an meinem Kopf vorübersausten. Aber wer kann seiner Bestimmung entgehen? Nun, das Schwerste wäre überstanden; was jetzt noch kommt, ist Kinderspiel und nicht der Rede werth.« Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer, und als er sich nach einigen Sekunden im Spiegel beschaute, schien er mit seinem Aussehen zufrieden zu sein. Seine Züge waren wieder gänzlich beruhigt, und nachdem er den Bart etwas emporgekräuselt, bemerkte man nichts mehr von dem Sturme, der wenige Minuten vorher noch sein Herz erschüttert.
»Herr von Steinfeld!« sagte der Kammerdiener, der geräuschlos in das Zimmer getreten war. Worauf der Angemeldete eintrat und von dem Baron freundlichst empfangen wurde.
»Sie kommen absichtlich ein paar Minuten zu spät,« sagte er, »ich verstehe Sie vollkommen. Aber Sie sahen sie doch noch?«
»O gewiß,« erwiderte der Andere; »sie reichte mir die Hand zum Schlage heraus.«
»Es ist ein gutes Weib,« meinte träumerisch der Baron, »und ich hoffe, sie wird glücklich sein.«
»Glücklich sein und glücklich machen,« entgegnete Herr von Steinfeld. »O, ich versichere Sie, es ist gut, daß Alles so kommen mußte, das wird das Glück meines Lebens begründen. – Aber Sie, Henry, wie ist's mit Ihnen? Wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht im Stande bin, weder an Lucie noch an das Kind zu denken, daß ich mich nur immer mit Ihrem Schicksal beschäftige, so rede ich die Wahrheit. Seien Sie nicht so verschlossen gegen mich, gewähren Sie mir nur den geringsten Lichtschein in dieser Finsterniß!«
»Das ist nicht gut möglich,« antwortete lächelnd der Baron. »Sie wissen, daß mit das Dunkel zuweilen behagt. Verlangen Sie für den Augenblick nichts Anderes; ich besorge in demselben meine kleinen Geschäfte, und glauben Sie mir, die Zeit liegt nicht fern, wo Ihnen Alles, Alles klar werden wird.«
Der Andere wandte unmuthig den Kopf.
»Haben Sie Vertrauen zu mir,« fuhr der Baron fort, »ich kann Ihnen jetzt kein Sicht geben, es würde Ihre Blicke nur verwirren und mich hindern; ich kann Sie nicht in die Karten meines Spiels sehen lassen. Glauben Sie mir aber, ich überschaue es, und wenn ich auch den letzten Stich verliere, so gewinne ich doch die Partie.«
»Ihre Zuversicht und Heiterkeit könnten mich beruhigen, wenn nicht –«
»Lassen Sie mir die Wenn's,« sagte lachend der Baron; »ich habe für jedes derselben mein Aber. Beantworten Sie mir lieber eine Frage, die mir wichtig ist! Spricht man in der Stadt von einem Duell, das nächstens zwischen Herrn von Dankwart und mir stattfinden soll?«
»Im Gegentheil,« erwiderte erstaunt der Andere, »Herr von Dankwart selbst widerspricht diesem Gerücht auf's Eifrigste.«
»Ah!« machte der Baron und zog eine verdrießliche Miene, worauf er aber wieder heiter lächelnd sagte: »Natürlich, er will die Sache verheimlichen. Unter uns gesagt, er hat mich fordern lassen.«
»Durch wen?«
»Das ist mein Geheimniß.«
»Und mir unbegreiflich,« erwiderte Herr von Steinfeld kopfschüttelnd. »Herr von Dankwart hat öffentlich erklärt, Sie, Baron, seien ein guter Kerl und hätten niemals die Absicht gehabt, ihn zu beleidigen. Die Aeußerungen auf dem Hofballe lasse er der Maskenfreiheit gelten, und was die bewußten Zeichnungen anbelange, so werde er sich deßhalb an den Maler halten, dem dafür auch höheren Orts ein sehr ehrenvoller Auftrag, der ihm bereits ertheilt gewesen, wieder entzogen worden.«
»Und das glauben Sie?« sagte der Baron mit sehr ernstem Blick.
»Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren.«
»Das ist sehr ehrenhaft von Herrn von Dankwart; er will von dem vorhabenden Duell kein Gerede machen. – Auch,« fuhr er nach einigem Nachsinnen fort, »hat sich heute Morgen der Stand der Angelegenheiten verändert; es wurde mir eine Aeußerung des Herrn von Dankwart hinterbracht, die er vielleicht nicht gethan, genug, ich sah mich darauf veranlaßt, ihm einen etwas heftigen Brief zu schreiben. Ich war aufgeregt, mißstimmt, enfin! man ist nicht immer Herr seiner selbst.«
Herr von Steinfeld hatte ruhig zugehört, dann warf er auf den Baron, der sich damit beschäftigte, die Nadel seines Halstuches fester zu stecken, einen vielsagenden Blick und bemerkte darauf mit entschiedenem Tone: »Baron, Sie suchen ein Duell.«
»Ich vermeide wenigstens keins,« erwiderte dieser achselzuckend. »Und wenn Sie mir einen Dienst erzeigen wollen, Hugo, einen wahren Freundschaftsdienst,« sprach er mit Wärme, »so verbreiten Sie in der Stadt, natürlicherweise unter der Hand, indem Sie hie und da bei Bekannten ein Wort fallen lassen, ich hätte morgen ein ernstliches Rencontre.«
»Mit Herrn von Dankwart?«
»Sie brauchen meinetwegen keinen Namen zu nennen. Das Faktum ist genügend. Haben Sie mich verstanden, Hugo?«
Dieser schaute, ohne eine Antwort zu geben, den Baron lange und mit einem festen Blicke an, dann sagte er mit leiser Stimme, während er seine Hand ergriff und drückte: »Ja, ich glaube, Henry, daß ich Sie verstanden habe.«
»Nun denn – und was weiter?« entgegnete fast lustig der Baron. »Auch Sie haben sich nicht vor einer Kugel gescheut und vor jedem Duell gedacht: Es kann ausfallen wie es will!«
»Das habe ich nie gedacht,« versetzte kopfschüttelnd der Andere. »Ich hoffte, das gestehe ich Ihnen, und Sie hoffen nicht mehr.«
»Ich hoffe auch, denn ich zweifle nicht –«
»An dem Ausgange dieses sogenannten Duells. – Sie kennen das blutige Ende desselben.«
»Vielleicht. Und wenn dem so wäre?« fuhr Herr von Brand nach einer Pause in schrecklich ruhigem Tone fort. »Wenn mir nur noch vierundzwanzig Stunden gegeben wären – eine kurze Frist, in der ich mich zu entscheiden habe, ob ich, was wir so nennen, mit Ehren von diesem Schauplatz abtreten soll, oder in Schande und Schmach fortleben? – Keine Einrede, Hugo, hören Sie mich: Ich habe eine Schwester,« sprach er mit bewegter Stimme; »die Welt weiß das freilich noch nicht, aber lassen Sie den Baron Brand – Veranlassung geben, daß man sich eifrigst, aber unerbittlich um sein früheres Leben bekümmert, o so wird man Fäden finden, glauben Sie mir, die bis zu jener Zeit zurückreichen, wo ich Hand in Hand mit meiner Schwester ging. Die Welt wird erfahren, daß es der Bruder ist, den man des sorgfältigen Aufhebens für werth erachtet, das wird ihre Zukunft vergiften, die ihres Kindes. Und soll ich Ihnen noch weiter sagen, Hugo, wen es unglücklich machen muß, wenn ich die letzten mir bewilligten vierundzwanzig Stunden nicht auf's Sorgfältigste anwende? O, Sie müssen das einsehen. Jener Pistolenschuß – den im Duell meine ich – zerreißt alle Fäden, und mag dann mein Schwiegervater in spe,« setzte er schrecklich lachend hinzu, »seine Nase noch so bedächtig herabziehen, er wird auf einen stillen Grund stoßen und auf einen stillen Mann, dem es unmöglich ist, ihm Rede und Antwort zu stehen.«
»Schrecklich!« sprach Herr von Steinfeld tief ergriffen. »Entsetzlich, Henry, so enden zu müssen!«
»Enden? Das ist eben die Frage,« entgegnete der Baron in leichtem, gefälligen Tone; »ich habe mich heute stark mit dem göttlichen Hamlet beschäftigt und mir, wie der Dänenprinz, selbst gesagt:
›– Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's;
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen.
Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt,
Das zwingt uns still zu steh'n, – – – –‹
Wissen Sie, Hugo, wenn man seine Papiere ordnet, kommen Einem seltsame Gedanken, und es ist mir oft wie ein Trost, wenn ich denke, daß doch vielleicht jenseits Fesseln brechen und andere angelegt werden, daß sich vielleicht das Sklavenleben, dem wir hier entgehen, drüben in großartigem Maßstabe fortsetzt, denn mag es sein, wie es will, eine Fortdauer ist doch schön, und was uns allein vor dem Tode zurückbeben macht, ist der Gedanke gänzlicher Vernichtung, der ja auch unserer Eitelkeit so ganz unfaßlich erscheint. – Aber jetzt genug der Plaudereien und verzeihen Sie mir, Hugo, wenn ich Sie bitte, mich allein zu lassen. Bis morgen also!«
»Gewiß, Henry, bis morgen! Versprechen Sie mir das?«
»Auf alle Fälle,« entgegnete der Baron mit sehr freundlichem Tone. »Morgen sollen Sie mich wiedersehen.«
Noch einmal drückte ihm der Andere herzlich beide Hände, dann verließ er schweigend das Zimmer.
Der Baron schaute ihm einige Augenblicke in tiefe Gedanken versunken nach, dann sprach er zu sich selber: »Es durchschauert mich ein winterliches Gefühl; es ist mir, als stünde ich auf hohem Berge, ein stolzer Baum, als flatterte ein Blatt um das andere von meinen Zweigen herab und als hörte ich entfernt das Sausen des Sturms, dem ich nicht ferner widerstehen kann. – Doch weg mit diesen finsteren Bildern!« Damit ging er an den Tisch, läutete abermals mit der Glocke, und als der Kammerdiener eintrat, sagte er: »Herr Beil soll kommen!«
Es dauerte nicht lange, so trat der Gerufene ein; es war mit kleinen Veränderungen noch immer der alte Beil von früher. Diese Veränderungen bestanden in einem sehr geordneten Anzuge und einem gewissen Ernst, der sich auf seine Züge gelagert hatte; er schritt ziemlich würdevoll einher, trug verschiedene Papiere in der Hand und hatte ganz das Ansehen eines dienstthuenden Sekretärs. Als solcher fungirte er auch in der That. Der Baron wünschte ihm freundlich einen guten Abend, ließ sich dann in seine Fauteuil nieder, woraus ihm der Andere einige der mitgebrachten Papiere vorlegte. Herr von Brand sah dieselben bald flüchtig bald aufmerksam durch, blickte jetzt nachsinnend an die Decke empor und nickte dann mit dem Kopfe.
»Sie haben das jetzt so ziemlich studirt,« sagte er hierauf, »und wissen so gut wie ich, was ich auf der Welt mein nenne. Geben Sie meinem Verwaltungstalent die Ehre und gestehen mir zu, daß ich mich sehr der Ordnung befleißigt.«
»Musterhaft,« entgegnete Herr Beil. »Obgleich mir die Berechnungen, die hier zu Grunde liegen, bis jetzt ziemlich unbekannt waren, so ist doch Alles so klar auseinandergesetzt, daß ich mich leicht hinein fand.«
»Und nach den gegebenen Schema's,« meinte der Baron, wobei er sich nachlässig in seinen Sessel zurücklehnte, »wären Sie demnach wohl im Stande, die Verwaltung eine Zeitlang selbständig zu führen, wenn ich zum Beispiel, was leicht geschehen könnte, eine längere Reise machen und Sie zurücklassen müßte?«
»Es sollte vielleicht gehen,« sprach Herr Beil. »Doch haben Sie wohl nicht die Absicht, uns in der nächsten Zeit zu verlassen.«
»Wenn Sie morgen die nächste Zeit nennen, so muß ich Ihnen mit Ja antworten. Allerdings habe ich morgen einen kleinen Ausflug vor, denke aber jedenfalls morgen Abend um diese Zeit wieder zurück zu sein. Darnach projektire ich freilich eine weitere Reise,« warf er leicht hin. – »Apropos,« fuhr er nach einer Pause fort, indem er den Ton der Stimme und das Gespräch plötzlich änderte, »Sie haben meinen Auftrag bei Seiner Durchlaucht, dem Herrn Herzog, ausgerichtet? Ich bin begierig, etwas darüber zu vernehmen.«
»Ich gab Ihren Brief in der Garderobe ab und nach ungefähr fünf Minuten ließ mich Seine Durchlaucht hereinkommen.«
»Natürlich. Und Sie trugen ihm meinen Wunsch vor?«
»Fast mit den gleichen Worten, mit denen Sie mir ihn aufgetragen. Und darauf lachte Seine Durchlaucht laut auf und meinte, es solle an ihm durchaus nicht fehlen; er freue sich darauf und werde pünktlich sein.«
»Das wollen wir sehen,« entgegnete der Baron lächelnd, wobei er auf die Standuhr blickte, die auf dem Kamin stand. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, aber auch noch Einiges zu besprechen, lieber Beil, deßhalb wollen wir keine Minute verlieren. Meine Schwester ist abgereist,« sagte er mit einem leichten Seufzer.
»Ich hatte noch das Glück, die Frau Baronin zu sehen,« entgegnete Herr Beil, »sowie auch meinen lieben kleinen Pflegebefohlenen. Es that mir wahrhaftig weh, als ich ihn davonfahren sah. Man gewöhnt sich leicht an so eine kräftige und gute Natur.«
»Was ich gerne aus Ihrem Munde höre,« antwortete der Andere. »Ich bin in der That glücklich, daß auch das Kind an Sie so anhänglich ist; und ich hoffe, Sie sollen lange, lange Jahre bei ihm bleiben, und wenn auch nicht sein Lehrer, doch sein Erzieher sein.«
»Zum ersten Posten,« erwiderte Herr Beil lachend, »fühle ich mich leider nicht gewachsen, es müßte denn sein, daß er den Buchhandel studiren sollte. Darin könnte ich schon was leisten.«
»Dazu ist wohl keine Aussicht vorhanden,« versetzte der Baron, »aber Sie bringen mich da auf etwas Anderes, was ich gerne erfahren möchte. Welche Nachricht haben Sie von unserem Prinzipal, von Johann Christian Blaffer und Compagnie? In der Zeit, wo Sie für ihn litten, vergaß ich ganz darnach zu fragen.«
Herr Beil schüttelte sein Haupt und sein Blick war scharf und forschend, als er sagte: »Von einer gewissen Geschichte haben Sie vielleicht zufällig gehört?«
»Ganz zufällig, aber doch weiß ich den Hergang ziemlich genau. Nur was nachher geschah, erfuhr ich nicht.«
»Herr Blaffer hatte seine Handlung verkauft,« sprach der Andere mit ernster Stimme, »Firma, Büchervorräthe, Verlagsrechte und Haus.«
»Weiter! weiter!«
»Er beging die Unklugheit, die ihm ausgezahlte Kaufsumme in baarem Gelbe bei sich zu verwahren. Sie wurde ihm geraubt, er war ein ruinirter Mann.«
»Worin man einige Gerechtigkeit entdecken könnte,« meinte der Baron.
»Die ich aber nicht verantworten möchte,« sagte ruhig Herr Beil. Anfänglich war er natürlich in Verzweiflung und wie ich vernahm, so soll er sogar in einer gewissen Nacht am Kanal gesehen worden sein, kehrte aber bald wieder zurück.«
»Ohne daß ihn ein Gespenst gewarnt,« bemerkte der Baron in sehr ernstem Tone. »Nun ja, es war das nicht der Mühe werth, sich das Leben zu nehmen; ich halte Herrn Blaffer für einen spekulativen Kopf, er wird sich wieder emporarbeiten.«
»Nie mehr,« entgegnete Herr Beil, wobei er zu Boben blickte. »Sein Muth ist gebrochen, seine Lebenskraft vernichtet; er verlor in jener Nacht Alles.«
»Ein Verlust, der auch Sie betraf, mein armer Beil,« sprach der Baron. »Doch Sie werden sich zu trösten wissen.«
»Ich ließ alles das am Kanal zurück, oder vielmehr schon in dem Hause selbst; ich hatte ja gar keine Aussichten, ich wußte, daß sie für mich verloren war. Doch hören Sie weiter! In dem Verkaufs-Vertrage bedingte sich Herr Blaffer eine kleine Stelle; es war das eine Stellung mit miserablen Bedingungen, zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Er hatte sie für unseren bisherigen Lehrling, für den Bruder jenes Mädchens bestimmt. Als er sich aber nach jenem Vorfalle so gänzlich hilflos fand, sah er sich gezwungen, sie selber anzunehmen, und Johann Christian Blaffer ist nun jüngster Commis der Handlung von Johann Christian Blaffer und Compagnie.«
»Ah!« machte der Baron erstaunt. »Da wäre ihm vielleicht doch besser gewesen, wenn ihm jenes Gespenst, aber nicht abrathend, erschienen wäre. So sein Leben zu beschließen, ist schrecklich.«
»Ja, das ist schrecklich,« sagte auch Herr Beil, indem er seinen Kopf tiefer auf die Brust sinken ließ. »Für meinen ehemaligen Kollegen, den Lehrling des Hauses, ihren Bruder, habe ich nach meinen geringen Kräften gesorgt, aber weiter zu thun war mir unmöglich.«
Der Andere schaute einen Augenblick stumm vor sich nieder, es schienen ihn ernste, finstere Gedanken zu bewegen, er preßte die Lippen aufeinander, dann seufzte er und zuckte mit den Achseln. »Wer weiß,« murmelte er darauf nach einer Pause vor sich hin, »ob es am Ende nicht doch noch besser wäre, Johann Christian Blaffer zu sein! – Aber über diesen Phantasien vergesse ich unsere Geschäfte. Noch eins: Sie werden bei meinen Papieren finden, daß ich eine kleine Summe zur Unterstützung anwies, zur Unterstützung für arme, zweideutige Gesellen wird sie die redliche Welt nennen, die sich vielleicht nach längerer oder kürzerer Zeit bei Ihnen melden werden. Verstehen Sie mich?«
Herr Beil nickte mit dem Kopfe.
»Es ist für den Fall, daß ich länger abwesend sein sollte.«
In diesem Augenblicke öffnete der Kammerdiener leise die Thüre, der Baron wandte den Kopf nach ihm um und bemerkte wohl, daß der alte Mann was Außerordentliches zu melden habe, denn sein sonst so ruhiges Gesicht trug den Ausdruck großer Bestürzung, auch hatte er die Thüre ganz gegen seine Gewohnheit ziemlich hastig aufgerissen. »Gnädigster Herr!« stotterte er, »ich weiß nicht, was das bedeuten soll; als ich eben zufällig zum Fenster hinausblickte, bemerkte ich zwei Männer vor der Hausthür, welche dieselbe angelegentlich zu betrachten schienen. Beim Schein der Gaslaternen sah ich auch ein verdächtiges Funkeln an ihrer Kleidung, entweder Waffen oder messingene Knöpfe, welche ja nur das Militär zu tragen pflegt oder Polizeibeamte. Um mich zu überzeugen, ob ich recht gesehen, ging ich die Treppen hinab und trat an die Hausthüre. Ja, gnädiger Herr, ich hatte mich nicht geirrt, es sind wirklich Polizeibeamte, welche mir, Ihrem Kammerdiener, den Austritt aus Ihrem eigenen Hause verwehren wollten.«
»Schon jetzt?« sagte ruhig Herr von Brand, indem er einen Blick auf die Uhr warf. »Doch ja, es ist drei Viertel auf Neun. Teufel auch, lieber Beil,« wandte er sich hastig an diesen, »wir haben zu lange geplaudert. Sehen Sie, wie es Einem gehen kann; ich hatte mir vorgenommen, einen recht schnellen Abschied von Ihnen zu nehmen, und nun hielt ich Sie hin, weil ich Sie lieb habe, weil es mir am heutigen Abend schwer fiel, Sie, einen meiner besten Freunde, mit einem flüchtigen Händedruck zu verabschieden.«
»Und warum umstellt man das Haus?« fragte Herr Beil auf's Höchste überrascht. »Wußten Sie darum, gnädiger Herr?«
»So genau,« entgegnete lächelnd Herr von Brand, »und so mit allen Nebenumständen, daß ich Ihnen voraussagen kann: Punkt neun Uhr wird Seine Excellenz der Polizeidirektor in höchsteigener Person erscheinen, um mich zu verhaften.«
»Herr Gott im Himmel! Und das sagen Sie so ruhig?« rief erschreckt Herr Beil aus, während der Kammerdiener stumm die Hände rang.
»Allerdings sage ich Ihnen das sehr ruhig,« entgegnete der Baron. »Wissen Sie, zwischen Verhaftenwollen und wirklich Verhaften ist immer noch ein kleiner Unterschied. Und dann bedenken Sie mein gutes Gewissen!« Mit diesen Worten öffnete der Baron ein kleines Kästchen auf dem Tische, nahm sich eine Cigarre heraus und bot auch dem Herrn Beil eine an, welcher sie aber kopfschüttelnd und erstaunt einen Schritt zurückweichend ablehnte. Nachdem sich der Baron die seinige angezündet, gab er seinem Kammerdiener einen Wink, worauf sich dieser anschickte, das Zimmer zu verlassen. Ehe derselbe aber zur Thüre hinaus ging, rief er ihm noch nach: »Melde mir jeden Besuch recht frühzeitig.« Darauf machte er ein paar Gänge durch's Zimmer und stellte sich alsdann vor Herrn Beil hin, indem er ihm sagte: »Obgleich ich Alles das kommen sah, obgleich ich wohl wußte, daß mein Wagen stark den Abhang hinabrollt, so gestehe ich Ihnen offenherzig, daß mir allerdings jener Umstand unerwartet kam, der mir, um das eben angedeutete Bild fortzusetzen, die Zügel aus der Hand schnellte und die Pferde durchgehen machte. Doch glauben Sie mir, ich habe sie jetzt wieder in meiner Hand, bin aber nicht mehr im Stande, ihren rasenden Lauf dem Abgrunde zu aufzuhalten; nur liegt es noch in meiner Macht, mir die Stelle auszusuchen, wo mein Fahrzeug zerschellen soll und ich untergehen. Und das habe ich bereits gethan – ich sehe sie vor mir. – Um weniger in Bildern zu reden,« fuhr er nach einer Pause lächelnd fort, »so war es vielleicht noch gestern möglich, der mir drohenden Verhaftung zu entgehen; aber einmal das Feld heimlich verlassen, gebe ich allen Verleumdungen, allen Gerüchten das vollkommenste Recht, über mich herzufallen. Mein Name ist auf ewige Zeiten gebrandmarkt – und das,« setzte er mit gefälligem Tone hinzu, »möchte ich gar zu gern vermeiden.«
»Aber der Polizeipräsident wird gegen Sie keine Schonung kennen. Hat er nicht die gegründetste Ursache, Sie zu hassen?« »Sie meinen schon wegen seiner Tochter, der armen Auguste?« entgegnete Herr von Brand mit einem Seufzer. »Da haben Sie allerdings Recht. Aber glauben Sie nicht, daß ich eine Schonung von ihm verlange; ich habe mich selten in meinen Berechnungen getäuscht und es sollte mich Alles trügen, wenn mir nicht in ein paar Stunden erlaubt wäre, eine kleine Lustfahrt zu machen, und wenn ich nicht morgen um diese Zeit,« setzte er mit einem düsteren Blicke hinzu, »eine der freiesten Seelen wäre, die sich je zwischen Himmel und Erde befunden.« Hier schwieg er ein paar Sekunden, dann sagte er in gewöhnlichem Tone: »Aber ich danke Ihnen, lieber Beil, Sie haben mich an etwas erinnert, das ich fast vergessen hätte.« Damit ging er auf seinen Schreibtisch zu, öffnete eine Schublade und zog ein kleines versiegeltes Paketchen heraus. »Dies,« sagte er, »behalten Sie ein paar Tage bei sich und bringen es alsdann in meinem Namen an seine Adresse. Lesen Sie!«
»Fräulein Auguste!« Herr Beil blickte erstaunt in die Höhe.
»Es ist so, für die Tochter des Polizeipräsidenten. Aber,« sagte er, plötzlich den Kopf herumwendend, »ich höre einen Wagen, es wird Seine Durchlaucht sein. Thun Sie mir den Gefallen, lieber Beil, treten Sie an die Thüre und nehmen, sobald der Polizeipräsident erscheint – er wird nicht lange auf sich warten lassen – eine ziemlich respektvolle Stellung an. So ungefähr,« sprach er lustig, »wie vielleicht an jenem Tage, als Sie sich dem Herrn Blaffer vorstellten. Ruhig!«
»Seine Durchlaucht, der Herr Herzog!« meldete der Kammerdiener mit einem sehr bleichen Gesicht, dann setzte er leiser hinzu: »Seine Excellenz, der Herr Polizeidirector traten auch soeben in das Haus.«
»Sind mir sehr willkommen,« erwiderte Herr von Brand ruhig. »Aber noch eins, Friedrich,« – mit diesen Worten hielt er den Kammerdiener zurück – »leg' in's Vorzimmer auf einen Stuhl neben der Thüre meinen Mantel und Hut und unter denselben die neuen Pistolen, welche man mir heute Morgen gebracht.« »Pistolen?« fragte erschreckt Herr Beil.
»Duell-Pistolen,« versetzte Herr von Brand, indem er die ersten Silben mit starker Betonung aussprach. »Ich habe morgen ein kleines Rencontre. Vergiß mir die Pistolen nicht, dann laß an allen Thüren die Portieren herab. An Ihren Platz, Herr Sekretär!«
In diesem Augenblick trat der Herzog ein, ziemlich geräuschvoll wie immer und laut lachend. »Nehmen Sie mir es nicht übel, lieber Baron,« rief er schon im Vorzimmer, »da unten an Ihrem Hause sehe ich verteufelte Anstalten. Was haben Sie denn in's Kukuks Namen mit der heiligen Hermandad zu schaffen?«
» Coeur de rose! Ist das nicht unangenehm!« lachte der Baron. »Aber Euer Durchlaucht sollen die Ursache gleich erfahren. Nicht wegen einer Kleinigkeit erlaubte ich mir, Sie hierher zu bitten. Sie hatten mehrmals die Gnade, mich Ihrer Erkenntlichkeit zu versichern und vorkommenden Falls Ihre Hilfe zu geloben. Ich muß dieselbe für heute Abend in Anspruch nehmen.«
»Thun Sie das, bester Baron; Sie werden sehen, ob Sie einen Undankbaren an mir finden. Ich werde Ihre großen Dienste nie vergessen, obgleich unser letzter Coup, der mit den Achselbändern, gegen uns selbst explodirt hat. Sie wissen doch bereits, daß die Verlobung zwischen Eugenie und Graf Fohrbach bestimmt ist und morgen beim Diner des Kriegsministers deklarirt werden soll, auch daß die Hochzeit in ganz kurzer Zeit stattfinden wird? O, die Undankbare!«
»Ja, sie hat ihren Vortheil nicht verstanden,« entgegnete Herr von Brand mit einem ironischen Lächeln.
»Aber schnell, bester Baron!« rief der Herzog, »womit kann ich Ihnen dienen? Sie wissen, daß ich immer pressirt bin, namentlich heute Abend. Unter uns gesagt, man stellt im kleinen Cercle ein neues Ehrenfräulein vor. Die Stelle der stolzen Eugenie muß doch besetzt werden und dabei –«
»Dürfen Sie Glücklicher zugegen sein. Also keine Zeit verloren, schnell zu unserem Geschäft! Sie haben die Polizei gesehen?«
»Haben Euer Durchlaucht gestern oder heute keine Gerüchte über mich in der Stadt gehört?«
Der Herzog sann einen Augenblick nach. »Ja, versteht sich!« rief er alsdann, »Duell mit Herrn von Dankwart. Er widerspricht freilich, aber die Stadt ist voll davon. – Ah, Teufel! jetzt versteh' ich. Das will man verhindern.«
»So scheint es!«
»Sie haben Hausarrest!«
»Ich vermuthe fast.«
»Ah! Das leiden wir nicht. Und wollen Sie nicht mehr als meine Hilfe, um dieser Polizei unten eine Nase zu drehen?«
»Nicht blos der Polizei da drunten allein,« versetzte laut lachend der Baron, »sondern auch Seiner Excellenz, dem Präsidenten, der jeden Augenblick erscheinen kann, natürlicherweise um sich wegen der genommenen Maßregeln« – setzte er in leichtem Tone hinzu – »gegen mich zu entschuldigen.«
»Vortrefflich, deuten Sie mir aber nur gefälligst das Wie ein wenig an.«
»Vor allen Dingen,« erwiderte der Baron, indem er auf Beil wies, »steht dort der Sekretär Euer Durchlaucht, ein junger, talentvoller Arzt,« sagte er flüsternd, »den ich vielleicht morgen nothwendig brauche.«
»Schön, schön,« bemerkte lachend der Herzog, »also mein Sekretär, den ich natürlicherweise nach Hause schicke, sobald der Präsident da ist. Aber nun die weitere Instruktion.«
»Seine Excellenz, der Herr Polizeipräsident!« meldete der Kammerdiener mit zitternder Stimme.
»Aeußerst angenehm!« rief der Baron sehr laut, dann sagte er eilig und flüsternd zum Herzog: »Sie sind indignirt, gnädiger Herr, Polizei auf der Treppe des Hauses zu finden, das Sie mit Ihrem Besuch beehren, und entfernen sich so bald als möglich.« Nach diesen Worten wandte er sich rasch herum und eilte dem Präsidenten mit dem Ausruf entgegen: »Ah! wie glücklich macht es mich, Euer Excellenz so spät bei mir zu sehen! Doch nicht unerwartet,« setzte er etwas pikirt scheinend hinzu – »Euer Excellenz haben sich, wie mir mein Kammerdiener sagte, schon vor mehr als einer Stunde drunten anmelden lassen.«
Daß der Polizeipräsident die Wohnung des Barons, gestern noch sein zukünftiger Schwiegersohn, heute – o, es war schrecklich, nur daran zu denken! mit einem beklemmenden Gefühl betrat, war gewiß sehr zu entschuldigen. Doch obgleich sein Herz heftig schlug, obgleich seine Augen etwas zwinkerten und seine untere Kinnlade ein wenig bebte, ging er doch aufrechten Hauptes, mit hoch emporgehobener Nase diesem großen Momente entgegen. Er wußte, wem er im nächsten Augenblick entgegentreten würde; die vier Polizeibeamten hatten ihre Schande nicht verschweigen können und wehklagend berichtet von dem Flüchtlinge, den sie in jener Nacht verfolgt, hatten sein Aeußeres beschrieben und daß er bei dem Garten des Polizeipräsidenten verschwunden sei. Entsetzlich genug für Seine Excellenz! Denn Jener hatte darauf seine Wohnung betreten und hatte des Präsidenten eigene Tochter auf den Hofball geführt! Aufgestachelt durch all' das, hatte der Präsident den Wirth des Fuchsbaues einsetzen lassen, der übrigens Alles hartnäckig leugnete; ebenso Herrn Sträuber, der sich nicht lange bitten ließ, so vollständig zu beichten, als man nur wünschen konnte. Auch hatte Letzterer Zerknirschung und Reue geheuchelt, hatte jammernd versichert, wie glücklich er sich fühle, daß jenes elende Leben aufhöre, und daß ihm nun endlich Gelegenheit gegeben würde, in der stillen Zelle eines Gefängnisses über seine Vergangenheit nachdenken zu dürfen. Herr Sträuber war ein Mann von Umsicht und Phantasie; ihm war es nicht unbekannt, daß man bei einem unumwundenen Geständnisse den Inkulpaten der Gnade zu empfehlen pflege, er wußte ferner, daß es ihm mit einiger Heuchelei gelingen könne, selbst im Zuchthause nach und nach zu einer würdigen Stellung zu gelangen, vielleicht Aufseher irgend einer Werkstätte zu werden. Dann dachte er auch: Die Gefangenschaft wird nicht ewig dauern, und wenn ich herauskomme, werden die kleinen Kapitälchen, bei den Damen Becker und Schwemmer angelegt, unterdessen auch ihre Zinsen getragen haben. Dies machte ihn biegsam und nachgiebig, und diese Nachgiebigkeit hatte ihm sogar die Gunst des Präsidenten verschafft.
Dieser, der wohl wußte, daß es bei der Gewandtheit des Barons gefährlich sei, und auch für ihn als Vater unangenehm, sich mit demselben in Erörterungen einzulassen, hatte sich vorgenommen, ihm mit einem kurzen: »Im Namen des Königs!« entgegenzutreten. Deßhalb stierten seine Augen gerade aus, deßhalb war seine Nase so drohend gerichtet, und schon wollte er den Mund öffnen, als er zu seiner großen Bestürzung den Herzog erblickte, der sich in einen Fauteuil geworfen hatte, lachend ein Bein über das andere schlug und Seiner Excellenz auf's Allerfreundlichste einen guten Abend bot. Der Präsident in seinem Amtseifer befand sich im Zustande eines Rennpferdes, dem plötzlich die Bahn versperrt ist und das nun mit den Zügeln gewaltsam zurückgerissen werden muß. Sein Zügel aber war die Nase, die er beim Anblick des Herzogs hastig ergriff, ziemlich unsanft herabdrückte, also parkte und zu gleicher Zeit vor dem Angehörigen des königlichen Hauses eine Verbeugung zu Stande brachte.
Ja, in der That, der Präsident war unangenehm überrascht, den Herrn Herzog hier zu finden, auch klang das Lachen Hochdesselben etwas herausfordernd, ebenso der Ton, mit dem er ihm seinen guten Abend bot. Auf die Bemerkung des Barons von vorhin eingehend, sagte er alsdann: »In der That, Euer Excellenz waren vortrefflich angemeldet. – Alle Wetter! so viel Lärmen um Nichts! – Bitt' tausendmal um Verzeihung!« korrigirte er sich, »ich will damit sagen, es sei eigentlich Luxus, eine so große Macht aufzubieten wegen so geringfügiger Ursache. Denn wir kennen genau den Zweck Ihres Besuches; nicht wahr, Baron?«
»Vollkommen,« entgegnete dieser, wobei er seine Cigarre dem Herzog hinhielt, der die seine damit anzündete. »Excellenz rauchen nicht?« wandte er sich hierauf verbindlich an den Chef der Polizei.
Dieser war mehr und mehr überrascht; er hatte geglaubt, ja sich damit geschmeichelt, sein Erscheinen mit bewaffneter Macht würde eine unsägliche Bestürzung bei dem Baron hervorbringen, und jetzt that derselbe, als sähe er durchaus nichts Außergewöhnliches darin, ja, er und der Herzog nannte diese Ursache eine ganz geringfügige! Der Präsident befühlte seine Nase, er klapste leicht mit dem Finger daran, hob sie aber alsdann hoch empor, als ihm der Baron einen Fauteuil hinrollte, in den er sich, obgleich sehr würdevoll, niederließ.
Jetzt erinnerte sich Seine Durchlaucht Höchstihres Sekretärs und sagte dem Herrn Beil, indem er sich lang in dem Fauteuil ausstreckte: »Sie können jetzt gehen, ich habe nichts mehr für Sie.«
Dieser hatte sich so aufgestellt, daß ihn der Präsident nicht sehen konnte, und bei dem Befehl des Herzogs zog er sich augenblicklich hinter die Portieren in's Vorzimmer. Doch hatte er das Gemach noch nicht lange verlassen, als der Kammerdiener des Barons hereintretend meldete: »Die auf der Treppe aufgestellten Polizeibeamten weigerten sich, den Sekretär Seiner Durchlaucht passiren zu lassen.«
»Wie ist das, Excellenz?« fragte der Herzog scheinbar erzürnt den Chef der Polizei. »Man will meinen Sekretär nicht passiren lassen? Haben Excellenz,« fügte er mit schneidendem Tone bei, »vielleicht den Befehl dazu gegeben oder ist die Sache Mißverständniß? Ich denke wohl das Letztere, Herr Präsident, und bitte, daß dasselbe so bald als möglich aufgeklärt werde.«
Der Chef der Polizei war einigermaßen betreten, beeilte sich aber, dem Herzog mit einer tiefen Verbeugung zu erklären, daß hier selbstredend ein Mißverständniß obwalte, doch werbe er augenblicklich den Befehl geben, dem Sekretär seiner Durchlaucht den Weg frei zu lassen.
»Bravo! vortrefflich!« flüsterte leise der Baron.
»Ueberhaupt muß ich mir erlauben,« fuhr der Herzog fort, »Euer Excellenz zu bemerken, daß ich es, mildestens gesagt, für etwas stark halte, mit Polizei die Treppe eines Hauses zu besetzen, wo ich mich gerade befinde. Wenn Sie das nicht fühlen, Herr Präsident, so erlaube ich mir, es Ihnen zu sagen.«
»Euer Durchlaucht werben zu Gnaden halten,« entgegnete Seine Excellenz, »aber ich versichere Sie, ich hatte keine Ahnung davon, den Herrn Herzog hier zu finden. Gewiß, keine Ahnung,« setzte er mit einem Seitenblick auf den Baron hinzu; »es hat mich wahrhaftig überrascht. Doch werde ich mich beeilen zu thun, was ich in der That Euer Durchlaucht schuldig zu sein glaube.« Nach einer tiefen Verbeugung ging er alsdann in das Vorzimmer, und man hörte ihn mit lauter Stimme befehlen: »Der Sekretär Seiner Durchlaucht passirt, auch sollen sich die Leute von der Treppe vor das Haus zurückziehen.« Daß er dagegen einem der Polizeikommissäre zuflüsterte, in das Vorzimmer zu treten und sich in die Fensternische zu stellen, hörte man nicht.
»Nun schnell meine Instruktion!« – flüsterte drinnen der Herzog.
»Ist fast unnöthig, bei der mir bekannten hohen Intelligenz Euer Durchlaucht: Verzeihen Sie mir, aber Entfernung so bald wie möglich!« Bei diesen Worten rauschten die Thürvorhänge, und als der Präsident hierauf eintrat, sagte der Herzog gähnend und wie gelangweilt: »Es ist heute Abend verdrießlich Bei Ihnen, Baron, ich ziehe mich zurück. Sieht man Sie morgen?«
»O ja, ich hoffe, Sie werden mich sehen, gnädigster Herr,« versetzte der Baron und fügte lächelnd Bei: »wenn bis dahin mein Hausarrest vorüber ist.«
Das versteht sich doch wohl von selbst,« sprach der Herzog. »Nicht wahr, Herr Präsident? Und auf alle Fälle, wenn man Sie nicht losläßt, so engagire ich den Major, hierher zu kommen. Vielleicht auch wird uns Seine Excellenz selbst das Vergnügen machen, einer Partie Whist à trois zu assistiren.«
Der Baron lächelte so sonderbar, als er darauf entgegnete: »Eine charmante Idee, Whist à trois – mit dem todten Manne.« Hierauf fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und fuhr in gefälligem Tone fort: »Ehe Euer Durchlaucht gehen, erlaube ich mir noch eine Bitte auszusprechen: Darf ich zwei Zeilen schreiben und Sie damit belästigen? Die Adresse ist Ihnen sehr bekannt.«
»Mit Vergnügen,« erwiderte der Herzog. »Ihr Kammerdiener soll unterdessen meinen Wagen vorfahren lassen.«
Während der Herzog in's Vorzimmer ging, schrieb der Baron einige Zeilen, doch streckte Seine Durchlaucht gleich darauf den Kopf durch die Portièren herein und rief lachend: »Ich bedarf eines Befehls Eurer Excellenz, um fortfahren zu können. Teufel, Baron! Sie sind gut Bewacht.«
»Ich selbst fange an das zu glauben,« entgegnete dieser, indem er sein Billet faltete und es dem Herzog übergab. »Gleich nachher zu übergeben,« sprach er mit scharfer Betonung.
Der Präsident hätte gar zu gern die Adresse gesehen, da er vermuthete, der Brief sei an eine Allerhöchste Person gerichtet.
»Ich lasse Sie also allein,« sagte der Herzog, »allein mit unserem größten Tyrannen. Allein seien Sie menschlich, Herr Präsident; vergessen Sie das Sprichwort nicht: Eine Hand wäscht die andere, das heißt, wenn ich kann, so helfe ich dem Baron aus der Patsche, denn weßwegen er heute Ihre Aufmerksamkeit erregt, dafür kann ich Ihnen morgen ebenfalls empfohlen werden.«
»Das wäre erschrecklich,« meinte Seine Excellenz.
»Aber es ist so,« sprach bestimmt der Herzog. »Zum Henker! man muß uns jungen Leuten nicht alle Freiheit nehmen wollen.«
Der Präsident machte eine tiefe Verbeugung, und als der Baron dies ebenfalls that, ohne von der Stelle zu gehen, sagte der Herzog: »Ich hoffe, Sie werden mich doch bis an die Grenzen Ihres Reichs begleiten, wenigstens bis zur Treppe. Ich habe das anzusprechen.«
Herr von Brand warf achselzuckend und lächelnd einen Blick auf den Präsidenten, der selbst im Zweifel zu sein schien, was er thun solle. Doch faßte er sich schnell und bemerkte mit einem freundlichen Grinsen: »Euer Durchlaucht haben die Gnade, uns an unsere Schuldigkeit zu erinnern. Auch ich werde die Ehre haben, Sie bis an die Treppe zu begleiten; muß ich doch auch den Befehl geben, daß man Sie passiren läßt,« setzte er lächelnd hinzu. Damit faßte er triumphirend seine Nase und ging hinter dem Herzog und vor dem Baron in das Vorzimmer, nicht aber ohne einen Blick hinter sich zu werfen, ob ihm dieser auch folge.
»Dabei bitte ich aber,« sprach lustig der Herzog, »daß Sie meinen Namen nicht hinab rufen. Der Teufel auch, die Leute draußen, die Ihre Polizei sehen, könnten ja glauben, der Baron und ich seien in Ausübung Gott weiß welchen Verbrechens hier abgefaßt worden!«
In dem Vorzimmer angekommen, blieb Seine Durchlaucht stehen, hustete einigermaßen verlegen, denn ihm fehlte alle Instruktion zur weiteren Hilfe. Doch faßte er plötzlich einen sehr glücklichen Gedanken, und als der Präsident, der zur Treppe gegangen war und hinabgerufen hatte: »Man läßt den Herrn, der jetzt kommt, passiren!« reichte er dem Baron zum Abschied die Hand und dann traten alle Drei auf den Vorplatz an die Treppe. In diesem Augenblick hatte auch der Kommissär seinen Platz am Fenster verlassen und sich der Thüre genähert, welche sich nur einen Schritt von dieser Treppe befand; der Baron dagegen hatte im Herausgehen einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Kammerdiener gewechselt, der auch vollkommen zu verstehen schien, um was es sich hier handle, und, anscheinend ganz absichtslos, die offenstehende Thür des Vorzimmers gegen die Treppe hin mit der Hand faßte.
Der Herzog, der seine Rechte auf das Treppengeländer legte, hob seinen Fuß, um hinuntersteigend auf die erste Stufe zu treten. Doch zog er ihn wieder zurück, schlug sich an die Stirn und sagte: »Wie kann man auch so vergeßlich sein? Habe ich doch für Euer Excellenz eine Nachricht von ziemlicher Wichtigkeit!« Damit faßte er den Rockknopf des alten Herrn und machte einen Schritt gegen das Vorzimmer zurück. »Heute Abend,« bemerkte er hierauf, indem er jedes Wort sehr langsam aussprach, »war Familiendiner – Familiendiner, acht Couverts.« Der Herzog ließ den Rockknopf nicht los und stand jetzt wieder auf der Schwelle des Vorzimmers. Der Präsident, der diese wichtige Nachricht nicht verlieren mochte, folgte ihm, ließ aber zu gleicher Zeit den Baron nicht aus dem Auge, der ganz ruhig an dem Treppengeländer lehnte und, wie aus Diskretion, zurückblieb. – »Acht Couverts,« fuhr der Herzog fort, »und Seine Majestät waren äußerst gnädig. – Bei dem Dessert sprachen Allerhöchstdieselben von dem bewußten Vorfalle – Sie erinnern sich doch des Vorfalls, Herr Präsident?« –
»Ich weiß in der That nicht, was Euer Durchlaucht meinen,« versetzte Jener unaufmerksam, indem er dem Polizeikommissär einen Wink gab und mit den Augen auf die Treppe deutete.
»Wie Sie vergeßlich sind, bester Präsident!« sagte der Herzog, der nur einen Schritt von der Thüre entfernt stand. »Nun, ich meine den Vorfall mit der Baronin von W.« Bei diesen Worten hatte er so vortrefflich manöverirt, daß der Polizeikommissär, der sich unverholen näherte, die Thüre nicht erreichen konnte, er hätte denn den Herzog auf die Seite drücken müssen.
Der Baron lehnte noch immer ruhig an dem Treppengeländer, und diese Unbeweglichkeit war wohl schuld daran, daß der Polizeikommissär keinen gewaltsamen Versuch machte, auf den Vorplatz zu gelangen.
Der Kammerdiener hielt mit zitternder Hand die Thüre, und seine Blicke bohrten sich in die Augen des Herzogs. Er fühlte es, daß er in diesem wichtigen Momente von demselben einen Wink erwarten mußte.
»Man ist mit Ihrem Benehmen sehr zufrieden,« flüsterte der Herzog, »sehr zufrieden.« Damit erhob er seine Augen, maß den Raum zwischen sich und der Thüre, blickte den Kammerdiener eine Sekunde fest an, und dessen Absicht durchschauend, nickte er leicht mit dem Kopfe.
Die Thüre flog zu, der Präsident schrie laut auf, der Polizeikommissär rannte an das Fenster, und während der Herzog wie ein Besessener lachte und jubilirte, hörte man drunten vor dem Hause das Rollen eines Wagens und den scharfen Trab zweier ungeduldiger Pferde, die, des langen Wartens müde, nun mit voller Kraft über das Pflaster dahingingen. Man konnte nicht drei Sekunden zählen, so wurde das Rollen schwächer und verlor sich in der Ferne. In diesen drei Sekunden aber war die Beschäftigung der Anwesenden im Vorzimmer des Barons sehr bemerkenswerth und bezeichnend.
Kaum hatte der Kammerdiener die Thüre zugeschlagen, so warf er sich mit seinem Körper gegen dieselbe und mit einem Blicke, als wollte er sagen: Nur über meine Leiche geht der Weg über diese Schwelle, einem Blicke, vor dem der Präsident, der hinaus wollte, zurückschrak und darauf in seiner Gemüthsbewegung mit beiden Händen an seiner Nase riß, wie es andere Menschen wohl mit ihren Haaren zu machen pflegen. Der Polizeikommissär hatte versucht, ein Fenster zu öffnen, doch war dasselbe von Innen mit festschließenden Läden versehen, und ehe er die Riegel derselben losbrachte, deutete ihm schon das Rollen des Wagens an, daß alle seine Bemühungen vergebens seien.
Der Herzog hatte sich in einen Stuhl geworfen, und je größer augenblicklich die Verwirrung im Zimmer war, desto toller lachte er.
»Wir haben ja einen reitenden Gensdarmen in der Nähe,« sprudelte endlich der Präsident, zugleich heftig nach Athem schnappend, hervor. »Lassen wir augenblicklich dem Wagen nachsetzen.«
»Der Gensdarm müßte ein vortreffliches Pferd haben,« jubelte der Herzog, »wenn er meine Ungarn einholen wollte. – Ah! der Spaß wäre für eine Million nicht zu theuer.«
Jetzt erst fielen die umherirrenden Blicke des Präsidenten auf Seine Durchlaucht, und seine Hände, die sich krampfhaft öffneten und schlossen, schlugen nun heftig zusammen, indem er verzweiflungsvoll ausrief: »Und Sie können über diese entsetzliche Geschichte lachen, wie – wie – o Gott! nein, wissen denn Euer Durchlaucht auch –«
»O, ich weiß Alles,« sagte der Herzog, vor Lachen fast erstickend.
»Daß der Baron – verhaftet werden sollte –«
»Von einer halben Compagnie Polizeisoldaten, geführt von mehreren Kommissären und befehligt von dem Chef der Polizei in Person. Das ist ja gerade der Hauptspaß. Nehmen Sie mir nicht übel, Excellenz, das ist eine Geschichte für das morgige Frühstück, die nicht zu bezahlen ist.«
»Gerechter Gott! Bin ich denn ein Narr oder –« hier schien der Präsident sich wegen dieser wichtigen Frage bei seiner Nase Rath erholen zu wollen. Er hielt sie ein paar Sekunden fest, dann aber sagte er mit vor Bewegung zitternder Stimme: »Also Euer Durchlaucht wissen Alles?«
»Alles, Excellenz.«
»Daß der Baron verhaftet werden sollte?«
»Alles – um ein Duell mit dem Herrn von Dankwart zu verhindern.«
Bei diesen Worten fuhr der Präsident einen Schritt zurück, um darauf wieder zwei vorwärts zu schnellen, bis dicht vor Seine Durchlaucht, welche ob dieser heftigen Bewegung mit seinem Lachen plötzlich innehielt und erstaunt aufblickte. Dabei hob der Präsident die Hände gen Himmel und schrie: »Nein! nein! nein! O, über die Thorheit von euch jungen Leuten! – Der Baron – Gott verdamm' ihn! – O was, Baron! – wegen eines Duells, glauben Sie hätte ich ihn verhaften wollen? – Wissen Euer Durchlaucht, wem Sie fortgeholfen haben? – Dem Chef einer Räuberbande, dem gefährlichsten Menschen im ganzen Königreiche. – O heilige Vorsehung! Ich hatte ihn so gut in meiner Hand – und jetzt!« – Damit schien ihn alle Kraft verlassen zu haben, er warf noch einen wehmüthigen Blick auf die linke, leere Seite seines Fracks und knickte darauf zusammen wie ein Taschenmesser. Ja, er wäre unfehlbar auf den Boden niedergesunken, wenn ihn nicht der Kommissär mit starkem Arme aufgefangen hätte. An dessen blauem Busen – er trug nämlich eine Uniform von dieser Farbe – erholte er sich langsam wieder, faltete dann trauernd seine Hände und wandte seinen Kopf herum, indem er sprach: »Braun, wer uns das vor einer Stunde prophezeit hätte!«
Der Herzog war übrigens bei den Worten, welche ihm die Excellenz vorhin zugerufen, wie ein Bild der höchsten Ueberraschung dagesessen. Jedes Lächeln war von seinem Gesichte verschwunden, und da er an dem Jammer, in dem sich der Präsident befand, wohl sah, daß sich dieser würdige Staatsbeamte keinen Scherz mit ihm erlaubte, so biß er sich heftig auf die Lippen und sagte, indem er die Augenbrauen finster zusammenzog: »Alle Teufel! Herr Präsident, das hätten Sie mir auch schon vorhin sagen können!«
»Ließen Sie mich denn zu Worte kommen?« jammerte der Andere. »Zuerst mußte ich die fabelhafte Geschichte von dem Diner hören, an der – ich bitte um Verzeihung – gewiß kein wahres Wort ist; und dann lachten Sie wie – wie ich in meinem Leben nichts Aehnliches gehört. Euer Durchlaucht,« fuhr er sich ermannend fort, »das ist ein schlimmer Handel. Ich hätte natürlich keine Rücksichten sollen gelten lassen. Aber wie mir Euer Durchlaucht mitgespielt, das kann ich unmöglich Seiner Majestät verschweigen.«
Der Herzog zuckte die Achseln, als wolle er sagen: Daran ist nichts zu ändern. Dann aber rief er auf einmal: »Warten Euer Excellenz einen Augenblick. Da habe ich ein Schreiben des Barons an Sie. Alle Wetter! das hätte ich beinahe vergessen. Lesen wir, lesen wir, und dann wollen wir Kriegsrath halten.«
Begierig nahm der Präsident das Billet aus den Händen des Herzogs und entfaltete es. Der Polizeikommissär hielt das Licht und der Herzog schaute dem Präsidenten über die Schulter, während er las:
»Euer Excellenz
werden es einem alten und genauen Bekannten nicht zu ungnädig nehmen, daß er sich heute Abend der Ehre Ihrer Gesellschaft entzieht. – Sehr dringende Geschäfte veranlassen mich, heute Nacht und morgen von Hause abwesend zu sein.
»Da ich aber zu gleicher Zeit überzeugt bin, daß Euer Excellenz nicht ohne die triftigsten Gründe mit so großem Gefolge in meiner Wohnung erschienen sind, so werde ich nicht ermangeln, mich morgen um diese Stunde hier einzufinden.
»Indem ich mir erlaube, den Scherz Seiner Durchlaucht des Herrn Herzogs mir zu eigen zu machen, bin ich so frei, Euer Excellenz demgemäß auf morgen Abend zu einer Partie Whist einzuladen, und zwar à trois mit einem todten Mann.«
So las der Präsident, und Alle schauten sich verwundert an; der Kommissär schüttelte den Kopf und Seine Excellenz meinten: »Glaub' das der Henker!«
Der Herzog nahm allein die Partei des Verschwundenen, indem er bemerkte: »Das ist jedenfalls ein Ausweg; ich bitte, ich beschwöre Sie, Herr Präsident, warten Sie bis morgen Abend. Wie ich den Baron kenne, bin ich überzeugt, er stellt sich. Deßhalb machen Sie um Gotteswillen heute Abend und morgen keinen Lärm; lassen Sie Ihren Leuten drunten sagen, Sie hätten dem Baron wegen eines Duells einen Hausarrest ankündigen wollen, er sei aber verschwunden. Kehrt er morgen Abend zurück, so machen Sie, was Sie wollen, kehrt er nicht zurück, so haben Sie immer noch Zeit, die Sache bekannt werden zu lassen.«
»Was meinen Sie, Braun?« fragte der Präsident, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Der Karren ist so wie so verfahren, und wenn er wirklich wiederkäme, so hätten wir in der That die ganze blamable Geschichte nicht zu erzählen.«
Der Polizeikommissär zuckte die Achseln und pflichtete ebenfalls nach einiger Ueberlegung Seiner Durchlaucht Meinung bei.
»So sei es denn also,« sprach bestimmt der Präsident, indem er das Billet wieder zusammenfaltete. »Aber wir, die wir hier beisammen sind, geloben uns bis morgen Abend ein feierliches Stillschweigen. Was diesen alten Herrn da anbelangt,« fuhr er mit einem Wink auf den Kammerdiener fort, »so ist es meine Ansicht, denselben scharf unter Aufsicht zu halten. Braun, lassen Sie deßhalb ein paar vertraute Leute im Hause. Und nun,« sprach er achselzuckend und mit einem tiefen Seufzer, »sind wir fertig, und wenn Euer Durchlaucht also befehlen –«
»Mir thut die verdrießliche Geschichte wahrhaftig leid,« entgegnete dieser, während er seinen Hut nahm. »Aber seien Excellenz versichert, daß ich Ihnen mit meinem ganzen Einfluß zur Seite stehen werde. Thun Sie mir dagegen die Liebe, bester Präsident, und erzählen mir beim Nachhausefahren, was es denn eigentlich mit dem Baron für eine Bewandtniß hat. – Horreur! der Chef einer Räuberbande, haben Sie gesagt?«
Während Seine Excellenz trübselig mit dem Kopf nickte, gingen die Beiden der Treppe zu, doch ehe sie hinabstiegen, meinte der Präsident: »Was er nur mit seiner Einladung hat sagen wollen? Zu einem Whist à trois mit einem todten Manne. Ich verstehe das nicht.« –
»Aber ich verstehe es,« sprach tief aufseufzend der alte Kammerdiener drinnen im Zimmer; dann sank er auf einen Stuhl nieder und verbarg sein Gesicht in beide Hände.