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69. Das Siegel des Herrn von Brand

Wie lange Arthur in jener Nacht auf den Straßen umhergeirrt, bald mit den Zähnen knirschend und die Fäuste geballt, bald wieder leise weinend und ihren Namen ausrufend, zuerst mit weichem, liebendem Tone, dann immer heftiger und heftiger, bis ihn wieder die frühere Wuth erfaßte, das wäre er selbst nicht im Stande gewesen anzugeben. Ja, von dem Abend und der Nacht blieb ihm nur der Klang ihres Namens vollkommen gegenwärtig; es war, als wandelte eine Schaar Teufel mit ihm, die: Clara Staiger – Clara Staiger!« hohnlachend in seine Ohren schrieen. Alles Andere erschien ihm wie ein wüster Traum, – ein wacher Traum, denn er hätte die Personen willkürlich hervorrufen können, mit denen er gesprochen, ja, er erinnerte sich, daß er leibhaftig an den Orten gewesen war, wo er jene Leute hätte finden können, – mit jenem Weib, jener schändlichen Kupplerin hatte er zuerst und lange zu thun gehabt; er wußte, daß er vor ihrem Hause am Kanal gewesen, er hatte ihre Fenster gesehen und einen schwachen, ihm unheimlich dünkenden Lichtschimmer: ja unheimlich, denn er zuckte über ein bleiches Gesicht, welches gestern noch in Fülle der Gesundheit geprangt. Er hatte in Gedanken mit jenem Weibe gesprochen, er hatte sie um Auskunft gebeten, welcher Dämon ihr die Macht verliehen über das bisher so reine und unschuldige Geschöpf. Sie hatte gleichgiltig die Achseln gezuckt, und hatte ihm gesagt: ja, wenn Sie mir keinen Brief bringen mit dem bewußten Siegel, so brauche ich Ihnen keine Antwort zu geben. Darauf war er vor dem Hause des Baron von Brand gewesen und hatte lange an die dunklen Fenster hinauf geblickt, und darauf war es ihm, als habe er ihn um das Siegel bitten wollen, doch war jener abwesend und er mußte ihn im Fuchsbau aufsuchen. Und das that er denn auch: hastig, eilig.

Da lagen vor ihm die finsteren Gebäudemassen, da war der Durchgang, wo das einsame Licht brannte, und die eiserne Gitterthüre, wo er damals jenen Mann im Mantel gesehen, der dem Baron von Brand so ähnlich sah. – Aber auch hier ward ihm kein Einlaß, und es trieb ihn immer wieder fort, wie in einem Rundlauf, an dem stillen Wasser des Kanals vorbei, vor das Haus jenes räthselhaften Mannes, abermals an den Fuchsbau, und erst als der Morgen anfing zu grauen, hie und da an den Häusern Lichter blitzten, sich Hausthüren öffneten und Menschen erschienen, und er also nicht mehr, gefolgt von seinen wilden Phantasien, allein und ungesehen durch die Straßen schweifen konnte, da schwankte er seinem Hause zu, und als er es erreicht, lehnte er lange die immer noch heiße Stirn an den kalten Stein, ehe er aufschloß und in sein Zimmer hinauf ging. Ach! das schienen ihm gar nicht mehr die traulichen Gemächer zu sein, in denen er bis jetzt so gern verweilt; bei seiner Gemüthsstimmung und dem falben Lichte des Wintermorgens erschien ihm Alles hier unheimlich und gespensterhaft. Seine Waffen funkelten ihn so verstohlen an, die weißen Statuen schienen verlegen auf den Boden zu blicken, der schwere Seidenstoff, der nachlässig über seinem Divan hing, schien ihm ein Grabtuch zu sein, und erst ihr Porträt, das auf der Staffelei stand, hatte gar keine lebendige Färbung mehr, sondern däuchte ihm wie das Bild einer Leiche, die nichts mehr hier oben auf der freundlichen Welt zu schaffen hat, die tief hinabgesenkt werden muß, damit man sie nicht mehr sehe und sich bei ihrem Anblick nicht entsetze. – Ah! ihm schauderte vor ihren Zügen; sie waren so bleich und leblos. – »Und du konntest so an mir handeln!« sagte er, vom tiefsten Schmerz ergriffen, »du, an die ich mein Alles gesetzt!« –

Als er so dachte, kam es ihm vor, als flamme eine leichte Röthe, das Bewußtsein ihrer Schuld, über das schöne Gesicht. – Doch nein! er hatte sich nur geirrt; es war das letzte Aufflackern des tief herabgebrannten Lichts, das die ganze Nacht vergeblich auf seine Rückkunft gewartet hatte. – Er nahm ruhig den Seidenstoff und deckte ihn über Bild und Staffelei. Dann versank er abermals in Träumereien, aber er schlief nicht, und hörte nur wie fernes Rauschen, als es so nach und nach auf der Straße und im Hause lebendig wurde. Erst als die Sonne einen freundlichen Strahl in's Zimmer sandte, erhob er sich und brachte ruhig seinen Anzug in Ordnung, ohne dabei vor der Blässe zu erschrecken, die auf seinen verstörten Zügen lag.

Was er während des Umherschweifens heute Nacht gedacht, beschloß er nun auszuführen; vor allen Dingen wollte er sich Gewißheit verschaffen, welche Mittel Clara vermocht, so entsetzlich tief zu fallen. »O!« sprach er zu sich selber, »das kann kein Anfang sein, das ist nur eine Fortsetzung.« Er zwang sich ruhig zu werden, er kühlte sein Gesicht mit kaltem Wasser, er ordnete sein Haar, und sobald es ihm die Stunde erlaubte, ging er nach der Wohnung des Baron von Brand. Vorher aber hatte er aus der Mappe die bewußten sechs Blätter genommen, sie zusammen gerollt und zu sich gesteckt.

Der Baron hatte sich, wie sein Kammerdiener sagte, eben erhoben; doch ließ er den Maler augenblicklich in sein Zimmer und schien erfreut, ihn zu sehen. Er lag in einem kleinen Fauteuil und trug einen seidenen Schlafrock. Neben ihm befand sich ein sehr niedriger runder Tisch, auf welchem sein Frühstück stand; er nöthigte Arthur, eine Tasse Kaffee zu nehmen und bot ihm eine Cigarre an, welche dieser aber ablehnte.

»Sie werden sich wundern, Herr Baron,« sagte der Maler, »daß ich Sie so früh belästige, aber ich komme nur, um Ihnen einen Beweis meiner Ergebenheit darzubringen. Gestern Abend schienen Sie großen Werth darauf zu legen, die sechs Blätter – eines gewissen Porträts zu besitzen; hier sind sie.«

»Wirklich?« erwiderte der Baron erstaunt; »das hätte ich mir nicht träumen lassen. Doch will ich Ihnen in der That unendlich dankbar dafür sein; ich freue mich, in den Besitz dieser Blätter zu kommen; aber alle Freundschaft bei Seite – die Zeichnungen sind kostbar und ich nehme sie nur an, wenn Sie mir Ihre Bedingungen nennen, die ich übrigens im Voraus acceptire.«

»Versprechen Sie nicht zu viel, Herr Baron,« sagte Arthur sehr ernst. »Die Blätter sind allerdings sehr kostbar, nicht wegen ihres künstlerischen Werthes, wohl aber wegen der Folgen, die eine solche Arbeit für mich haben kann. – Dagegen,« fuhr er mit einer Handbewegung fort, als er sah, daß der Baron etwas erwidern wollte, »sind auch meine Forderungen vielleicht sehr hoch – vielleicht aber auch sehr gering.«

»Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht, bester Herr Erichsen: erklären Sie sich deutlicher, nennen Sie diese Forderungen!«

»Dazu muß ich Einiges vorausschicken,« sagte der Maler. – »Ich habe Geschäfte mit einer gewissen Frau Becker, die Sie vielleicht nicht kennen.«

»Nein,« sagte der Baron mit völlig unbeweglichem Gesicht.

»Die aber Sie kennt,« fuhr Arthur fort.

» Coeur de rose!« lachte der Baron; »ob das für mich schmeichelhaft ist, weiß ich nicht. Aber gleichviel – gehen wir weiter!«

»Diese Frau muß mir über irgend etwas eine Auskunft geben, eine bestimmte und wahre Auskunft. Und dazu bedarf ich Ihres Fürwortes.«

»Meines Fürwortes, bester Herr Erichsen? Wie gesagt, ich kenne die Frau ja nicht.«

»Aber sie kennt Sie desto besser.«

»Bah! gehen Sie! Sie sprechen in Räthseln. Aber ich will Sie geduldig anhören: worin besteht denn dieses Fürwort?«

»Sie müßten mir auf ein Blatt Papier schreiben,« fuhr der junge Mann tief Athem holend fort, »ungefähr so: Der Ueberbringer ist mein Freund – wenn ich mir damit schmeicheln darf? – und ich wünsche, daß Sie ihn als solchen betrachten.«

»Das ist ja eine ganz rätselhafte Geschichte, eine komische Grille!« lachte überlaut der Herr von Brand. Und sein Lachen war so natürlich und ungezwungen, daß man darauf hätte schwören sollen, er sehe wirklich in der Forderung Arthur's nur eine komische Grille desselben.

»Die Sie erfüllen werden?« fragte ängstlich der Maler. » Coeur de rose! das kommt darauf an. Und das Blatt muß ich unterschreiben?«

»Nicht einmal; aber – Ihr Siegel beifügen.«

»Mein Siegel! Das wird immer geheimnißvoller.«

»Und zwar das Siegel, welches dort neben dem Uhrenschlüssel an der Kette befestigt ist.«

»Mein Talisman, bester Herr Erichsen?« rief der Baron lustig. »Das wird wahrhaftig nicht angehen. Nehmen wir meinetwegen ein anderes Siegel.«

»Nein, es muß der Talisman sein,« bat Arthur. »Er soll es auch mir sein, um einen Mund zu öffnen, der wahrscheinlich sonst für mich verschlossen bliebe. – Finden Sie meine Forderung gegenüber meiner Arbeit vielleicht zu hoch?«

»O nein, die ist mir unschätzbar; aber ich verstehe, beim Himmel! nicht, wie mein armer Talisman auf jene Madame – wie haben Sie doch gesagt?« –

»Madame Becker.«

»Richtig! – Madame Becker wirken soll. Erklären Sie mir doch den Zusammenhang!«

»Ich weiß ihn nicht,« entgegnete Arthur. Doch sah er den Baron scharf an, als er fortfuhr: »Vielleicht glaubt jene Frau, das Siegel gehöre Jemand, den sie fürchten muß; – den Herrn Baron von Brand kennt sie wahrscheinlich nicht.«

»Und woher vermuthen Sie das?«

»Erinnern Sie sich, Herr Baron, daß Graf Fohrbach mit demselben Talisman vor einiger Zeit siegelte; es war ein Brief an eben jene Frau, den ich aus Gefälligkeit dort abgab. Was der Graf verlangte – weiß ich nicht, – aber so viel weiß ich,« fuhr er mit zitternder Stimme fort, »daß die Frau nur durch den Anblick jenes Siegels bewogen wurde, seinen Wunsch zu erfüllen. – Ah! und sie erfüllte ihn meisterhaft.«

Auf dem Gesicht des Barons war nicht die geringste Bewegung zu lesen; sein Lächeln drückte Aufmerksamkeit, Neugierde aus, und als er sagte: »Das ist wirklich seltsam!« klang das, wie im Tone der unschuldigsten Ueberraschung gesprochen.

»Bewilligen Sie meine Bitte,« fuhr Arthur dringend fort. »Ein Blatt ohne Ihren Namen, was kann es Ihnen schaden? Und obendrein verspreche ich Ihnen feierlich, daß Sie es noch am heutigen Tage zurückerhalten sollen. Was dagegen meine Blätter anbelangt, so bleiben sie in Ihrer Hand und mit ihnen ein Theil meiner Zukunft, wenn ich diese je in hiesiger Stadt suchen sollte.«

Der Baron schlürfte kopfschüttelnd seinen Kaffee, stieß bedächtig die Asche von seiner Cigarre und sagte alsdann: »Sie sind einer von den Menschen, lieber Erichsen, für welche ich Sympathieen fühle, und deßhalb will ich Ihren komischen Wunsch erfüllen. Wenn Sie mir das Blatt zurückbringen, ist mir's recht, ich bin aber auch zufrieden, wenn es nur in Ihrer Hand bleibt.« Hierauf erhob er sich langsam, und als er seinem Schreibtische zuging, warf er einen Blick in den Spiegel und sprach affektirt: »Wahrhaftig, Sie haben, wenn ich so sagen darf, einen großen Stein bei mir im Brette, denn Sie durften mich im tiefsten Negligé sehen. Coeur de rose!« Bei diesen Worten hatte er das Verlangte geschrieben, gesiegelt und überreichte es Arthur.

»Von Ihnen gilt der Ausspruch Napoleons nicht,« entgegnete der Maler lächelnd; »Sie bleiben ein großer Mann selbst im tiefsten Negligé, ja in jeder Verkleidung.« Er hatte das ohne Absicht gesagt, als er gerade sein Papier zusammen faltete, weßhalb er auch nicht sehen konnte, welch seltsamer Strahl aus den Augen des Barons auf ihn fiel. »Meinen herzlichen Dank,« sprach Arthur, »hier sind die Blätter; machen Sie einen mäßigen Gebrauch davon.« Er schüttelte dem Baron die Hand, welche ihm dieser mit dem bekannten matten Lächeln darreichte, und verließ eilig das Zimmer.

Kaum hatte sich die Thüre hinter ihm geschlossen, so schien Herr von Brand ein ganz Anderer zu sein. Sein Auge glänzte entschlossen und feurig, alle seine Muskeln schienen sich heftig anzuspannen, er schlug die Arme über einander und rief aus, indem er hart mit dem Fuße auftrat: »Teufel! was ist das? – Mein Talisman! Ah! ich ließ damals den Grafen ungern damit siegeln. – Und was wollte er mit seinen Verkleidungen sagen? – Zum Henker! Das will bedacht und überlegt sein.«

Arthur hatte unterdessen seine eiligen Schritte nach der Kanalstraße gelenkt. Bald hatte er die alte Kaserne erreicht, und sein guter Ortssinn ließ ihn in Kurzem die richtige Treppe finden. Doch als er gerade im Begriffe war, hinauf zu steigen, hörte er droben eine Thüre öffnen, dann Tritte, und vernahm, daß es zwei Personen waren, die sich, ziemlich leise zusammen sprechend, der Treppe näherten. Es war dies eine Wendeltreppe mit festen, glatten Wänden, oben gewölbt, woher es denn auch kam, daß Arthur jedes Wort, das droben, obgleich ziemlich leise, gesprochen wurde, unten ziemlich deutlich vernahm. Es war sonst wahrhaftig nicht seine Art, zu lauschen, aber hier, wo er sich einem feindlichen Lager näherte, glaubte er sich das als eine Vorsichtsmaßregel schuldig zu sein, umsomehr, da er eine der Stimmen, die einer Frau, zu erkennen meinte. –

»Wenn es sich also leicht thun läßt,« sagte diese, »so sehe ich gar nicht ein, warum wir den Profit nicht mitnehmen wollen. Hat mir doch das ungerathene Geschöpf allen Verdienst, den ich durch sie zu machen dachte, mit in den Himmel genommen! Und ich sage Euch, Sträuber, glaubt mir, die ganze Geschichte schadet meinem Erwerb, denn das wird ruchbar und die Herren werden sich vor mir geniren.«

»Bah!« versetzte der Andere. »Ihr seht zu schwarz, Frau. Das macht die Trauergeschichte hier im Hause; das ist in acht Tagen vergessen, und dann habt Ihr Freunde – gute Freunde; schaut auf mich! – Also die Sache werde ich besorgen; keine Einrede; ich nehme Alles auf mich. Es ist doch wunderbar, daß mir vorgestern gerade wie etwas von einem Unglück in den Gliedern lag, und daß ich eine Person, die nicht genannt sein mochte, in sechs Leichenkassen versicherte. Das kostet freilich doppelte Prämien und Ihr müßt im Nothfalle beschwören können, daß Eure Marie damit gemeint war. Das macht sechsmal fünfzig Gulden gleich Dreihundert. – Nun, bin ich ein Geschäftsmann?«

»Gewiß,« sprach die Frau, »daran zweifelt Niemand; und wenn Ihr Euch ein wenig zurückzieht – Ihr versteht mich wohl – so kann es Euch nicht fehlen.«

»Und das werde ich thun, seid ruhig. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und die ganze Geschichte bald aus dem Leim. Denkt an mich: den Fuchsbau heben sie nächstens auf!«

»Gott im Himmel! Das gibt viel Unglück. – Und er

» Er,« flüsterte der Andere; »was ist er? – Alles und gar nichts, leider ein Phantom, das nicht zu fassen ist. Gebt nur Achtung: wenn sie alle Andern zusammen erwischen, so fliegt er zum Schornstein hinaus oder verschwindet irgendwo durch die Mauer. – Wißt Ihr, ich habe mich schon so halb und halb losgesagt.«

»Aber um Gotteswillen! seid klug. Es sollte mir leid um Euch thun; sie spaßen nicht da unten; es sind da schreckliche Sachen vorgefallen.«

»Nur keine so trüben Erinnerungen, Frau, keine momenti moris! Ihr sprecht ja wie ein Todtenkopf.«

»Ach! und dazu hätte ich alle Ursache; ich versichere Euch, es ist mir ganz schwarz vor den Augen. Ihr könntet wohl heute Abend kommen und mir ein bischen Gesellschaft leisten.«

»Nein, das kann ich nicht versprechen,« sagte entschieden der Andere; »ich habe nun einmal eine Abneigung vor allen Häusern, wo Todte liegen; da gruselt es mir beständig, ich muß mich rechts und links umschauen, und dabei ist mir, als zupfe mich etwas Unsichtbares bald hier und bald dort am Rock.«

»Aber morgen!«

»Morgen – versteht sich von selbst! Ich werde wohl das Geld bringen. – Adieu, Frau!«

»Adieu denn!«

Bei den letzten Worten war Arthur dem Eingange wieder zugeschritten; er mochte nicht von dem Manne, der nun herunter kam, in Hörweite angetroffen werden.

An der Thüre begegneten sich denn auch Beide, und Arthur blickte dem Andern überrascht nach; es war das eine dürre Gestalt in schwarzem, abgeschabtem Frack, mit gelblichem, zerknittertem Hemdkragen und schmierigen, baumwollenen Handschuhen; dazu hatte er den Hut keck auf das rechte Ohr gesetzt, schwang einen abgebrochenen Spazierstock, trug die Nase hoch und hatte das Maul gespitzt, als pfeife er sich selbst etwas vor.

Sobald der Maler droben kein Geräusch mehr vernahm, stieg er die Treppen hinauf.

Das alte Haus war unheimlich und finster wie immer; nur hatte sich die Atmosphäre, sonst moderig und feucht, etwas geändert; es roch dazwischen wie nach halb verwelkten Blumen und Weihrauch oder Wachskerzen; es war ein Odeur, der unwillkürlich trübe stimmt. Dazu war es in dem Hause todtenstill, und als Arthur leise an die Thüre klopfte, warf das Echo in dem langen Gange drei dumpfe Schläge zurück. – »Herein!« klang es von innen, und auch hier war derselbe unangenehme Geruch, nur starker Blumenduft vorherrschend.

Madame Becker saß wie damals an dem Tische, doch hatte sich ihr Aeußeres und ihre Haltung sehr verändert; sie war ganz schwarz gekleidet und ließ den Kopf hängen; ihre Augen waren matt und glanzlos, und da ihre Unterlippe ziemlich schlaff herab hing, so hatten ihre Gesichtszüge etwas Verlebtes, Ausdrucksloses. Sie belebten sich ein klein wenig, als sie des jungen, eleganten Mannes ansichtig wurde, auch stand sie eilig auf und nickte ihm zu, schritt aber alsdann gegen das Nebenzimmer, dessen halb offen stehende Thüre sie langsam in's Schloß zog.

Arthur's Kehle war wie zugeschnürt, er konnte kaum ein Wort hervorbringen, und er ließ sich schweigend auf den Stuhl nieder, den ihm die Frau an den Tisch gerückt hatte. – »Sie erinnern sich meiner?« sagte er nach einer Pause.

»Kaum, kaum,« entgegnete die Frau und fuhr mit der Hand über die Augen. – »Es war was dabei von einem Brief und einer Bestellung.«

»Ganz richtig: ein Brief des Grafen Fohrbach.«

»Richtig! jetzt habe ich die Sache wieder,« sprach lebhafter die Frau, wobei sie sich vornüber beugte und so dem jungen Manne näherte. »Jetzt kenne ich den Herrn, aber ich meine, Sie hatten damals einen größeren Bart; heute sehen Sie etwas anders aus, etwas kahler.«

»Vielleicht blässer.«

»Auch möglich. – Richtig! vom Herrn Grafen Fohrbach – ein vornehmer und sehr braver Herr. Er war zufrieden?«

»Außerordentlich.«

Jetzt legte die Frau die Finger auf den Mund, wobei sie sich einen Augenblick nach dem Nebenzimmer umsah. Dann sagte sie flüsternd: »War er nicht überrascht?«

»O, er war sehr überrascht,« brachte Arthur mühsam hervor.

»Das will ich wohl glauben,« erwiderte Frau Becker. »Und ich kann Sie versichern, Herr – Baron, daß keine Andere als ich das zu Stande gebracht hätte. – Keine Andere,« wiederholte sie und berührte mit ihren Fingern den Arm des jungen Mannes.

Arthur zuckte zusammen, doch faßte er sich gewaltsam.

»Also doch!« dachte er. – »Sei ruhig, Herz; wenigstens hat es ihr Mühe gekostet.« – Er zwang sich sogar zu einem Lächeln, doch brauchte er dazu einige Sekunden, dann fuhr er fort: »Ich komme nochmals in derselben Angelegenheit.«

»Wollen Sie sie auch kennen lernen?«

»Nein, nein, nein!« rief er hastig. »Ich habe nur eine Bitte an Sie, einige Fragen, die Sie vielleicht so freundlich sind, mir wahr zu beantworten. – Aber wahr, Frau Becker! Es soll mir auf eine gute Belohnung nicht ankommen.«

Die Frau sah ihn einigermaßen mißtrauisch an. Dann sagte sie: »Vor allen Dingen bitte ich den Herrn Baron, leise zu sprechen. – Was wollen Sie denn eigentlich wissen?«

»Sie kannten die Clara – – Staiger schon länger?«

»O ja, ich kannte sie, so – so!«

»Und sie war Ihnen bis dahin als ein braves und tugendsames Mädchen bekannt? – Ja, ja, das mußte doch wohl sein,« fuhr Arthur fort, als die Frau keine Antwort gab, »denn sonst hätte es Ihnen ja keine Mühe gemacht, sie zu verkuppeln.«

Wer konnte es dem jungen Manne übel nehmen, daß ihm in seinem tiefen Schmerze dies Wort entfuhr. Unbedachtsam aber war es auf jeden Fall, denn die Frau fuhr davor zurück, als sei sie von einer Schlange gestochen worden; auch mochte sie in den seltsam glänzenden Augen Arthur's etwas entdecken, was ihr nicht gefiel. Vor allem aber war sie eine kluge Frau, die verdächtige Blicke und Worte schnell ihren Verhältnissen anzupassen wußte. – »Halt,« dachte sie, »wer weiß, wen ich vor mir habe, und was geschehen könnte, wenn ich dumm genug wäre, ihm zu gestehen, daß wir eine Unschuld geliefert!« Dies überlegend, machte sie eine steife Verbeugung und sagte: »Verzeihen Sie, Herr Baron, ich bin heute nicht in der Verfassung, Geschäfte abzumachen; ich bin in Trauer, wie Sie wohl sehen, und muß ein anderes Mal um die Ehre bitten.« – Sie dachte: Zeit bringt Rath.

Arthur brachte mühsam ein Lächeln zu Stande. »Ah! Sie trauen mir nicht,« sagte er. »Eigentlich haben Sie Recht, ich stelle da indiskrete Fragen, ohne mich bei Ihnen gehörig legitimirt zu haben. Doch soll das sogleich geschehen.« – Er zog das bewußte Papier hervor und reichte es der Frau, die es hastig durchlas, das Siegel betrachtete, und dann schweigend in Ihren Stuhl zurücksank. Ihre Hand und das Papier zitterten ein wenig.

»Sind Sie damit zufrieden?« fragte der junge Mann.

»Bei allen Heiligen, ja!« rief die Frau, nachdem sie heftig geschluckt. »Aber, Herr Baron, sagen Sie einer armen Wittwe die Wahrheit: soll noch mehr Unglück über mich herein brechen? Will er mir ein Leides thun?«

Arthur war zu sehr mit seiner eigenen Sache beschäftigt, um augenblicklich an ihn, an den Baron zu denken, um sich bewußt zu werden, daß zwischen dem Siegel und jenem räthselhaften Er ein Zusammenhang statt fände. – »Ihnen soll gewiß nichts zu Leid geschehen,« entgegnete er der Frau auf ihre Frage, »wenn Sie mir die Wahrheit sagen; aber die volle Wahrheit.«

»Das will ich ja; gewiß, ich will es.«

»Nun gut. – Hatten Sie früher über das bewußte Mädchen, über deren Aufführung etwas Nachtheiliges vernommen? – Scheuen Sie sich gar nicht, die Wahrheit zu sagen.«

»Nein, das hatte ich nie,« erwiderte eifrig die Frau; »im Gegentheil, mir hat man sie immer als die Tugend selbst geschildert, und so kannte ich sie auch. Das müssen der Herr Baron mir selbst bezeugen!«

»Ich?« fragte Arthur erstaunt.

»Ja, Sie. – Erinnern Sie sich, was ich Ihnen damals sagte, als Sie den Brief brachten, worin der Herr Graf das verlangte? – Das wird schwer angehen, sagte ich, das ist fast unmöglich, sagte ich, das kann ich nicht unternehmen, sagte ich. Nun sehen Sie, es war auch in der That schwer.«

»Und doch gelang es!« seufzte Arthur.

Frau Becker hatte während dieser Zeit immer scheu nach dem Nebenzimmer geblickt, auch flüsterte sie ihre Worte ganz leise. Ja, wenn der junge Mann etwas lauter sprach, so hob sie ihre Hand auf und machte: s – s – st! Dabei wandte sie sich hin und her, drehte ihren Kopf vielmals um, zupfte an ihren Haubenbändern, schluckte häufig und sagte dazwischen: »Ja, sehen Sie, das ging so – Gott soll mich bewahren, der Clara etwas Schlimmes nachzusagen – nein, sie war vollkommen brav.« – Während dieser Redensarten hatte sie sich einen Feldzugsplan entworfen, und dabei ihrer Freundin Wundel gedacht. »Richtig,« sprach sie zu sich selber, »die soll es ausbaden; was brauche ich die Wundel zu schonen. Und wenn er ihr auf den Leib geht, da soll sie sehen, wie sie sich herauslügt. – Ich wußte gleich,« wandte sie sich an Arthur, »daß das eine delikate Sache sei, glauben Sie mir, Herr Baron,« dabei faltete sie ihre Hände und blickte gen Himmel – »Unsereins hat auch Gewissen; und ich hatte immer das Vergnügen, die Familie Staiger als eine anständige Familie zu kennen. – Gott! die Clara, der arme Aff, wie mußte sie sich abplagen, damit ihre Geschwister nur etwas zu beißen hatten.«

»Weiter!« sprach Arthur finster.

»Sie kam oft daher.«

»Zu Ihnen?«

»Eigentlich zu der unglücklichen Marie. Ach Gott! Herr Baron, Sie kennen ja wohl das Unglück, das uns betroffen, heute roth – morgen todt! – Da liegt sie im Nebenzimmer und sie erweisen ihr die letzte Ehre.« – Hier holte sie ihr Schnupftuch hervor und fing auffallend heftig an zu weinen. – »O du lieber Gott im Himmel!« schluchzte sie, »daß ich das erleben mußte! Meine arme Marie! mein Stolz, meine Stütze! – Aber mich soll der Himmel bewahren, Herr Baron, daß ich Sie mit meinen Klagen aufhalten will. Gewiß nicht; ich bezwinge meinen Schmerz.« Dies schien auch der Frau Becker leicht zu werden, denn ein paar Sekunden nach dem Erguß waren ihre Augen wieder vollkommen trocken, ihr Gesicht gänzlich beruhigt. – »Also ich hatte zu viel Gewissen,« fuhr sie fort, »die Sache mit dem Mädchen auf eigene Hand zu unternehmen.«

»Und wer half Ihnen?« fragte Arthur dringend.

»Von Helfen ist eigentlich nicht die Rede,« erwiderte listig das schlaue Weib; »sondern ich übergab die ganze Sache einer Bekannten.«

»Und darf ich Sie um den Namen dieser Bekannten ersuchen?«

»O gewiß! warum nicht! Nur bitte ich, Herr Baron, daß ihr nichts geschieht.«

»Nein, nein – wer ist's?«

»Es ist die Frau Wundel; sie wohnt in der Balkenstraße Numero vierzig.«

»Ah! im gleichen Hause.«

»Ganz richtig, wo auch Clara wohnt.«

»Und die hat das Geschäft geleitet?«

»Sie konnte es am besten, da sie sich auf gleichem Boden mit der Familie Staiger befindet.« »Richtig! o du mein Gott, das war gut überlegt. Da konnte man Stunde um Stunde arbeiten. Wenn ich es auch nicht begreife, so fange ich doch an, die Fäden dieses Gewebes zu verstehen.«

»S – s – St!« machte Frau Becker; »man kommt.«

Die Thüre des Nebenzimmers öffnete sich langsam und – Clara trat herein.

 


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