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Achtundzwanzigstes Kapitel

Die Glocke über den Ställen läutete sieben, als Miltoun und Barbara in ihrem raschen Gefährt, das leicht nach Benzin roch, durch das hohe, eiserne Tor hinausfuhren. Obgleich der Wagen geschlossen war, kamen ab und zu Regenspritzer durch die offenen Fenster, kühlten das heiße Gesicht des Mädchens und minderten ein wenig ihre Furcht vor dieser Fahrt. Denn nun, da das Schicksal wirklich grausam gewesen war, nun, da Miltoun sich nicht mehr vor dem Leid schützen konnte, blutete ihr Herz um seinetwillen. Sie zwang sich, sich selbst zu vergessen. Es war schrecklich, mit welcher Gleichgültigkeit er ihre Begleitung aufgenommen hatte. Und obgleich sie schweigend in ihrer Ecke saß, strengte sie doch verzweifelt ihren ganzen Verstand an, um einen Weg zu finden, seine unselige Verschlossenheit zu durchbrechen. Er schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß sie London verlassen hatten und in den Richmondpark eingebogen waren.

Hier schienen die regendunkeln Bäume düster den vorüberrauschenden roten Wagen anzustarren, als hätten sie sich noch immer nicht mit den rauhen Zerstörern ihrer duftenden Waldesruhe versöhnt. Grasende Rehe hoben beunruhigt den Kopf, als wollten sie sagen: ›Ihr vergiftet das Farnkraut und verpestet die reine Luft!‹

Barbara fühlte unbestimmt die erhabene Ruhe da draußen in Bäumen, Wind und Wolken. Wenn die Ruhe nur auch in dies düstere Gefährt eindränge und ihr hülfe! Wenn sie nur wie der Schlaf käme, den dunkeln Gram zu verscheuchen und in einem Augenblick Schmerzen in Freude zu wandeln! Doch sie blieb draußen im Rauschen des Windes und die weite Kluft, die zwischen Seele und Seele gähnt, blieb unüberbrückt. Was hätte Barbara sagen können? Wie aus ihm herausbringen, was er nun tun würde? Was konnte er denn jetzt tun? Würde er trotzig sein Mandat aufgeben und warten, bis er Audrey Noel wiederfände? Aber selbst wenn er sie fände, so wären sie um keinen Schritt weiter. Sie war gegangen, um nicht ein Hemmschuh für ihn zu sein – dieselbe Sache würde nur wieder von vorn beginnen! Oder würde er, wie seine Großmutter es verlangt hatte, sich panzern und in die Schlacht ziehen? Das wäre dann das Ende, denn wenn Audrey jetzt die Kraft gehabt hatte fortzugehen, so würde sie gewiß nicht zurückkehren und ein zweites Mal in sein Leben eingreifen. Ein abscheulicher Gedanke überfiel Barbara. Wie, wenn er alles wegwürfe! Sich ins ewige Dunkel stürzte! Sie wußte, daß Männer manchmal ein Ende machten, wenn sie das Unglück mitten in einer heftigen Leidenschaft traf. Aber gewiß nicht Miltoun mit seinem Glauben! ›Wenn das Lied der Lerche nichts bedeutet – wenn der Himmel dort nicht eine Ausgeburt unsrer Phantasie ist, wenn wir im Staube kriechen, ohne etwas zu erreichen – überzeuge mich davon, Babs, und ich werde dich segnen.‹ Aber hielt ihn noch dieser Anker fest, damit er nicht in die See hinaustriebe? Dieser plötzliche Gedanke an den Tod entsetzte Barbara, für die das Leben Freude bedeutete und die noch nie dem Tod ins Auge geschaut hatte. Sie heftete den Blick auf den Rücken des Chauffeurs, auf seinen Staubmantel und roten Kragen und fand in seiner Wirklichkeit einen gewissen Trost. Sie waren in einer Autodroschke, im Richmondpark! Der Tod – das war unmöglich, das konnte sie nicht glauben. Es war töricht, sich zu fürchten! Sie zwang sich, Miltoun anzublicken. Er schien eingeschlafen zu sein, seine Augen waren geschlossen, die Arme verschränkt, nur ein Zittern seiner Augenlider verriet ihn. Es war unmöglich zu sagen, was er in diesem entsetzlichen Halbschlaf durchlebte. Es war, als ob sie überhaupt nicht auf der Welt wäre, so ganz schien er sich in sich selbst zurückgezogen zu haben.

Da öffnete er die Augen und sagte plötzlich: »Du glaubst also, daß ich ein Ende machen werde, Babs?«

Zutiefst erschreckt darüber, daß er so ihre Gedanken gelesen, konnte Barbara nur ausweichend stammeln:

»Nein, ach nein!«

»Wo fährt dieser Wagen hin?«

»Nach Nettlefold. Soll ich halten lassen?«

»Nein, es ist ja gleichgültig, wohin wir fahren.«

Sie ergriff schüchtern seine Hand aus Angst, daß er wieder in dies fürchterliche Schweigen verfallen könnte.

Es wurde rasch dunkel; das Auto, das die Häuser von Surbiton hinter sich gelassen hatte, flog mit großer Geschwindigkeit zwischen düstern Fichten und Strecken von Heidekraut im scheidenden Tageslicht dahin.

Plötzlich sprach Miltoun mit eigentümlich langsamer Stimme: »Wenn ich wollte, brauchte ich ja nur diese Tür da zu öffnen und hinauszuspringen. Wenn ihr, die ihr glaubt, daß ›wir morgen sterben‹, mich davon überzeugen könnt, daß ich durch diesen Sprung frei werde, so springe ich!« Und als sie voller Schrecken seine Hand preßte, fügte er mitleidig hinzu: »Schon gut, Babs! Wir werden heute Nacht wohlbehalten in unsern Betten schlafen.«

Seine Stimme war so trostlos, daß Barbara nun hoffte, er würde schweigen.

»Es bleibt uns ja doch nichts andres übrig, als schweigend zu leiden. Verzeih, daß ich dich störte.«

Barbara drückte sich dicht an ihn und murmelte:

»Wenn du nur – – sprich doch zu mir!«

Aber Miltoun schwieg, obgleich er ihre Hand streichelte.

Das Auto, das in ungewöhnlicher Geschwindigkeit auf den einsamen Straßen dahinfuhr, ächzte schrecklich; und über Barbara kam ein Verlangen, das sie nicht zur Wirklichkeit zu machen wagte: seinen Kopf zu sich niederzuziehen und an ihre Brust zu drücken. Sie fühlte sich so leer und verschüchtert; wenn sie die Wärme eines Menschen hätte fühlen können, dann wäre alles anders gewesen. Alles Wirkliche, Faßbare, Tröstende schien wie ausgelöscht zu sein. Zwischen diesen flüchtigen, dunkeln Geisterschatten der Fichten, die wie in einem verlassenen Grenzland zwischen zwei Welten standen, hätte nur das Gefühl, jemanden zu liebkosen, diese tiefe Unruhe in ihr dämpfen können. Sie war wie ein verirrtes Kind in einem Wald.

Das Auto verlangsamte die Fahrt; der Chauffeur zündete die Lichter an, und sein rotes Gesicht erschien am Fenster.

»Wir müssen hier anhalten, Miß, ich hab' kein Benzin mehr. Wollen Sie hier dinieren oder gleich weiterfahren?«

»Weiterfahren,« antwortete Barbara.

Während sie durch die kleine Stadt fuhren, um Benzin zu kaufen und nach dem Weg zu fragen, fühlte sich Barbara weniger elend, ja sie blickte sogar mit Interesse um sich. Als sie wieder losfuhren, dachte sie: ›Wenn er nur einschlafen könnte – die See wird ihn beruhigen!‹ Aber seine Augen waren starr und weit offen. Sie stellte sich schlafend, legte den Kopf ein wenig auf die Seite und versuchte, tiefer zu atmen. Das Surren der Räder, das Stöhnen des Autos, die dunkeln Bäume, die vorüberhuschten, der Duft des nassen Farnkrauts, der durchs Fenster kam, das alles mußte doch wirken! Und plötzlich fühlte sie, daß er tatsächlich in die Dunkelheit hinüberglitt – und dann – fühlte sie nichts mehr.

Als sie aus dem Schlaf erwachte, in den sie Miltoun hatte sinken sehen, klomm das Auto langsam einen steilen Hügel hinan, über den der Mond emporgestiegen war. Die Luft duftete süß und würzig, als wäre sie über meilenweite Grasflächen gestrichen.

›Die Dünen!‹ dachte sie, ›ich muß geschlafen haben.‹

In plötzlichem Schrecken drehte sie sich zu Miltoun herum. Aber er saß noch immer da, genau wie vorher, steif in die Ecke des Wagens zurückgelehnt, mit starren Augen und ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Und noch halb im Schlaf drückte sie sich an Miltoun und umklammerte ihn wie ein großes, verschlafenes Kind, das aus zu tiefem Schlummer aufgeschreckt wird. Der Gedanke, daß er die ganze Zeit über so dagesessen, während sein Geist weit weg war, war schrecklich; und die ganze Zeit über hatte sie ihr Wächteramt verraten. Er erwiderte ihre Umarmung nicht und Barbara, nun ganz wach geworden, ließ beschämt und unglücklich von ihm ab und blickte zum Fenster hinaus.

Draußen am Himmel standen zwei längliche, ganz schwarze Wolken, wie die Schwingen eines Habichts, die sich zusammengefaltet hatten, so daß nichts vom Mond zu sehen war als etwas Leuchtendes, Helles, wie die Augen eines lebendigen Vogels in der rasch hereinbrechenden Dunkelheit. Dieser große, unheimliche Geist, der unheilbrütend über den weiten Meilen von mondbleichem Grase schwebte, schien alles, was in die wilde Einsamkeit dieser weltfernen Lande der Freiheit sich eindrängte, hinwegfegen, in seinen Klauen zerreißen und verschlingen zu wollen. Barbara erwartete fast, den fernen Schrei des Habichts zu hören. Und ihr Traum kam wieder. Wo waren ihre Schwingen – die Schwingen, die sie im Schlaf zu den Sternen emporgetragen? Die Schwingen, die sie im Wachen niemals vom Boden heben würden? Und wo waren Miltouns Schwingen? Sie drückte sich in ihre Ecke zurück; eine Träne trat ihr in die Augen und tropfte zwischen den geschlossenen Lidern hervor, noch eine und dann noch eine. Ihre Tränen flossen immer schneller. Da fühlte sie Miltouns Arm um ihren Hals und hörte ihn sagen: »Weine doch nicht, Babs!« Ihr Instinkt ließ sie den Kopf an seine Brust legen und bitterlich schluchzen. Während sich ihr Schluchzen langsam beruhigte, fühlte sie sich immer weniger unglücklich, wußte sie doch, daß er sich nun nie mehr so verlassen fühlen konnte, nachdem er sich bemüht hatte, sie zu trösten. Es war alles nur ein schwerer Traum, und sie würden bald daraus erwachen! Und sie würden wieder glücklich sein, so glücklich, wie sie früher gewesen waren, ehe diese letzten Monate kamen. Und sie flüsterte:

»Nur noch eine kleine Weile, Eusty!«


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