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Als Barbara von ihrem Besuch in Courtiers verlassener Wohnung zurückkam, empfing man sie in Valleys House mit der Botschaft, sie möchte sofort zu Lady Casterley kommen.
Als sie dem Wunsche Folge leistend nach Ravensham kam, fand sie ihre Großmutter und Lord Dennis in dem weißen Zimmer. Sie standen an einem der hohen Fenster und schienen die Aussicht zu betrachten. Bei dem Geräusch von Barbaras Schritten wandten sie sich zwar um, doch keiner von ihnen sprach oder grüßte. Da sie ihren Großonkel seit Miltouns Krankheit nicht gesehen hatte, war sie über diesen Empfang erstaunt und trat schweigend ans Fenster. Eine sehr große Wespe kroch über die Scheibe und fiel dann mit leisem Brummen zu Boden.
Plötzlich sagte Lady Casterley: »Schlag das Tier tot!«
Lord Dennis zog sein Taschentuch heraus.
»Nicht damit, Dennis! Das gibt ein Geschmier. Nimm ein Papiermesser.«
»Ich wollte es hinausjagen,« murmelte Lord Dennis.
»Barbara soll es tun mit ihren Handschuhen.«
Barbara ging auf das Fenster zu.
»Ich glaube, es ist eine Hornisse,« sagte sie.
»Ja, wirklich!« sagte Lord Dennis träumerisch.
»Unsinn!« murmelte Lady Casterley, »es ist eine gewöhnliche Wespe.«
»Ich weiß, daß es eine Hornisse ist, Großmutter. Die Ringe sind dunkler.«
Lady Casterley beugte sich nieder; als sie sich wieder erhob, hielt sie einen Pantoffel in der Hand.
»Reize das Tier nicht!« rief Barbara und faßte sie am Handgelenk. Doch Lady Casterley machte ihre Hand frei.
»Ich will aber,« sagte sie und schlug mit der Sohle des Pantoffels auf das Insekt, so daß es tot zu Boden fiel. »Es hat hier nichts zu suchen.«
Und wieder schauten die drei schweigend zum Fenster hinaus, ab ob dieser kleine Vorfall sie gar nichts angegangen wäre.
Dann wandte sich Lady Casterley zu Barbara.
»Nun, hast du eingesehen, was du für ein Unheil angerichtet hast?«
»Ann!« murmelte Lord Dennis.
»Ja, ich weiß schon, du bist in sie vernarrt, aber das hilft ihr ganz und gar nichts. Diese Frau – zu ihrer Ehre sei's gesagt – ich wiederhole: zu ihrer Ehre sei's gesagt – ist abgereist, damit Eustace Zeit gewinnt, wieder zur Vernunft zu kommen.«
Mit einem hastigen Atemzug sagte Barbara:
»O, die Ärmste!«
In Lady Casterleys Antlitz war ein fast grausamer Zug getreten.
»Ah!« sagte sie, »natürlich! Aber merkwürdigerweise denke ich an Eustace.« Ihre ganze kleine Gestalt zitterte. »Das wird dir eine Lehre sein, nicht mit dem Feuer zu spielen.«
»Ann!« murmelte Lord Dennis wieder und legte seinen Arm in den Barbaras.
»In der Welt,« fuhr Lady Casterley fort, »sind die Tatsachen ausschlaggebend, nicht die romantischen Phantasien. Du hast mehr Unheil angerichtet, als man wieder gutmachen kann. Ich bin selbst zu ihr gegangen. Ich war sehr gerührt. Wenn du dich nicht so verrückt benommen hättest –«
»Ann!« sagte Lord Dennis noch einmal.
Lady Casterley schwieg und klopfte mit ihrem kleinen Fuß auf den Boden. Barbaras Augen funkelten.
»Möchtest du nicht noch etwas zerquetschen, liebe Großmutter?«
»Babs!« murmelte Lord Dennis; aber unbewußt Lord Dennis' Hand auf ihr Herz pressend, fuhr das Mädchen fort:
»Du kannst froh sein, daß du mich heute beleidigst – wenn es gestern gewesen wäre –«
Bei diesen unverständlichen Worten wandte sich Lady Casterley ab; ihre Schuhe ließen kleine dunkle Flecken auf dem glänzenden Boden.
Barbara hob die Finger, die sie so krampfhaft gehalten hatte, an die Wangen. »Laß sie nicht weiterreden, Onkel!« flüsterte sie. »Wenigstens jetzt nicht!«
»Nein, nein, meine Liebe,« murmelte Lord Dennis, »gewiß nicht – es ist ganz genug.«
»Es war eine sentimentale Dummheit von dir,« hörte man Lady Casterleys Stimme aus der entgegengesetzten Ecke, »die den Jungen in diese Sache hineingerissen hat.«
Barbara erwiderte den Druck von Lord Dennis' Hand, die jetzt leicht auf ihrer Taille lag, und gab keine Antwort; das Geräusch der kleinen Schritte, die sich wieder näherten, erklang in der Stille. Keiner der beiden am Fenster wandte den Kopf um; noch einmal verhallten die Schritte und kamen wieder zurück.
Plötzlich schrie Barbara auf und zeigte auf den Boden.
»Großmutter, um Gottes wüten, bleib stehen! Hast du die Hornisse nicht genug zerquetscht, wenn sie auch hier nichts zu suchen hatte?«
Lady Casterley blickte auf die Überreste des Insekts am Boden.
»Ekelhaft!« sagte sie; als sie jedoch wieder sprach, klang ihre Stimme mehr traurig als hart.
»Bist du diesen Mann – diesen, wie hieß er doch? – bist du den losgeworden?«
Barbara wurde feuerrot.
»Wenn du meine Freunde beleidigst, gehe ich sofort nach Hause und werde nie mehr mit dir reden.«
Einen Augenblick sah Lady Casterley aus, als ob sie ihre Enkelin schlagen könnte, dann erschien ein boshaftes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Ein löbliches Gefühl!« sagte sie.
Ihres Großonkels Hand loslassend, rief Barbara:
»Auf jeden Fall ist es besser, wenn ich gehe. Ich weiß nicht, warum du nach mir geschickt hast.«
Lady Casterley erwiderte kalt:
»Um dir und deiner Mutter die außerordentliche Selbstlosigkeit dieser Frau mitzuteilen; damit ihr gewarnt seid vor dem, was Eustace jetzt tun könnte; damit ihr eure Dummheit wieder gutmachen könnt. Und dann will ich dich noch warnen vor – –« Sie hielt inne.
»Ja?«
»Laß mich – –« unterbrach Lord Dennis.
»Nein, Onkel Dennis, Großmutter soll nur ihren Pantoffel nehmen!«
Barbara stand gegen die Wand gelehnt mit erhobenem Haupt, groß und geradezu furchterweckend. Lady Casterley blieb stumm.
»Hast du den Pantoffel bereit?« rief Barbara. »Leider ist er schon davongeflogen!«
Eine Stimme sagte: »Lord Miltoun.«
Er war leise und rasch hereingekommen, noch ehe man ihn hatte melden können, und man bemerkte ihn erst, als er schon dicht bei der kleinen Gruppe am Fenster stand. Sein Antlitz bot den fast entsetzlichen Anblick eines sonnenverbrannten Gesichtes, aus dem vor Aufregung alles Blut gewichen ist; und seine Augen, die immer das Lebendigste an ihm waren, schossen so wilde Zornesblitze, daß unwillkürlich alle zu Boden sahen.
»Ich möchte dich allein sprechen,« sagte er zu Lady Casterley.
Vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben zuckte diese kleine, unbesiegbare Frau sichtlich zusammen. Lord Dennis zog Barbara mit sich fort, aber an der Tür flüsterte er:
»Bleib hier ruhig stehen, Babs; die Sache gefällt mir nicht.«
Unbemerkt blieb Barbara in der Nähe.
Die beiden leisen Stimmen, ganz am andern Ende des langen, weißen Zimmers, klangen unheimlich deutlich, da die Aufregung jedem Wort unnatürliche Schärfe verlieh; jede Bewegung der Sprechenden schien dem aufgeregten Mädchen von beängstigender Präzision zu sein und erinnerte Barbara an ein Marionettentheater, das sie einmal in Paris gesehen hatte. Sie konnte hören, wie Miltoun seiner Großmutter mit entsetzlich trockenen, bittern Worten Vorwürfe machte. Da man Barbara nicht mehr Beachtung schenkte, als wäre sie eine Statue gewesen, schlich sie näher und näher, bis sie ihren Platz beim Fenster wieder einnahm.
Lady Casterley sprach:
»Ich konnte nicht zusehen, wie du dich vor meinen Augen ruiniertest, Eustace. Es ist mir sehr schwer gefallen, so zu handeln. Ich habe mein Möglichstes getan.«
Barbara sah, wie Miltouns Gesicht von einem verzerrten Lächeln entstellt wurde – einem Lächeln, das dem Folterknecht voll Haß Trotz bot. Lady Casterley fuhr fort:
»Ja, nun blickst du mich wie ein Teufel an. Hasse mich, wenn du willst – aber werde nicht zum Verräter an unserm Stande mit Jammern und Schmachten, weil du nicht den Mond haben kannst. Lege deine Rüstung an und zieh in die Schlacht! Sei kein Feigling, Junge!«
Miltouns Antwort traf wie ein Peitschenhieb.
»Schweig! Zum Teufel!«
Eine unheimliche Stille folgte. Es war nicht die Brutalität der Worte, die Barbara so erschreckte, daß sie einen leisen Laut ausstieß, sondern der Anblick plötzlich roh entfesselter Gewalt – wie wenn man einen wütenden Hund einen Augenblick von der Kette läßt. Lady Casterley war zitternd in einen Stuhl gefallen. Und ohne sie noch einmal anzuschauen, ging Miltoun hinaus. Barbara wußte, daß er auch nicht stehengeblieben wäre, wenn ihre Großmutter der Schlag gerührt hätte. Sie lief hin, doch die alte Frau scheuchte sie fort.
»Geh ihm nach!« sagte sie, »laß ihn nicht allein gehn!«
Barbara eilte hinaus, angesteckt von der Furcht in der erschöpften Stimme der alten Frau.
Sie erreichte ihren Bruder, als er gerade in das Auto stieg, in dem er gekommen war, und schweigend schlüpfte sie neben ihm hinein. Das Gesicht des Lenkers erschien am Fenster, aber Miltoun bewegte nur den Kopf, als hätte er sagen wollen: ›Irgend wohin, nur fort von hier!‹
Der Gedanke durchzuckte Barbara: ›Wenn ich ihn nur hier bei mir behalten könnte!‹
Sie lehnte sich hinaus und sagte ruhig:
»Nach Nettlefold in Sussex! Wenn Sie nicht genug Benzin haben, können Sie unterwegs einnehmen. Ich bezahle Ihnen, was Sie verlangen. Rasch!«
Der Mann zögerte, blickte in ihr Gesicht und sagte:
»Gut, Miß. Über Dorking, nicht wahr?«